Brussels Forum 2007

Die Amerikaner schaffen es immer wieder, höchste Qualität und höchste Spitzenleistungen auf europäischem Boden zu organisieren.
Auf dem heute und morgen in Brüssel stattfindendem Brussels Forum, das vom German Marshall Fund of the U.S. organisiert worden ist, sind etliche prominente PolitikerInnen, DiplomatInnen, ExpertInnen und JournalistInnen zusammen gekommen, um zu einer Vielzahl von Themen zu diskutieren. Es war zweifellos eine der besten Tagungen, an denen ich in letzter Zeit teilgenommen habe.

Sorgenkind Türkei

Heute Früh fand eine Diskussion über die Türkei statt, bei der ich gemeinsam mit Oli Rehn, dem zuständigen EU-Kommissar sowie mit zwei unterschiedlich orientierten Vertretern aus der Türkei und den USA am Podium saß. Es waren sehr viele ZuhörerInnen und MitdiskutantInnen anwesend, die ihr Frühstück einnahmen, während wir diskutierten.
Die Debatte fand zu einem Zeitpunkt statt, an dem in der Türkei eine wilde Auseinandersetzung um den neuen türkischen Präsidenten entbrannt ist. Premierminister Erdogan, der selbst lange überlegt hat, für das Präsidentenamt zu kandidieren, hat seinen Außenminister Abdullah Gül vorgeschlagen. Viele haben das als positives Zeichen gesehen. Ich selbst habe bei unserer Diskussion klargestellt, dass eine Wahl Abdullah Güls die Türkei doch um ein Stück vorwärts bringen könnte. Gül ist zwar einerseits Vertreter einer islamischen Partei, respektiert und unterstützt aber andererseits den sekulären laizistischen Staat, also die Trennung von Staat und Religion.

Grundkonsens ist notwendig

Ich gab dem außenpolitischen Berater von Erdogan, der ebenfalls an der Debatte teilnahm, Recht, dass man in der Türkei die Interpretation von Kemal Atatürk, seine Theorien und seine Ansätze, der heutigen Zeit anpassen muss. Und dem Vertreter der laizistischen Türkei gab ich Recht, dass die Türkei nicht auf ihre sekulären Strukturen, also auf die Trennung von Staat und Religion, verzichten darf.
Beide Strömungen müssen sich allerdings bewegen. Die Einen müssen von dem Versuch, den Islam stärker im öffentlichen gesellschaftlichen Leben zu verankern, Abstand nehmen. Und die Anderen müssen versuchen, den Nationalismus, der mit einer stark sekulären Haltung verbunden ist und sich in einem mangelnden Respekt für die Minderheiten, einer extrem starren Haltung in der Zypernfrage, aber auch hinsichtlich der Beziehung zu Armenien niederschlägt, zu ändern. Die Türkei braucht einen neuen Grundkonsens.

Der Kopftuch-Streit

Nach der Diskussion wurde ich von verschiedenen türkischen Journalisten interviewt und führte weitere Gespräche. Einige meinten, Erdogan hätte eigentlich nicht an Außenminister Gül gedacht, als er mit den Militärs über den zukünftigen Staatpräsidenten gesprochen hat, sondern vielmehr den Verteidigungsminister, dessen Frau allerdings kein Kopftuch trägt.
Das Kopftuch ist tatsächlich zum Symbol der Auseinandersetzung zwischen der laizistischen und der islamischen Orientierung in der Türkei geworden. Sowohl die Frau von Premierminister Erdogan und auch die Frau des Präsidentschaftskanditaten Abdullah Gül tragen ein Kopftuch. Und genau das ist jetzt auch zum Streitpunkt mit dem Militär geworden. Die Opposition hat inzwischen nicht an der ersten Wahlrunde teilgenommen, und Außenminister Gül hat nicht genügend Stimmen erhalten. Sie ficht nun beim Verfassungsgerichtshof die Meinung des Parlaments an, dass dieser Wahlgang trotz der Absenz der Republikanischen Partei, also der Opposition, gültig ist.

