Bildung als Stabilitätsfaktor

Bildung und Ausbildung spielen eine zentrale Schlüsselrolle bei der Entwicklung am Balkan und sollten entsprechend finanziell, politisch und moralisch unterstützt werden. 
Hier am Flughafen von Zagreb geht das Rätselraten darüber, wer der nächste Präsident der Vereinigten Staaten von Amerika sein wird, weiter. Es wird von einem Überhang an Stimmen für Al Gore berichtet. Wenn allerdings Bush die Mehrheit der Stimmen in Florida erhält, dann hält er die Wahlmänner – und damit ist die Angelegenheit für Bush entschieden.

Der „Graz-Prozess“

Aber nicht die amerikanischen Wahlen haben mich nach Zagreb gebracht, sondern der sogenannte „Graz-Prozess“. Dieser hat in Österreich während der Präsidentschaftszeit begonnen und durch die unglücklichen und jetzt glücklichen Ereignisse am Balkan Unterstützung erfahren. Dabei handelt es sich um einen Prozess, in dem Erziehung und Ausbildung als wesentliche Faktoren für die Entwicklungen am Balkan gesehen werden und in dem Österreich als führendes Land im Rahmen einer Initiative mit der Europäischen Union im Stabilitätspakt versucht, finanzielle, politische und moralische Unterstützung für verstärkte Bildungs- und Ausbildungsmassnahmen am Balkan zu geben. Nebenbei bemerkt ist Graz heute auch deshalb in vieler Munde, weil Sturm-Graz gegen Istanbul-Galata zwar nicht gewonnen, aber durch ein Match in Istanbul den Gruppensieg im Europacup errungen und damit auch den Aufstieg in die nächste Runde geschafft hat.
Im Mittelpunkt unserer heute Vormittag in Zagreb stattgefundenen Diskussion standen aber wie gesagt Bildung und Ausbildung als Grundwerte einer toleranten Gesellschaft. Ausserdem wurde über die Frage diskutiert, inwieweit Geschichte und Geschichtsausbildung einen positiven Beitrag zu einem neuen und friedlichen Balkan leisten können. Dabei ist es kaum möglich, eine uniforme Geschichtsschreibung zu erzielen – eine derart einheitliche Interpretation geschichtlicher Fakten ist wahrscheinlich auch gar nicht das Ziel. Aber es geht darum zu erreichen, dass die verschiedenen Geschichtsschreibungen verstanden und unterschiedliche Sichtweisen akzeptiert bzw. überhaupt einmal zur Kenntnis genommen werden.

Fragwürdige Feinddefinition

In diesem Zusammenhang ist besonders auffällig, dass es nicht nur um nationale Geschichtsschreibung mit ihren jeweils nationalen Feinden geht, sondern dass es auch innerhalb der einzelnen Länder unterschiedliche und sehr konträre Auffassungen über Geschichte und geschichtliche Ereignisse gibt. Nachdem Kollege Lagendijk, den ich sehr schätze, gemeint hat, dass jedes Land einmal eine Periode hinter sich bringen müsse, in der es sich seine Geschichte zurechtlegt und auch die eigenen Feinde definiert, um schliesslich diesen Zustand überwinden zu können, fragte ich mich, ob das nicht nur für Staaten mit klarer nationaler, ethnischer Struktur gelte. Wer ist denn der Feind von Bosnien? Sind es die Serben? Sind es die Bosniaken? Sind es die Kroaten? Oder sind es alle zusammen? Solche Fragen haben natürlich nicht nur im Extremfall von Bosnien ihre Berechtigung, sondern auch für Länder wie Rumänien mit einer grossen ungarischen Minderheit oder für Mazedonien mit einer grossen albanisch sprechenden Minderheit. Und sie haben Berechtigung für viele kleine Minderheiten, alle jene, die beispielsweise jüdischen Ursprungs sind und die sich auch zum Judentum bekennen.

Nationenbildung

Die Nationenbildung am Balkan ist ja vor allem auch deshalb so schwierig, weil es überall nur eine mehr oder weniger starke Mischung von Minderheiten gibt. Die Geschichtsschreibung bzw. die Positionierung an sich ist sogesehen nicht einfach. Dennoch muss man versuchen, eine gewisse Nationenbildung vorzunehmen. Dem widerspricht zum Beispiel das Konzept von Dayton mit der klaren Aufspaltung Bosniens in eine muslimisch-kroatische Föderation und in eine serbische Teilrepublik und noch dazu die Aufspaltung in mehrere Kantone, wobei jeweils die Kantone selbst für Bildung, Ausbildung und Erziehung verantwortlich sind. Wie man vor diesem Hintergrund zu einer einheitlichen Konzeption kommen kann, ist fast unvorstellbar – es ist jedenfalls sehr, sehr schwierig.

