Das Dogma Religion

Bei Religion wird in der Regel mit ewigen Wahrheiten operiert. Entscheidend ist allerdings die Frage, wie diese ewigen Wahrheiten interpretiert werden und in der jeweiligen Gesellschaft zum Ausdruck kommen.
Unser erster Termin heute Morgen fand im Energieministerium statt. Der Minister selbst war leider im Ausland, und so empfing uns der beamtete Chef des Ministeriums mit seinen MitarbeiterInnen.

Öl- und Gasreserven

Algerien geht davon aus, dass es noch gut 20 Jahre über Öl und Gas in ausreichendem Ausmaß verfügt und daher noch über viele Jahre hindurch Exporte durchführen kann. Zweifellos sind noch nicht alle Reserven entdeckt, sodass man sich noch über einen längeren Zeitraum hinweg auf die entsprechende Verfügbarkeit verlässt. Man ist in Algerien außerdem zunehmend offen für internationale Investitionen. Auch die Kulturministerin hatte gemeint, dass europäische Länder Schulen oder Universitäten im Land eröffnen könnten, und dasselbe sagten uns nun die Vertreter des Energieministeriums hinsichtlich des Energiesektors. Ich bezweifle allerdings, dass das in der Realität so einfach umzusetzen sein wird.
Es besteht jedenfalls ein immenses Interesse an der Zusammenarbeit mit europäischen Unternehmen. In diesem Zusammenhang wurde auch darauf hingewiesen, dass Algerien immer ein zuverlässiger Partner gewesen ist – selbst, als es in zwei Wintersaisonen einen plötzlichen Mehrbedarf in Spanien gegeben hat, hat Algerien umgehend mehr Erdöl und Erdgas geliefert. Zudem besteht auch Interesse, algerische Produkte – wenn auch nur in kleinen Schritten – direkt an die Konsumenten zu liefern.

Alternativenergien

Gerüchte über ein mögliches Gaskartell, einer Art OPEC für das Gas, wurden als völlig irrelevant zurückgewiesen. Man teilte uns mit, dass mit Gasprom lediglich ein Memorandum unterzeichnet worden ist, so wie es auch mit vielen anderen Unternehmungen bzw. Ländern der Fall gewesen sei.
In unserem Gespräch zeichnete sich ab, dass man sich in Algerien auch äußerst ernsthafte Gedanken über Alternativenergien macht – beispielweise über Sonnenenergie. Es sind bereits einige Sonnendörfer errichtet worden. Neue Gasleitungen werden gelegt. Und es wird überlegt, neue Häfen für die Verflüssigung von Gas zu errichten, um es in der Folge über das Meer transportieren und schließlich wieder in Gasform umsetzen zu können. Das ist allerdings noch immer kostspielig – wenngleich die Kosten vergleichsweise schon viel niedriger sind – und zudem mit einem gewissen Sicherheitsrisiko verbunden. Im Interesse der Vielfalt und der vielfältigen Transportmöglichkeiten Versorgungssicherheit will man aber auch dafür verstärkte Einrichtungen schaffen.

Beim Präsident des Obersten Islamischen Rates

Unser letztes Treffen im Rahmen unseres Besuches in Algerien war, wie schon an anderer Stelle erwähnt, jenes mit dem Präsidenten des Obersten Islamischen Rates, Cheikh Bouamrane und seinen Mitarbeitern. Erstaunlicherweise saß zumindest im Sekretariat eine Frau, und zwar ohne Kopftuch. Einer unserer Kollegen hatte gemeint, das sei extra für uns inszeniert worden – aber das glaube ich eigentlich nicht.
Cheikh Bouamrane ist ein Professor der Philosophie – und das ist auch in seinen Ausführungen zum Ausdruck gekommen: sie waren systematisch und gelehrt. Er hat zurückgewiesen, dass es imj Islam eine Dreieinigkeit von „Ismen“ gibt, nämlich den Fanatismus, den Fatalismus und den Immobilismus. Fanatismus habe es überall gegeben, meinte Bouamrane, und es handle sich dabei immer um Verformungen der Religion. Fatalismus sei kein Gen, sondern hänge mit den jeweiligen wirtschaftlichen und sozialen Verhältnissen zusammen. Und es gäbe auch keinen Immobilismus. Man dürfe den Koran nicht in allen Fällen wörtlich nehmen. Es gäbe Prinzipien, die Bestand haben. Das Zivilrecht setze allerdings diese Prinzipien in die jeweiligen gesellschaftlichen Verhältnisse um. Bestimmte Traditionen, wie zum Beispiel die Bekleidungsvorschriften, hätten zudem mit dem Islam gar nichts zu tun.