Prekäre Situation

Es wird sich zeigen, wie die Entwicklung in den nächsten Tagen verlaufen wird. Ich finde es jedenfalls äußerst bedenklich, dass man sich nicht auf eine gemeinsame Position geeinigt hat. Zweifellos haben insbesondere jene Journalisten Recht, die vor der Gefahr einer extrem einseitig orientierten Politik warnen, die sich ergibt, wenn sowohl der Staatspräsident als auch der Ministerpräsident und der Parlamentspräsident von der regierenden islamischen Partei gestellt werden.
Aus meiner Sicht ist es Aufgabe der Europäischen Union, klarzumachen, dass in diesem Fall das Gleichgewicht gefährdet sein kann – es sei denn, Außenminister Gül würde sich als Präsident der Türkei doch in einem stärkeren Ausmaß von der Interessensvertretung der islamischen Partei distanzieren und stärker eine objektiv und übergeordnete Position der gesamten Türkei einnehmen. So oder so: Die Situation ist äußerst heikel und viele JournalistInnen haben sich über die Entwicklung besorgt gezeigt. Ich verstehe das durchaus.

Mission impossible

Bei der Brüsseler Tagung fand auch eine hochrangig besetzte Diskussion über Afghanistan statt. Sowohl der Nato-Generalsekretär als auch US-Botschafter Holbrooke nahmen daran teil. Holbrooke hat sowohl am Balkan als auch als UN-Botschafter eine große Rolle gespielt und hat eine vernichtende Kritik über die gegenwärtige Nato-Interventionen am Balkan (?) vorgebracht. Weitere DiskutantInnen waren der kanadische Außenminister und eine Vizepräsidentin des afghanischen Parlaments, die bereits von Laura Bush als Herzeigemandatarin in den USA vorgeführt worden ist.
Die beiden Vertreter des militärischen Einsatzes, also der kanadische Außenminister und der Generalsekretär der Nato, konnten keine wirklich schlagkräftigen Argumente gegen die kritischen Einwände von Holbrooke vorbringen. Die gesamte Mission, so Holbrooke, sei eigentlich zum Scheitern verurteilt und es würde viel zu wenig in die Infrastruktur, die Wirtschaft und den Wiederaufbau investiert. Zudem ginge es den Frauen nur in den Städten besser, am Land bestünde nach wie vor eine katastrophale Diskriminierungen. Dem konnte niemand wirklich widersprechen.

Skepsis gegenüber Nato

Ich bin nach wie vor der Meinung, dass die Afghanistan-Intervention aufgrund des Verhaltens der Taliban und der Verknüpfung der Taliban mit dem Terrorismus bzw. der Toleranz gegenüber den terroristischen Planungszellen im Prinzip gerechtfertigt gewesen ist. Weder Amerika noch die Welt insgesamt können einen solchen Staat, der zur Gefährdung des Weltfriedens und der Weltsicherheit geworden ist, akzeptieren. Dennoch ist es ebenso gerechtfertigt, massive Kritik an der Art und Weise der Intervention zu üben – vor allem deshalb, weil diese Intervention augenscheinlich nicht wirklich gut geplant ist, das Militärische eindeutig dominiert und damit das Gefühl für die Sensibilität der gesamten Struktur gar nicht aufgebracht wird.
Das ist ein zweiter Grund für meine Skepsis gegenüber der Nato: Eine militärische Intervention muss heute in einem viel größeren Ausmaß von zivilen Aktivitäten begleitet sein. Eine Nato, die unter der Dominanz der Amerikaner steht, kann aber genau das nicht leisten. Dieser Kritikpunkt ist aus meiner Sicht wesentlich stärker als die vor allem in Österreich übliche Ablehnung der Nato als Kriegsinstrument. Es geht gar nicht darum, dass die Nato ein Kriegsinstrument darstellt. Nein, es geht darum, dass sie selbst es nicht zustande bringt, bei den – gerechtfertigten – Einsätzen eine dahingehende Kooperation mit den Mitgliedsländern zu organisieren, die letztendlich die Friedensschaffung im weiteren Sinn des Wortes, also die Herstellung von dauerhaften gesellschaftlichen demokratischen Strukturen, im Auge hat.

Kosovo und Balkan

Die dritte Diskussion im Rahmen der Brüsseler Tagung, die ich erwähnen möchte, war eine Debatte in einem Kreis von etwa 30 Personen mit dem schwedischen Außenminister Carl Bildt über die Kosovofrage und die damit zusammenhängenden Probleme auf dem Balkan. Carl Bildt war ebenfalls in der Internationalen Gemeinschaft am Balkan tätig. Er steht im politischen Spektrum relativ weit rechts und ist sehr proamerikanisch. Ich stimme mit seinen Einschätzungen nicht immer überein.
Bei dieser Dinerdebatte argumentierte er allerdings hervorragend. Er zeigte sich pragmatisch und europäisch und warnte die Amerikaner vor einseitigen Schritten in der Kosovofrage. Dies würde aus seiner Sicht die transatlantischen Beziehungen beeinträchtigen. Er hat damit das in Worte gefasst, was auch ich selbst zum Ausdruck bringen würde.

