Über den Umgang mit Geschichte

Wir SozialdemokratInnen wollen nichts relativieren, wollen keine Neuschreibung der Geschichte. Sehr wohl aber wollen wir die Geschichte, die dem europäischen Einigungsprozess zu Grunde liegt, in ihrer ganzen Dimension erfassen und zum Ausdruck bringen.
In den vergangenen Tagen, zum Teil Wochen hat es zwischen den Fraktionen im Europäischen Parlament unzählige Diskussionen darüber gegeben, wie wir des Endes des Zweiten Weltkrieges gedenken sollten.

Die Geburtsstunde Europas

Das Ende des Zweiten Weltkrieges ist zugleich die Geburtsstunde des neuen Europas. Dieses wurde bekanntlich gegründet, um zu verhindern, dass es noch einmal zu einem derart fürchterlichen Krieg kommt, und um Rassismus, Fremdenhass und Nationalismus zu überwinden – mit einem Europa, in dem die Nationen nicht aufgehoben, aber in eine gemeinsame Struktur und letztlich in eine gemeinsame Wirtschafts- und Außenpolitik eingebettet werden sollen.

Unterschiedliche Inetrpretationen

Uns ist bewusst geworden, dass man das Ende des Zweiten Weltkrieges sehr unterschiedlich sehen kann. Man kann es als den Sieg, nicht nur der westlichen Alliierten, sondern der Vernunft, der Demokratie und der Freiheit verstehen. Andere wieder interpretieren das Ende des Weltkrieges als den Beginn einer neuen Unfreiheit in den kommunistisch beherrschten Staaten – das gilt insbesondere für die baltischen Staaten, die die unmittelbare Hoffnung auf Unabhängigkeit verloren haben und in die Sowjetunion eingegliedert worden sind.
Für uns SozialdemokratInnen war das Anlass, bei der entsprechenden Resolution vorsichtig zu sein, um nicht in Streitereien hineingezogen zu werden, wie das bereits anlässlich einer Resolution im Zusammenhang mit der Befreiung des KZ-Auschwitz und zuletzt auch in einer Stellungnahme zur Russlandpolitik der Europäischen Union passiert.

Zweideutige Befreiung

Ich habe damals eine Formulierung eingebracht, die die zwei Seiten des Sieges der westlichen Alliierten und der Sowjetunion über den Nationalsozialismus angedeutet hat. Ich wollte festhalten, dass es sich zwar um die Befreiung vom Terrorregime des Nationalsozialismus handelte, aber dass es für einige Staaten dennoch der Beginn einer neuen Unfreiheit war.
Für uns war auch wichtig, darauf hinzuweisen, dass der Nationalsozialismus und sein Terrorregime etwas einmaliges, historisch Unvergleichbares darstellen. Genau so wichtig ist für uns aber der Hinweis, dass die Erfahrungen jener Länder, die vom Nationalsozialismus befreit und in der Folge tatsächlich in die Unabhängigkeit und Freiheit entlassen worden sind eine andere ist als die jener Länder, die entweder direkt in die Sowjetunion integriert wurden oder zumindest in die sowjetische Machtsphäre und in den kommunistischen Einflussbereich geraten sind.

Fügung des Schicksals

Ich habe in vielen Diskussionen immer wieder darauf hingewiesen, dass ich selbst nur wenige Kilometer vom Eisernen Vorhang entfernt geboren worden bin. Der Eiserne Vorhang hätte ebenso auf der anderen Seite meines Geburtsortes verlaufen können, zum Beispiel dann, wenn die sowjetische Besatzung 1955 nicht geendet, sondern sich verfestigt hätte und ein Österreich sowjetischer Prägung gebildet worden wäre.
Es war Fügung des Schicksals. Es war ein Fenster in der geschichtlichen Entwicklung, das genutzt wurde. Und es war zweifellos auch die Hartnäckigkeit österreichischer Politikerinnen und Politiker, die geholfen haben, ganz Österreich und auch meine direkte unmittelbare Heimat unabhängig und frei werden zu lassen.