Wenig überzeugende Argumente

Hinsichtlich des Dschihad meinte Cheikh Bouamrane, dass es einerseits beim sogenannten kleinen Dschihad um die Verteidigung des Glaubens und des Territoriums, auf dem man sich befindet, geht und andererseits beim großen Dschihad um die Verteidigung im Inneren seines Glaubens gegenüber verschiedenen Anfechtungen. Daraus einen aktiven Glaubenskrieg abzuleiten, wäre völlig falsch.
Es zeichnen sich beim Islam Parallelitäten mit anderen Religionen ab, in erster Linie mit dem Judaismus und dem Christentum. Die von Cheikh Bouamrane angeführten Beispiele waren allerdings nicht besonders überzeugend. Er führte die Einstellung gegen die Ehe gleichgeschlechtlicher Natur an, strich jegliche Ablehnung des Tötens heraus, ebenso wie die Ablehnung von Organtransplantationen und von Abtreibungen – mit Ausnahme einer potentiellen Gefährdung der Mutter. Im Islam stehen die Gesundheit und das Leben der Mutter vor dem des Kindes.

Eigenartige Bemerkung

Unser spanischer Kollege berichtete in diesem Zusammenhang, dass die Gesetze in Spanien kürzlich dahingehend geändert worden seien, gleichgeschlechtliche Ehen oder auch Abtreibungen zu ermöglichen und zu legalisieren. Er machte deutlich, dass er dem Islam prinzipiell großen Respekt entgegenbringe, aber in diesen Punkten nicht übereinstimmen könne. Daraufhin kam es zu einer etwas eigenartigen, halb spaßhaften, halb ernsten Bemerkung von Cheikh Bouamrane. Er meinte, in dieser Frage könnten sie sich eben nicht treffen. Aber unser Kollege müsse aufpassen, dass die Gesetze nicht wieder geändert würden, wenn die Muslime die Mehrheit hätten.
Mit dieser Bemerkung hat der Scheich eigentlich darauf hingewiesen, dass, sollten die Muslime einmal die Mehrheit in Europa bzw. der Welt erlangen, diese Entwicklungen wieder rückgängig gemacht werden. Nun, es steht nicht zur Debatte, dass die Muslime tatsächlich die Mehrheit bekommen. Trotzdem lag in dieser Aussage von Cheikh Bouamrane zumindest ein Anschein des Versuches einer Dominierung. Zumindest war seine Äußerung für mich persönlich, bei aller Freundlichkeit, die bei derartigen Gesprächen zum Ausdruck kommt, ein Zeichen dafür, dass man auf islamischer Seite schon sehr konkrete Vorstellungen hat, wie die Entwicklungen vor sich gehen sollen. Augenscheinlich geht es nicht darum, Entscheidungen jeweils für sich selbst zu treffen, sondern es kommt stets ein kleiner Anspruch durch, dass sich die gesamte Welt nach diesen Regeln und Vorstellungen zu richten hat.

