Beim großen Bruder

Die Amerikaner sind Meister der Darstellung ihrer eigenen Politik. Wenn wir solche Probleme hätten wie Amerika, insbesondere im außenpolitischen Bereich, würde das für uns eine große Krise der Europäischen Union bedeuten.
Von Caracas aus war ich über New York nach Washington weitergereist. Hier fand einmal mehr ein Treffen des so genannten Transatlantic Policy Network, also des Netzwerkes für die transatlantische Politik, statt.

Neuordnung der Handelsbeziehungen

Eines der Themen war auch hier, wie schon in Caracas, die Frage, wie wir in Zukunft mit den Handelsbeziehungen umgehen. Im Mittelpunkt stand dabei insbesondere das Verhältnis der Vereinigten Staaten zu Europa. Im Dezember dieses Jahres finden Verhandlungen in Hongkong statt, bei denen ein neues Internationales Handelsabkommen abgeschlossen werden soll. Verstärkt protektionistische Maßnahmen wie Zollschranken, etc. sollen abgebaut werden, um neue Handelsströme zu ermöglichen. Es soll also auch ein Anstoß für die wirtschaftliche Entwicklung gegeben werden.
Nun mögen zwar die Effekte derartiger Handelsmaßnahmen manchmal übertrieben sein. Es ist aber unbestritten, dass ein steigender Welthandel dazu beiträgt, insgesamt größere wirtschaftlich Aktivitäten entfalten zu können. Zwar sieht jeder in seinem Bereich die Konkurrenz des anderen. Was er aber viel zu wenig sieht bzw. sehen möchte, ist die Konkurrenz, die er selbst den anderen schafft.

Allgegenwärtige Konkurrenz

In der Zwischenzeit haben China, Indien, Brasilien und einige andere Staaten wie Südafrika in der Weltwirtschaft an Gewicht zugenommen. Und die Angst vor Konkurrenz in unseren eigenen Ländern ist massiv gewachsen. Ein Abgeordneter aus dem Repräsentantenhaus, der so eben aus China zurückgekommen war, meinte bei unserem Treffen in Washington, dass dieser Effekt auch bereits auf die Forschung und Entwicklung zutrifft und wir danach trachten müssten, dass diese in unseren Breitengraden bleiben.
Die Konkurrenz wird sich in Zukunft auf allen Gebieten bewegen, davon bin ich überzeugt. Zum jetzigen Zeitpunkt ist die Phase des Übergangs in China und Indien dadurch gekennzeichnet, dass zwar bereits sehr viele hochqualifizierte Produkte produziert werden, dies aber mit relativ geringen Löhnen passiert. Die Sozial- und Umweltbedingungen sind noch nicht angeglichen, dieser Prozess steht noch bevor.
Wir selbst sind in unseren Forderungen an diese Länder, eine entsprechende Anpassung vorzunehmen, solange unter Zugzwang, solange wir die eigene Landwirtschaft schützen, solange wir also den Handel selbst nicht wirklich frei und offen betreiben. Solange das nicht geschieht, werden wir von den Chinesen, den Indern und anderen nicht glaubhaft verlangen können, ihre Bedingungen anzugleichen. Abgesehen davon profitieren viele Konsumentinnen bei uns davon, dass sie diese Produkte bekommen.

Nachholbedarf

Wir müssen auch den neuen Ländern eine Chance geben, einiges in ihrer Entwicklung nachzuholen. Aber wir müssen lautstark und mit Nachdruck immer wieder einfordern, dass gewerkschaftliche Rechte zugelassen, dass Umweltauflagen berücksichtigt werden, etc. Wir haben das in Washington in einem Arbeitskreis, in dem es um Energie ging, anhand eines konkreten Beispiels diskutiert.
Europa ist ein Kontinent, der viel Energie verbraucht, sich aber immerhin stark auf energiesparende Maßnahmen konzentriert und sich für eine höhere Energieeffizienz und die Entwicklung von Alternativenergien einsetzt. Amerika hingegen ist ein Kontinent, der pro Wirtschaftseinheit mehr Energie verbraucht als Europa und bisher keine wirksamen Ansätze zum Energiesparen gemacht hat. China, Indien und die anderen Entwicklungsländer schließlich haben einen sehr niedrigen Energieverbrauch pro Wirtschaftseinheit, verzeichnen allerdings einen sehr stark steigenden Verbrauch, haben also eine hohe Zuwachsrate.

