Das irländische Veto

Was hat die Iren dazu geführt, Nein zur Erweiterung der Europäischen Union zu sagen? 
Fast unbemerkt hat es in Irland in den vergangenen Wochen Diskussionen über die Zustimmung zum Vertrag von Nizza gegeben, da Irland als einziges Mitgliedsland der Europäischen Union eine Volksbefragung über den Vertrag von Nizza durchzuführen hatte.
Natürlich haben dabei wir alle mit einer mehr oder weniger starken Zustimmung gerechnet. Irland ist bisher nicht als anti-europäisch aufgefallen und hat vom europäischen Einigungsprozess auch sehr profitiert. Umso größer waren die Überraschung, die Enttäuschung und der Schock, als wir erfuhren, dass Irland mit Nein gestimmt hat.

Suche nach den Gründen

Ich selbst habe diese Nachricht gehört, als ich mich in Istanbul einige Stunden von meiner doch sehr anstrengenden Reise zu den Gefängnissen in der Türkei ausgeruht habe. Es war ein warmer Tag mit herrlichem Sonnenschein, aber für mich war die Stimmung mit einem Schlag betrübt. Was hat die Iren dazu geführt, Nein zur Erweiterung zu sagen? Haben sie Angst, nach der Erweiterung weniger Geld zu bekommen? War das Nein zu einem stärker integrierten Europa verbunden mit der Angst, auch militärisch engagiert zu werden? Oder war es ein Ja zu einer weiteren bzw. stärkeren Selbstständigkeit?
Wir wissen es nicht. Es gab natürlich in den Tagen nach diesem Votum ein grosses Rätselraten und heftige Diskussionen über die optimale Art der Reaktion seitens der EU. Die Haltung der Außenminister, die wenige Tage nach dem irischen Referendum getagt haben, schien mir jedenfalls inadäquat. Einfach zur Tagesordnung über zu gehen, ist zu wenig. Aber auch eine große Krise der Europäischen Union zu reklamieren, war übertrieben.

Missglücktes Nizza-Paket

Es gab viele, die sich eigentlich über das irische Veto freuten. Nicht so sehr, weil auch sie gegen die weitere Integration der Europäischen Union sind, sondern vielmehr Kritik am Vertrag von Nizza übten. Die meisten von ihnen haben allerdings den Vertrag von Nizza aus der entgegengesetzten Perspektive kritisiert. Mir scheint es etwas naiv zu sein, dass jene, die den Vertrag von Nizza deshalb kritisieren, weil er die Voraussetzung für mehr Integration und die Erweiterung mit jenen in ein Boot geworfen werden, die ihn deshalb kritisieren, weil er angesichts der Erweiterung zu wenig an Integration, Mehrheitsentscheidungen und Effizienz schafft. Das kann doch nicht mit einander verglichen werden!
Dennoch sieht man heute, eine Woche nach dem Referendum, keinen wirklichen Ausweg aus dieser Situation. Mit Recht wurde festgehalten, dass eine Neuverhandlung des Vertrages von Nizza nicht in Frage kommt, weil dadurch viele neue Wünsche entstehen würden. Das gesamte Paket, das ohnedies sehr schwierig zu schnüren war, wird nicht leichter geschnürt, nur weil sich die Regierungschefs jetzt noch einmal zusammensetzen. Im Gegenteil: Die Regierungschefs, die schon bei den letzten Malen ein eher dürftiges und jetzt in Nizza ein besonders mageres Ergebnis gebracht haben, werden wohl kaum gerade nach dem irischen Veto erleuchtet und gestärkt ein qualitativ hoch stehendes und effizientes Paket schnüren.

Ein Konvent muss her

Für mich ist es viel wichtiger, sich Gedanken über die Konkretisierung eines Konvents zu machen. Einen Konvent, zusammengesetzt aus Parlamentariern aus dem gesamten EU-Bereich und natürlich auch aus den Kandidatenländern, der in einen Dialog mit den vorhandenen Kräften und Interessierten in der Gesellschaft tritt und eine positive und sicherlich auch kontroverse Diskussion darüber in Gang setzt, wie wir zu einem gemeinsamen Europa kommen – und dabei muss man möglichst weite Schichten der Bevölkerung involvieren.
Ich hätte mir gewünscht, dass man diesen Prozess relativ bald in Gang setzen kann.
Aber nicht nur Gottes Mühlen, sondern auch die Mühlen der EU mahlen langsam. Und so wird es wahrscheinlich noch bis zum Gipfel von Laeken dauern, bis die Form und Struktur des Konvents wirklich klar definiert ist. In gewissem Sinn ist allerdings Eile geboten, will man den Erweiterungsprozess bis 2004 in seiner ersten Runde abschließen, aber parallel dazu eben auch die Nachgestaltung der Europäischen Union zu Ende bringen, damit der gemeinsame Ratifikationsprozess durch die Parlamente, der doch sehr sorgfältig durchgeführt werden muss, und – wenn notwendig – auch durch Volksabstimmung rechtzeitig zu Ende geführt werden kann.

Neue, alte Volksbefragungsdebatte

Natürlich ist nach dem irischen Referendum die alte Frage nach der Volksabstimmung zur EU-Erweiterung von neuem aufgetaucht. Nicht zuletzt die FPÖ hat wieder Anreize bekommen, neuerlich eine Volksbefragung zu verlangen. Und allmählich entspricht dies sogar der Mehrheit der Bevölkerung, die sich laut einer jüngsten Umfrage zwar mehrheitlich für eine EU-Erweiterung ausspricht, aber auch mehrheitlich für eine Volksbefragung.
Was dabei nicht wirklich durchdringt, ist die Argumentation, dass es doch nicht sein kann, dass diejenigen, die bereits das Recht auf Mitgliedschaft in der Europäischen Union erfüllt bekommen haben, ohne dass andere Bevölkerungen über eine Volksbefragung gefragt werden, jetzt für sich das Recht in Anspruch nehmen, über den weiteren Erweiterungsprozess abzustimmen, also für sich das Recht beanspruchen, über die Anderen ein Urteil zu fällen.

Politischer Verantwortung gerecht werden

All jene Länder, die für die erste Erweiterungsrunde vorgesehen sind und mit denen derzeit verhandelt wird, haben ein Recht darauf, in die Europäische Union zu kommen. Im Detail geht es sicher um Übergangsfristen und Sonderregeln, insbesondere für die Nachbarn wie Österreich.
Aber es ist die politische Verantwortung, diese Bedingungen so zu gestalten, dass sie einen vernünftigen Übergangsprozess in Gang setzen. Es kann also keinesfalls so sein, dass wir über die Erweiterungskandidaten abstimmen. Und es kann schon gar nicht so sein, dass das durch einzelne Referenden passiert. Aber selbst wenn alle in der Europäischen Union abstimmen würden, wäre das kein tauglicher Prozess, die Europäische Einigung zu gestalten.  
Brüssel, 26.6.2001