Berechtigte Hoffnungen

Der neuen jugoslawischen Führung sollte eine Chance gegeben werden, ein neues Jugoslawien zwar nicht in den früheren, aber den heutigen Grenzen aufzubauen. 
Gestern Abend kam ich, aus Wien kommend, nach langer Zeit wieder einmal nach Belgrad. Es war, als ob sich eine Lücke, die schon lange geklafft hat, schliessen würde – ein schwarzes Loch, das ich bei meinen Balkanreisen immer wieder umgehen und umfahren musste. Es war große Freude in mir, dass ich hier in Belgrad so ankommen konnte, als ob in den vergangenen Jahren nicht gewesen wäre.

Kriegsspuren

Das Hotel, in dem wir abstiegen – das Hyatt Regency – war von äußerst nobler Qualität und wohlhabende aus- und inländische Bürger frequentierten die Bars und Restaurants. Von Krieg, Bombardierung, Elend und Not war hier nichts zu spüren. Bei einem kurzen Spaziergang am nächsten Morgen allerdings wusste man schnell, wo man sich befand. An den Stationen des öffentlichen Verkehrs standen Trauben von Menschen, die Busse erinnerten an Bilder aus der Dritten Welt – knapp vor dem Zusammenbrechen und heillos überfüllt, boten sie wie die alten klapprigen Straßenbahnen ein sehr trauriges Bild. Das Hyatt Regency befindet sich gleich in der Nähe jenes Wolkenkratzers, der früher die Parteizentrale von Milosevic beherbergte. Man sah die Zerstörungen durch ein Bombardement der NATO-Truppen und auf nahestehenden Plakatwänden zerfetzte Plakate mit dem Portrait von Milosevic. Ja, ich war in Belgrad.

Halb Opposition, halb Regierung

Aber schon kurze Zeit danach kam bei einem Treffen mit den Vertretern der Opposition wieder Hochstimmung auf. Sie sind eigentlich keine richtigen Oppositionsvertreter mehr, sondern schon halb in der Regierung zur Unterstützung von Kostunica, dem neu gewählten Präsidenten. Sie waren noch etwas übermüdet nach den anstrengenden Wochen, die hinter ihnen lagen und den vielen Monaten des Widerstandes gegen das Regime von Milosevic. Aber sie waren hoffnungsvoll und optimistisch. Und sie waren jetzt uns gegenüber viel gleichberechtigtere Gesprächspartner und nicht mehr so sehr Bittsteller, wie das in den Wochen und Monaten vor den Präsidentschaftswahlen der Fall gewesen ist. Sie berichteten auch, dass sie langsam versuchten, den Bürgern die Schuppen von den Augen zu nehmen und die Realität der vergangenen Jahre zu zeigen: die Grausamkeiten des Milosevic-Regimes in Bosnien und Herzegowina sowie im Kosovo. Sie versuchten als bewusste und überzeugte Serben die nationalistischen Auswüchse zu kritisieren und Serbien zurück in die westliche Demokratie- und Wertegemeinschaft zu führen.
Darum ging es auch im anschließenden Gespräch, das wir mit den Vertretern der politischen Parteien, soweit sie dem Oppositionsbündnis angehört haben, führten. Auch hier zeichneten sich die Vertreter durch hohe Überzeugungsqualität, einige davon mit Visionen über die Zukunft der Zusammenarbeit auf dem Balkan, aus. Nur beim Gespräch mit dem Präsidenten des Oberhauses, einem Vertreter der Bruderpartei der „Sozialisten“ von Milosevic in Montenegro, kam das alte Jugoslawien zum Vorschein. Nicht ungeschickt, gewandt, aber deswegen nicht überzeugend, präsentierte sich der Präsident des Oberhauses.

Beeindruckender Kostunica

Den Höhepunkt bildete sicherlich der Besuch beim neugewählten Präsidenten Kostunica. Aufgrund der vielen Medienberichte waren wir bei aller Freude und allem Optimismus angesichts der Abwahl von Milosevic zunächst durchaus skeptisch gegenüber einem, der im besten Fall als zivilisierter Nationalist dargestellt worden ist, eingestellt. Schon am Abend, als wir mit dem Vertreter der EU und Repräsentanten der deutschen bzw. österreichischen Botschaft gesprochen hatten, bekamen wir ein durchaus positives Bild von Kostunica geliefert. Das Gespräch mit dem neu gewählten Präsidenten, das Doris Pack und ich geführt haben, war sehr angenehm. Kostunica präsentierte sich uns als ein bescheidener, ruhiger, besonnener Politiker – ohne Eitelkeiten, ohne Floskeln, ohne großtuerisches Gehabe und ohne peinlichen Verweis auf die serbische Nation und Tradition.

Kostunica hatte vor wenigen Tagen den Rat von Biarritz beeindruckt. Und er beeindruckte jetzt auch uns. Nicht zuletzt durch die Art, wie er mit seinen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern umgeht, wie er sie um ergänzende Meinungen und Informationen ersucht. Uns war klar, dass wir nicht zu viel von ihm verlangen konnten, vor allem nicht vor den serbischen Wahlen, die für den 23. Dezember anberaumt sind. Gerade in diesen Tagen haben die Vertreter der Opposition darum gerungen, mit den Vertretern von Milosevic eine Übergangsregierung zu bilden, um die Wahlen vorzubereiten und auszuschreiben und um ein Minimum an Funktionsfähigkeit der demokratischen Institutionen und der wirtschaftspolitischen Handlungen sicherzustellen.