Zweierlei Maß

In unserer Fraktion im Europäischen Parlament haben wir auch darauf hingewiesen, dass die Hilfe der Amerikaner – die in der Tat wesentlich an der Bekämpfung des Naziregimes mitgewirkt haben – leider nicht überall dazu beigetragen hat, dass sich nach dem Zweiten Weltkrieg Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und Freiheit durchgesetzt haben. Im spanischen Franco-Regime etwa hat die Diktatur die direkte und indirekte Unterstützung der Amerikaner erhalten. Auch in Griechenland konnte sich, ebenfalls mit der Haltung der Amerikaner, eine Zeitlang eine Militärdiktatur halten.
Klar ist, dass die Konferenz in Jalta, an der Roosevelt, Stalin und Churchill teilgenommen haben, die Teilung Europas mit sich gebracht bzw. bestätigt hat. Es war bekanntlich eine Teilung, die sich im Großen und Ganzen an den damals hergestellten militärischen Einflusszonen orientierte und die einseitige, wider die Abmachungen erfolgte Interpretation Jaltas durch Stalin, verhinderte in Wahrheit freie Entscheidungen.

Gemeinsame Resolution

Letztendlich konnten wir im Europäischen Parlament doch eine gemeinsame Resolution verfassen, die eine breite Unterstützung gefunden hat. Ich habe dabei verschiedene Punkte eingebracht, die im Unterschied zu den Konservativen alle Diktaturen verurteilt und den Beitrag Europas zur Überwindung aller Diktaturen klar und deutlich zum Ausdruck haben.
Ein Punkt konzentrierte sich darauf, dass jegliche Art des Widerstandes gegen den Nationalsozialismus gut zu heißen ist, womit auch der kommunistische Widerstand eingeschlossen war. Die darauf geäußerte Kritik an den kommunistischen Herrschaftsmethoden habe ich natürlich akzeptiert. In der Folge kam es zu Verhandlungen mit dem äußerst vernünftigen Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses, der namens der Europäischen Volkspartei verhandelte. Das Ergebnis war eine breit getragene Resolution.

Neue Sichtweise

Die Geschichte ist durch die Teilnahme der osteuropäischen Länder an der Europäischen Union und dem Europäischen Parlament keine andere geworden. Die Sichtweise ist allerdings eine vielfältigere. Eine Sichtweise, die nicht nur jene des Westens ist, der die Konsequenz der kommunistischen Herrschaft nicht unmittelbar gespürt hat, sondern die auch die des Ostens ist.
Die Aufteilung der Redezeit während der Debatte auf unseren Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz und einen polnischen Kollegen, der in seiner Region selbst Führer der Solidarnosc gewesen ist und auch unter den Kommunisten eingesperrt war, machte deutlich, dass wir uns zu diesen beiden Seiten der Geschichte bekennen. Bei den Konservativeren hingegen sprach ca. sechs Minuten lang ein ungarischer Kollege, ohne den Nationalsozialismus auch nur zu erwähnen, geschweige denn zu verurteilen. Ihm ging es in erster Linie um eine Abrechnung mit der kommunistischen Herrschaft in seinem Land und im osteuropäischen Teil Europas.

Keine Kompromissbereitschaft

Wir SozialdemokratInnen wollen nichts relativieren, wollen keine Neuschreibung der Geschichte. Sehr wohl aber wollen wir die Geschichte, die dem europäischen Einigungsprozess zu Grunde liegt, in ihrer ganzen Dimension erfassen und zum Ausdruck bringen.
Das fällt uns umso leichter, als die wir nie auf Seiten der Diktatur gestanden sind, sondern alle Formen der Diktatur – der faschistoiden, faschistischen, der nationalsozialistischen, der kommunistischen – striktest abgelehnt und bis heute keinerlei Kompromissbereitschaft gegenüber Diktatur und Unfreiheit in unserer Geschichte geduldet haben.

Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit

Das ist zugleich eine wichtige Voraussetzung für unser Bekenntnis zu Demokratie und Freiheit in unseren Nachbarstaaten. Ein Bekenntnis, das helfen soll, unseren Nachbarvölkern und der Zivilgesellschaft in unseren Nachbarländern auf die Sprünge zu helfen, um auch dort Demokratie und die Freiheit zu verwirklichen.
Nicht, um von außen zu intervenieren, indem wir uns zu Freiheitsaposteln aufspielen, sondern indem wir durch gutes Beispiel und die moralische, politische und, wo möglich, auch finanzielle Unterstützung der Zivilgesellschaft und den Nachbar – ob in Osteuropa, dem Kaukasusgebiet oder im Mittelmeerraum – helfen, für sich selbst die Fortentwicklung der Demokratie und Freiheit zu erringen.

Wien, 19.5.2005