An einem Strang ziehen

Eigentlich müssten sich alle zusammentun, um insgesamt den Energieverbrauch abzusenken. Zum einen, weil die Erölreserven begrenzt sind und zum anderen, weil die Umweltbelastung viel zu stark ist. Zudem müssten sich alle gemeinsam bemühen, in der Frage der Energieeffizienz, des Energiesparens und der Entwicklung von Alternativenergien entsprechende Modelle zu auszuarbeiten.
Diese könnten, den unterschiedlichen Entwicklungsmodellen angepasst, jeweils einen Beitrag dazu liefern, dass wir insgesamt nicht in dem Ausmaß von Erdöl und Erdgas abhängig sind, wie es derzeit der Fall ist. Und wir könnten uns vor allem auf eine Zeit nach dem massiven Verbrauch von Erdöl im Energiebereich vorbereiten. Der Bogen spannt sich dabei vom Verkehr über die Industrie bis zu den Haushalten.

Soziales Gewissen einfordern

Interessant ist, dass gerade jetzt starker Druck auf die Erdölindustrie in den Vereinigten Staaten ausgeübt wird, ihre horrenden Profite sinnvoller bzw. sozial gerechter zu verwenden. Die Senatoren und Abgeordneten fordern beispielsweise, dass die Erölindustrie Beiträge für die Heizungskosten der sozial Schwachen zu leisten hat.
In Europa finden derartige Debatten fast nicht statt. Ich selbst habe in diesem Jahr zweimal versucht, diese Frage im Europäischen Parlament zu thematisieren. Das wurde von den Medien nur sehr mäßig aufgegriffen. Ich würde mir wünschen, dass wir auch in Europa die soziale Verantwortung der Erdölindustrie stärker einfordern.

Terrorismus-Zukunft

Bei der Konferenz in Washington habe ich eine Diskussion über Terrorismus und Massenvernichtungswaffen eingeleitet, bei der auch ein amerikanischer Experte sowie der frühere Botschafter der EU in Washington und frühere Generaldirektor für auswärtige Angelegenheiten der EU-Kommission gesprochen haben. Es wurde versucht darzustellen, dass Terrorismus bestimmte Ursachen hat und es gilt, diese Ursachen zu bekämpfen. Und dass es dazu einer etwas diffizileren Politik bedarf als jener der Vereinigten Staaten von Amerika.
Gerade zu dieser Frage erschien kürzlich in der New York Times ein Artikel von einem iranischen Autor. Dieser forderte Amerika auf, die Sanktionen gegenüber dem Iran einzustellen und sich stärker im Iran zu engagieren, um beispielsweise alternative Nicht Regierungsorganisationen zu unterstützen, die an einer zivilen gesellschaftlichen Veränderung im Land interessiert ist.

Den Iran einbinden

Auch der amerikanische Experte bei unserer Diskussion meinte, dass endlich die Sicherheitsbedürfnisse des Iran stärker zu berücksichtigen seien. Letztendlich sei es der Iran, der ringsherum durch Atomwaffen bedroht ist und daher wäre es nötig, eventuell unter Einbindung Chinas und Indiens, die gerade auf dem Energiesektor sehr gute Beziehungen mit dem Iran haben, den Iran in eine gemeinsame Politik einzubinden.
Das ist mit dem amtierenden iranischen Präsidenten, der gerade eine absolut inakzeptable und dumme Äußerung über die Vernichtung Israels gemacht hat, zweifellos sehr schwierig. Dennoch muss eine mittel- und langfristige Politik formuliert werden, mit der man den Iran nicht allzu sehr isoliert bzw.muss man versuchen, durch Hereinnahme von anderen Partnern wie Russland, China oder Indien entsprechenden Druck auszuüben, damit der Iran an stelle dummer und inakzeptabler Rhetorik gemäßigte Politik betreibt.