Koran-Interpretationen

Bei meinem Besuch in Syrien im Herbst vergangenen Jahres habe ich einen Koran geschenkt bekommen und habe diesen vor kurzem auch etwas genauer durchgelesen. Der Koran ist ein sehr umfangreiches Werk, und ich bin bei weitem kein Koranspezialist – daher ist es fast verwegen, dazu eine Einschätzung zu geben. Allerdings lesen viele andere Menschen den Koran mit ähnlich geringem Interpretationshintergrund wie ich, vielleicht sogar manchmal mit einem engstirnigeren und eingeschränkteren Zugang.
In der Tat ist aus dem Koran sehr vieles herauszulesen. Es finden sich unzählige der oft zitierten Suren zu Toleranz, Akzeptanz und Respekt. Es finden sich aber genau häufig die ebenfalls oft zitierten Suren, die die Tötung und den Machtanspruch zum Ausdruck bringen. Das hängt zweifellos nicht zuletzt mit den unterschiedlichen Funktionen und Epochen im Leben von Mohammed zusammen. Er war einerseits religiöser Führer, aber andererseits auch Staatsmann und Krieger. Vor diesem Hintergrund haben auch die unterschiedlichen Phasen in seinem Leben jeweils unterschiedliche Meinungen und Interpretationen ausgedrückt.

Ewige, unhinterfragte Wahrheiten

Wenn man auf den Koran Bezug nimmt, dann kann man die eine Seite oder eben auch die andere Seite hervorheben. Die Gegner des Islam werden, ebenso wie übrigens die Terroristen, für die der Koran das höchste Gut ist, für das sie kämpfen müssen, jene Stellen hervorheben, bei denen es um Kampf, Töten, das gewaltsame Verbreiten der Religion geht. Diejenigen hingegen, die inner- und auch außerhalb des Islam den Islam als eine respektable, anzuerkennende und zu respektierende Religion ansehen, werden eher die anderen Stellen des Koran zitieren.
Ich bin ein Mensch, der Respekt vor den Religionen hat. Deshalb würde ich der zweiten Interpretationsform zustimmen. Aber das ist eigentlich der Kern dieser komplexen und schwierigen Diskussion. Einerseits gibt es derart unterschiedliche Stellen, und andererseits gibt es keine Lehrmeinung, die sich stufenweise an die gesellschaftlichen Verhältnisse angepasst und die Kernsätze entsprechend interpretiert hat. Religion ist wahrscheinlich immer in einem gewissen Ausmaß konservativ. Und es wird in der Regel mit ewigen Wahrheiten operiert. Entscheidend ist allerdings die Frage, wie diese ewigen Wahrheiten interpretiert werden und in der jeweiligen Gesellschaft zum Ausdruck kommen.

Islamisch-christliche Tradition

Ingesamt war unser Besuch in Algerien trotzdem sehr wertvoll – nicht nur wegen unserer Erkenntnisse über die inneren Verhältnisse im Land, sondern auch gerade hinsichtlich des Verhältnisses von Christentum und Islam. Einer unserer Gesprächspartner hatte mit Recht darauf aufmerksam gemacht, dass es immer wieder Betrachtungen über die jüdisch-christliche Tradition gibt. Inzwischen, so teilte er uns mit, hat aber ein amerikanischer Autor auch ein Werk über die islamisch-christliche Tradition verfasst. Insbesondere in Zusammenhang mit der Geschichte Spaniens und Nordafrikas sowie des Osmanischen Reiches sind islamisch-christlichen Traditionen entstanden. Daher sollte man mit dem Begriff der jüdisch-christlichen Tradition äußerst sensibel umgehen. Es könnte der Eindruck entstehen, dass es nur diesen einen Strang gibt, der vom Islamischen völlig abgegrenzt ist.
Das spielt in erster Linie jenen rechtsorientierten radikalen Gruppierungen in Amerika, allen voran den Evangelen, in die Hände. Sie sehen vor diesem Hintergrund die rechten jüdischen Vertreter in Israel als ihre Brüder und Schwestern und erklären den Islam zum globalen Erzfeind. Eine derartige Feindschaft ist aus meiner Sicht äußerst problematisch und gefährlich – insbesondere dann, wenn sie von Amerika nach Israel und umgekehrt reicht und dadurch das Verhältnis zwischen Europa und der islamischen Welt extrem beeinträchtigt, stört und Perspektiven verbaut.

Algier, 20.2.2007