Das Unmittelbar Notwendige

Wir konzentrierten uns in unserem Gespräch mit Kostunica daher auf das unmittelbar Notwendige: die Freilassung politischer Gefangener, vor allem der Albaner aus dem Kosovo, um ein erstes Zeichen der Gesprächsbereitschaft und der Korrektur gegenüber den Handlungen des Milosevic-Regimes zu setzen. Wir erhielten eine Zusage, dass Kostunica sich in diese Richtung bewegen wird, und wir versprachen, dass wir nach Massgabe seiner Schritte all das unternehmen werden, was wir tun können, um im Europäischen Parlament die Kommission und den Rat zu unterstützen und, wo es notwendig ist, auch zu drängen, Jugoslawien zu helfen.

Überwintern in Anstand

Um diese Hilfe ging es dann auch in einem Gespräch mit jener Ökonomen-Gruppe, die schon seit Monaten vorbereitende Analysen und Gutachten ausgearbeitet hat, wie die Wirtschaft wieder in Gang zu bringen ist und was an Hilfe und Unterstützung durch den Westen gegeben werden müsste, damit ein Überwintern in Anstand und Akzeptanz möglich wäre. Das ist nicht nur eine Frage der Humanität, sondern eine Frage der politischen Vernunft. Und gerade in Zeiten der Wahlauseinandersetzung in der wichtigsten jugoslawischen Republik, Serbien, wird es notwendig sein zu verhindern, dass Milosevic einen Wahlkampf führen kann, in dem er den Menschen nachweisen kann, dass es ihnen unter dem neuen Regime nicht besser, sondern vielleicht sogar schlechter geht als unter dem alten Milosevic-Regime. Milosevic hat die Preise kontrolliert und künstlich niedrig gehalten, er hat die letzten Reserven herausgequetscht, um den Menschen ein Minimum an Nahrungsmitteln zu geben.
Der Zusammenbruch seines Regimes und seine Abwahl waren sicherlich auch dadurch möglich, dass selbst vielen seiner Anhängern klar war, dass ein weiterer Winter in dieser prekären Versorgungslage kaum durchzustehen sein würde. Jetzt muss allerdings nicht mehr Milosevic den Beweis antreten, dass er einen minimalen Standard für die Bevölkerung garantieren können wird. Diesen Beweis müssen Kostunica und das neue Regime antreten. Es ist besser, wenn man die Menschen mit dem Notwendigsten versorgen und ein Zeichen des wirtschaftlichen Aufschwunges und Bessergehens, um nicht zu sagen des Wohlstandes, setzen kann. Und wir müssen dabei helfen, genau diese Schritte zu setzen: durch kurzfristige Umwidmung aus den Reserven des heurigen Budgets und durch mittel- bis langfristige Neugestaltungen bei den zukünftigen Budgets.

Neue Kooperationsbasis mit Montenegro und Kosovo

Neben diesen wirtschaftlichen Fragen bestehen natürlich auch politische Fragen ersten Ranges, vor allem im Zusammenhang mit Montenegro und dem Kosovo. Es ist nicht leicht, unsere montenegrinischen Freunde zu überzeugen, dass sie jetzt versuchen sollten, eine Kooperationsbasis mit der neuen politischen Führung auf jugoslawischer Ebene zu finden. Die Selbständigkeit an sich ist kein alles überragender politischer Wert. Das Zusammenwirken innerhalb Jugoslawiens unter der Voraussetzung einer demokratischen, nicht nationalistischen, jedenfalls nicht großserbischen Orientierung scheint mir eine gesündere Basis zu sein, als die Spaltung, die ja letztendlich auch quer durch die montenegrinischen Bevölkerung verlaufen würde.

Selbständigkeit ist kein alles überragender politischer Wert

Ähnliches gilt auch für den Kosovo. Sicher, die Lage ist hier schwieriger, die Wut und die Schmerzen der Kosovo-Albaner sind grösser. Aber viele Serben haben es noch nicht aufgegeben, den Kosovo nicht nur als Teil Jugoslawiens, sondern als Teil Serbiens zu sehen. Die Möglichkeit, dem Kosovo eine gleichberechtigte Stellung zu geben bzw. in Teilen vielleicht auch einmal der Vojvodina, ist nicht in jenem Ausmaß vorhanden wie bezüglich der Teilrepublik Montenegro.
Dennoch meine ich, dass wir in der Europäischen Union dem Kosovo bzw. Montenegro nicht signalisieren sollten, dass wir eine Unabhängigkeit ohne weiteres akzeptieren oder sogar willkommen heissen würden. Der neuen, derzeit noch jugoslawischen Führung, aber hoffentlich bald auch einer von der bisherigen Opposition getragenen demokratischen Führung im wichtigsten Teilstaat Serbien sollte eine Chance gegeben werden, ein neues Jugoslawien zwar nicht in den früheren, aber den heutigen Grenzen aufzubauen. Nur dann, wenn dazu von Serbien keine Bereitschaft ausginge, müsste man über neue Lösungen nachdenken. Heute in eine andere Richtung zu gehen, wäre verfrüht und in diesem Sinn falsch.  
Belgrad, 16.10.2000