Terrorismus-Spirale

Der Terrorismus wird hingegen noch lange bei uns bleiben. Dies dokumentierte jüngst auch in ein Artikel von Foreign Affairs, der amerikanischen außenpolitischen Zeitung. Dort war ganz klar nachgewiesen, dass der Irak- Krieg zusätzliche Terroristen produziert und dass selbst bei einer einigermaßen Stabilisierung im Irak diese terroristischen Organisationen und einzelne Terroristen im gesamten Umfeld tätig werden.
Das war auch bei Afghanistan nach der Unterstützung durch die Amerikaner für die Rebellen gegen die Russen der Fall. Nach dem Abmarsch der Russen aus Afghanistan haben die Rebellen im Land den Talibanstaat aufgebaut oder sind nach Algerien und in andere Länder gegangen, um dort ihr Unwesen zu treiben.

Amerikanisches Barock

Am Abend des ersten Tages meines Aufenthaltes in Washington fand ein großes Dinner im obersten Stockwerk des amerikanischen Außenministeriums statt, das der 1. Stellvertretende Außenminister Bob Zoellick persönlich gegeben hatte.
Das Außenministerium ist in der Nachkriegszeit erbaut worden. Im obersten Stockwerk wurden Räume im alten Stil eingerichtet, in denen viele Geschenke aufbewahrt sind, die frühere Präsidenten erhalten haben. Man hat dort eine Art amerikanisches Barock oder Rokoko inszeniert, um neben der nüchternen, sachlichen „Architektur“ des Außenministeriums und der zum Teil katastrophalen Bürosituation im Inneren auch eine imperiale, repräsentative Struktur für ausländische Gäste zu haben.

Einseitiges Bild

Zoellick war früher der Außenhandelsexperte und Chefverhandler der USA und ist zweifellos einer der europafreundlichsten und moderatesten amerikanischen Politiker. Dennoch ist auch er Vertreter der gegenwärtigen amerikanischen Politik wenn auch in einer Phase, die von Mäßigung gekennzeichnet ist.
Das Bild, das er insbesondere von der Entwicklung im Nahen Osten, aber auch von den Wahlen im Irak gezeichnet hat, war ein durchaus unrealistisches Bild bzw. hat nur die eine Seite, die positiven Entwicklungen, gezeigt. Die nach wie vor bestehenden Konflikte hat er unterschätzt hat bzw. gar nicht erwähnt hat.

Sagen, was ist

Die Amerikaner sind Meister der Darstellung ihrer eigenen Politik. Wenn wir solche Probleme hätten wie Amerika, insbesondere im außenpolitischen Bereich, würde das für uns eine große Krise der Europäischen Union bedeuten. Die Amerikaner hingegen – zumindest die Vertreter der Regierung – reden im Allgemeinen einfach nicht über diese Krise, sondern schildern stattdessen all das, was sie in den vergangenen Jahren erreicht haben.
Ein bisschen könnten wir davon lernen. Ich bin absolut dagegen, Probleme unter den Teppich zu kehren. Aber angesichts der Erfolge, die wir in Europa zu verzeichnen haben – in der wirtschaftlichen Entwicklung, aber noch viel mehr bei den Friedensstrukturen und der Aufbauhilfe für unsere Nachbarn – permanent von Krisen sprechen, ist schon fast grotesk.

Keine Illusionen machen

Das Selbstbewusstsein, ja die Überheblichkeit der Amerikaner noch im vergangenen Jahr, das Herabschauen auf die Europäer, die zu feige waren, im Irak mitzukämpfen, ist jetzt zumindest einem Schweigen gewichen. Diese Frage wurde diesmal mehr oder weniger ausgeklammert, auch von jenen, die im letzten Jahr sehr offensiven agiert hatten.
Das Problembewusstsein ist trotzdem nach wie vor begrenzt. Die Hoffnung, aus dem Schlamassel im Irak heil herauszukommen, besteht. Und gerade Europa muss großes Interesse haben, dass es zu einer einigermaßen friedlichen Entwicklung im Irak kommt. Aber dennoch: Wir sollen uns keine Illusionen über die negativen Konsequenzen dieses Einmarsches, die große Konfliktträchtigkeit und die Interessensgefahr, die der Entwicklung des Iraks droht, machen.

Washington, 4.11.2005