Viele unterschiedliche Zugänge

Bei diesem Arbeitskreis zum Kosovo habe ich viele mir bekannte PolitikerInnen und ExpertInnen getroffen. So gab es ein Wiedersehen mit Ludmila Skarinska (?), der jetzigen Oppositionsführerin und früheren stellvertretenden Ministerpräsidentin von Mazedonien und mit Oliver Ivanovic, dem äußerst moderaten, früheren Führer der Serben im Norden des Kosovo, in Mitrovica, der sich heute allerdings enttäuscht aus der Politik zurückgezogen hat und in der Wirtschaft tätig ist. Ich traf auch Gerald Knaus von der Europäischen Stabilitätsinitiative.
Es gab viele unterschiedliche Meinungen. Der frühere slowakische Ministerpräsident Jorinda beispielsweise äußerte sich sehr skeptisch gegenüber einer Unabhängigkeit des Kosovo. Ludmila Skarinska meinte hingegen, jede Lösung sei schlecht, man könne sich nur für das kleinere Übel entscheiden. Letztendlich sprach sie sich aber doch für den Ahtisaari-Vorschlag mit einem entsprechend starken europäischen Engagement als sinnvollste Variante aus.

Größere Aufmerksamkeit für wirtschaftliche Entwicklung

Carl Bildt und andere haben die zwei Hauptpunkte zum Ausdruck gebracht, die sich auch mit meiner Überzeugung decken: Erstens wird uns die Kosovofrage noch lange erhalten bleiben und man darf sich nicht der Illusion hingeben, dass mit einer Unabhängigkeitserklärung des Kosovo, einer neuen Un-Resolution oder beidem das Problem gelöst ist. Konfliktsituationen bleiben bestehen – im Kosovo selbst, zwischen Kosovo und Serbien und in der Region insgesamt – und neue Spannungen können jederzeit entstehen.
Zweitens geht es um die wirtschaftliche Entwicklung in der Region. Es muss kritisch angemerkt werden, dass über die wirtschaftliche Entwicklung sehr wenig gesprochen wird. Über dieses Grundproblem habe ich auch mit anderen KollegInnen diskutiert. Man bräuchte wahrscheinlich für diese Region – genauso wie für die Schwarzmeerregion oder die Mittelmeerregion – wesentlich mehr Ansätze dazu, analog dem Marshallplan, wie die wirtschaftliche Entwicklung voranzubringen ist. Die Sicherheitsfaktoren spielen zweifellos eine zentrale Rolle und man darf die Frage der Sicherheit als Aspekt der Minderheiten keinesfalls außer Acht lassen und annehmen, dass die wirtschaftliche Entwicklung alle Fragen löst. Umgekehrt gilt es aber zu bedenken, dass diese Fragen ohne wirtschaftlichen Fortschritt nicht gelöst werden können. Deshalb sollten wir der wirtschaftlichen Entwicklung, inklusive unserer eigenen finanziellen Hilfestellung, in Zukunft ein größeres Augenmerk schenken.

Amerikanische Taktik

Es fanden in Brüssel noch mehrere andere Diskussionen im Rahmen dieser Tagung statt. Aber ich wollte wenigstens einen Tag in Wien verbringen, bevor ich morgen Abend nach Palästina abreisen werde und fliege deshalb heute noch nach Hause.
Unterm Strich muss man zugestehen, dass die Amerikaner es immer wieder zustande bringen, höchste Qualität und höchste Spitzenleistungen auf europäischem Boden zu organisieren. Außerdem ist zu betonen, dass sie keine Region auslassen und allen ihre Aufmerksamkeit schenken. Das heißt aber nicht, dass sie auch immer und überall geschickt agieren – im Gegenteil. Trotzdem: Die Offenheit und das Engagement, das sie allen Regionen dieser Welt widmen, sollte uns in Europa zu denken geben und wir sollten entsprechende Schlüsse daraus ziehen.

Brüssel, 28.4.2007