Aber nicht nur der Geschichtsunterricht, sondern auch der Sprachen- und Literaturunterricht ist sehr stark meinungs- und imagebildend. So meinte etwa ein Professor aus Zagreb, dass in Deutschland und Österreich im Durchschnitt jeweils zu 50% nationale Literatur und Weltliteratur vermittelt wird, am Balkan aber 75% nationale Literatur nur 25% Weltliteratur gegenüberstehen. Das zeigt wieder klar, dass der Vorrang in dieser Region eindeutig auf dem nationalen bzw. ethnischen Sektor und nicht so sehr auf einer übernationalen, überethnischen, europäischen oder gar internationalen Ebene liegt.

Abwandern der Humanressourcen

Wir haben natürlich nicht nur über Geschichte und Geschichtsunterricht gesprochen, sondern auch über andere Faktoren der Bildung, etwa die Frage, wie überhaupt Expertenwissen in dieser Region gehalten werden kann. Ich habe bei meinem letzten Besuch in Bulgarien sehr viel davon gehört, dass in Bulgarien ein grosses Expertenwissen und viele humane Ressourcen vorhanden sind, aber die Besten unter ihnen abwandern, ins Ausland gehen – dass also ein verstärkter brain train vorhanden ist.
Auf meine Frage hin meinte die Leiterin des Belgrader Büros der Open Society von Soros, Sonja Licht, dass in der Tat der brain train ein ungeheures Problem sei. Man müsste zumindest erreichen, dass die Besten, die es in diesen Ländern gibt, wieder zurückkehren. Ich stelle immer wieder fest, dass es in all diesen Ländern, auch in den ärmeren und zerstörten Regionen, hervorragende und gut ausgebildete Experten gibt – nur sind sie meistens nicht in der eigenen Heimat zu finden. Das hat für die Betroffenen viele Vorteile. Aber gerade in Zeiten wie diesen, in denen diese Ressourcen gebraucht werden, muss man versuchen, diese Fachkräfte zur Rückkehr zu bewegen.

Sponsoring

Sonja Licht hat angeregt, durch private und öffentliche Sponsoren eine Art Fonds zu gründen, um wenigstens teilweise und zeitweise diese Experten aus der Region, die sich derzeit anderswo – etwa bei der Weltbank – befinden, zu animieren, zurückzukehren. Für die Weltbank müsste es sogar von Vorteil sein, wenn diese Menschen in den kritischen Regionen wirken, weil sie sich dadurch vielleicht zu einem späteren Zeitpunkt eine grosse Finanzhilfe erspart, die dann gegeben werden muss, wenn es aufgrund mangelnden Expertenwissens zu katastrophalen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen kommen würde.
Ursprünglich hatte ich meine Zweifel, ob ich mir diese Reise überhaupt antun sollte: gestern Abend nach Wien zu fliegen, in der Früh weiter nach Zagreb – im Übrigen mit Malaysia Airways, die von Wien aus ein Frühverbindung nach Zagreb herstellt – und das alles nur wegen eines Vormittages. Aber ich habe gesehen, dass diese Diskussion über Bildung, Ausbildung und Erziehungswesen sehr wertvoll war. Und es war natürlich zugleich eine Gelegenheit, viele ParlamentarierInnen aus der Region wiederzusehen und mit ihnen die neuen Verhältnisse am Balkan zu diskutieren.

Einbindung in den europäischen Prozess

Es ist sehr wichtig, den ParlamentarierInnen in dieser Region auch das Gefühl der Unterstützung und Stärkung zu geben und sie vor allem in das grosse europäische Projekt einzubinden – selbst wenn das nicht bedeutet, dass sie von heute auf morgen zur Europäischen Union gehören und Abgeordnete im Europäischen Parlament werden können. Aber in diesem Fall geht es ja um einen mittel- bis langfristigen Prozess.
Und ich ganz persönlich sehe es auch als meine Aufgabe an, diesen Prozess zu stärken und die Grundlage dafür zu schaffen, dass sich politische Kräfte herausbilden, die in diesem Europa, nicht nur etwas sehen, bei dem sie gerne dabei sein wollen, sondern auch eine Verpflichtung, heutige europäische Standards der Toleranz und Akzeptanz in ihrem eigenen Land durchzusetzen. 
Zagreb, 8.11.2000