Das Bolkestein-Schreckgespenst

Wir lehnen das sogenannte Ursprungslandprinzip, nach dem die Anbieter von Dienstleistungen ihre Bedingungen von zu Hause anwenden können und nicht die sozialen, arbeits-, konsumenten- und umweltschutzrechtlichen Bedingungen der Mitgliedsländer, in denen sie die Dienste anbieten, strikt ab.
Eine Debatte, die parallel zu den übrigen Bereichen der vergangenen Sitzungswoche gelaufen ist, war jene über die Dienstleistungsrichtlinie. Wir haben uns im Europäischen Parlament dazu entschlossen, gemeinsam mit den anderen Parteien – mit den Grünen, aber insbesondere auch mit Teilen der Europäischen Volkspartei – Gespräche aufzunehmen, um in dieser Frage zu einer gemeinsamen Lösung zu kommen.

Kompromiss ohne Ursprungslandsprinzip

Eine gemeinsame Lösung heißt, dass wir in wesentlichen Punkten der Dienstleistungsrichtlinie einen Kompromiss erzielen, der in folgende Richtung geht: Wir wollen einen gemeinsamen Dienstleistungsmarkt. Jedes Unternehmen soll seine Dienste auch in einem anderen Land der Europäischen Union anbieten können. Bürokratische Hemmnisse und Hindernisse sollten dabei beseitigt werden. Und die einzelnen Mitgliedsstaaten sollten sich zu diesen Schritten verpflichten.
Auf der anderen Seite wollen wir aber unmissverständlich klarstellen, dass wir das sogenannte Ursprungslandprinzip, nach dem die Anbieter von Dienstleistungen ihre Bedingungen von zu Hause anwenden können und nicht die sozialen, arbeits-, konsumenten- und umweltschutzrechtlichen Bedingungen der Mitgliedsländer, in denen sie die Dienste anbieten, strikt ablehnen. Für diejenigen, die angeblich im Interesse der KonsumentInnen, aber zweifelsohne vor allem im Interesse der Unternehmer und einer Verbilligung unabhängig von den sozialen Rahmenbedingungen den Wettbewerb erweitern wollen, ist das Ursprungslandprinzip der entscheidende Faktor.

Entsenderichtlinie

Es ist wichtig darauf hinzuweisen, dass das Ursprungslandprinzip im europäischen Recht bisher nicht vorgekommen ist. Es handelt sich um eine typische Erfindung der früheren Kommission, insbesondere des rechts-liberalen Kommissars Bolkestein, der dieses Vorhaben durchgepeitscht hat.
Wie mir kürzlich der frühere EU-Kommissar Pascal Lamy gesagt hat, war bei den Kommissionsberatungen von vornherein klar, dass vor allem hinsichtlich des Arbeitsrechtes die sogenannte Entsenderichtlinie gelten müsse. Unabhängig davon, ob die Menschen in jenem Land, in dem sie eine Dienstleistung anbieten, stationiert sind, oder dies gewissermaßen über die Grenze hinweg tun, müssen die Mindestnormen und -standards – beispielsweise der Kollektivvertragslohn – eingehalten werden, um keinen unlauteren Wettbewerb entstehen zu lassen. Im Gesetzesvorschlag der Kommission allerdings steht heute etwas völlig anderes.

Neue gegen alte Mitgliedsländer

Die größten Debatten über die Dienstleistungsrichtlinie führen wir im Europäischen Parlament mit unseren KollegInnen aus Osteuropa. Sie sehen in der Ablehnung der ParlamentarierInnen aus den alten Mitgliedsländern den Versuch, die Märkte gegen Konkurrenz abzuschotten und zu schützen. Das stimmt bis zu einem gewissen Grad. Einige möchten keine Konkurrenz zulassen.
Andererseits sind aber viele durchaus einverstanden damit, dass es Konkurrenz als einen Teil der Wirtschaft und eines gemeinsamen Marktes geben muss. Sie sind aber nicht damit einverstanden, dass dieser Markt zum sozialen Dumping missbraucht werden kann.

Keinen Kuhhandel treiben!

Ich habe angeregt, in unserer Fraktion ein Gespräch mit den Delegationsleitern aus den neuen Mitgliedsländern zu führen. Dabei kamen viele negativen Vorurteile und Kritik an den alten Mitgliedsländern und deren parlamentarischen Vertretern zur Sprache. Einige meinten: `Ihr wolltet Konkurrenz vermeiden, ihr habt alle unsere Firmen aufgekauft, ihr habt eure Firmen bei uns angesiedelt. Und wir dürfen euch nicht unsere ArbeitnehmerInnen schicken!´
Ich antwortete ihnen: `Dass unsere Firmen bei euch angesiedelt sind, wird auch bei uns kritisiert. Aber man kann ja nicht so etwas wie einen Kuhhandel betreiben – Betriebsansiedlungen im Austausch von ArbeitnehmerInnen-Übernahme.´ Auch hier geht es nicht um die Frage, ob es Dienstleistungen geben soll, sondern darum, unter welchen Bedingungen es sie gibt.

Übergangsregelungen

In unserem Gespräch ging es auch um die Übergangsregelungen für den Arbeitnehmerverkehr, die Österreich ja bisher in Anspruch genommen hat. Hier gibt es starken Druck der Kommission, das zu ändern. Ebenso wie von einigen aus Ost-, aber auch aus Westeuropa, etwa aus Ländern, die ihre Arbeitsmärkte geöffnet haben. Umgekehrt gilt es festzuhalten, dass dies ein Bestandteil der Vereinbarungen ist. Wir haben unseren ArbeitnehmerInnen versprochen, dass es Übergangsregelungen geben wird und nicht auf einmal mit einem starken Ansturm zu rechnen sein wird, wie er vielfach prognostiziert wurde.
Jedenfalls kann man nicht plötzlich Zusagen, die wir unserer eigenen Bevölkerung gemacht haben, über Bord werfen und den Arbeitsmarkt schrankenlos öffnen. Noch dazu, wenn es keinerlei Garantie gibt, dass es in der Folge bei den Dienstleistungen nicht trotzdem zu Unterbietungen kommt. Wie wir wissen, hat der Schwarzmarkt es in vielen Fällen dazu gebracht, dass wir ohnedies eine große Anzahl von ArbeitnehmerInnen aus den Nachbarländern haben – aus Ostdeutschland, den neuen Mitgliedsländern und auch aus Süd-Osteuropa. In Österreich gibt es sehr viele ArbeitnehmerInnen aus diesen Ländern, und zwar unabhängig von den Übergangsregelungen, die wir mit den neuen Staaten vereinbart haben. Diese werden mitunter auch sehr differenziert angewendet.

Geregelte Marktöffnung

Die Diskussion geht weiter. Parallel zu den Verhandlungen mit den anderen Parteien und Gruppierungen werden wir versuchen, eine Lösung zu finden. Das wird nicht leicht sein, vor allem auch in der eigenen Fraktion. Die verschiedenen Interessenlagen sind extrem unterschiedlich. Trotzdem bin ich optimistisch, dass es uns gelingen wird, unsere Freunde aus Osteuropa zu überzeugen, dass es nicht um Abschottung, sondern um Marktöffnung geht. Allerdings unter Bedingungen, die uns ermöglichen, dass wir in Konsens Vereinbarungen und nicht neue Konflikte entstehen lassen.
Allerdings muss man sich bewusst sein, dass viele unserer BürgerInnen jenseits der Grenzen billig einkaufen und in Zukunft wahrscheinlich auch viele unterschiedliche Dienstleistungen in Anspruch nehmen werden. Einige tun dies schon jetzt – vom Frisör- bis zum Zahnarztbesuch -, müssen sich dabei allerdings noch über die Grenzen hinweg bewegen. Künftig kämen die Angebote über die Grenzen zu ihnen.
Sie werden auf jeden Fall kommen – das ist in einem zusammen wachsenden Markt unvermeidbar. Und dennoch wollen wir unsere Normen und Kriterien auf keinen Fall unterlaufen sehen.

Straßburg, 19.1.2006