Das Märchen von den EU-Bürgern 2. Klasse

Wie will man die polnische Bevölkerung davon überzeugen, positiv für den EU-Beitritt zu stimmen, wenn man ihnen immer wieder sagt, sie würden eigentlich als Mitglieder zweiter Klasse behandelt? 
Vergangene Woche fand in Wien eine spannende Diskussion über den Beitritt Polens zur Europäischen Union statt. Die gemeinsam von der Diplomatischen Akademie, dem IDM – Institut für den Donauraum – sowie dem Renner-Institut organisierte Veranstaltung stieß auf reges Interesse.

Im Schmollwinkel?

Mit mir am Podium sassen Botschafterin Eva Nowotny aus dem Außenministerium, der Leiter des Europainstituts der Universität Krakau Zdzislaw Mach, den ich bei meinem letzten Aufenthalt in Krakau kennen gelernt habe und Herr Mazal, den ich bei einem interessanten Arbeitsmittagessen in Warschau getroffen habe. Die Diskussion verlief aus meiner Sicht ein wenig in die Richtung, dass Polen unfair behandelt wird und man stattdessen den Beitritt Polens in die Europäische Union eindeutig und ohne viel Federlass organisieren sollte.
Die jüngsten Vorschläge der Kommission zum Agrar- und Regionalfonds haben dazu geführt, dass Politiker nicht nur in Polen, sondern auch in anderen Ländern argumentieren, die Bürger würden durch einen Beitritt künftig als Bürger zweiter Klasse innerhalb der EU behandelt. Das ist extrem kontraproduktiv. Wie will man eine Bevölkerung davon überzeugen, positiv für ein Referendum über den Beitritt zur Europäischen Union zu stimmen, wenn man ihnen immer wieder vor Augen führt, sie würden eigentlich als Mitglieder zweiter Klasse behandelt?

Geänderte Rahmenbedingungen

Gewonnen hat diese Argumentation, nachdem die Europäische Kommission, meiner Meinung nach zu Recht, ein Finanzpaket vorgelegt hat, in dem die Agrar- und Strukturförderung für die zukünftigen Mitgliedsländer skizziert wird. Insbesondere bei der Agrarförderung wird davon ausgegangen, dass es Einschleifregelungen gibt, damit diese Länder langsam in die Union hineinwachsen. Dies wird sich zwischenzeitlich ändern müssen, denn sonst ist die Erweiterung nicht finanzierbar. Gleichzeitig muss man festhalten, dass im Verhältnis zur Einkommenssituation in diesen Ländern, insbesondere in Polen, die Förderung ohnedies recht hoch ist. Und dass die Förderung, die in den Ländern gegeben wird, insgesamt bis an die 4 % des Sozialprodukts heranreicht.
Wenn wir an die Marshallplanhilfe und andere Hilfestellungen, die innerhalb der Europäischen Union gegeben wurden, zurückdenken, so lagen diese manchmal deutlich unter 4 %. Mir scheint diese Zahl deshalb ein vernünftiges Obermaß zu sein, denn es ist sehr schwierig, die Möglichkeiten dafür zu schaffen, dass das Geld auch sinnvoll verwendet wird. Das heißt, dass die politische und wirtschaftliche Aufnahmekapazität dieser Länder noch nicht so weit ist, dass sie wirklich über die 4 % an finanziellen Mitteln verkraften und sinnvoll und rationell verarbeiten können.

Reibebaum

Die polnische Botschafterin in Österreich, Irena Lippowitz, die ich sehr schätze, hat in der anschliessenden Debatte gemeint, ich sei bei Diskussionen über den EU-Beitritt Polens ihr Lieblingskontrahent. Danach hat sie den offiziellen Standpunkt Polens wiedergegeben. Ich plädiere selbst immer für ein starkes selbstbewusstes Auftreten. Aber ein solches selbstbewusstes Auftreten sollte auch in die Richtung gehen, dass Polen sich überlegt, was es zur Stärkung der Europäischen Union und dieses Europas beitragen kann. Viel zu oft wird angemerkt: „Wir sind Europäer und haben europäische Identität. Also, was wollt ihr?“
Dass Europa eine neue gemeinsame Identität erschaffen muss, dass diese gemeinsame europäische Identität noch nicht gegeben ist bzw. dass sie ausgefeilt werden muss, scheint mir allerdings noch nicht wirklich durchgedrungen zu sein. Und Polen könnte in der Tat viel dazu beitragen, etwa durch die Erfahrungen des Verhältnisses zu Russland oder der Ukraine in Hinblick auf die neugestalteten Grenzen dieses neuen Europas.

Emanzipation von Amerika

Auf die Frage der Moderatorin, ob ich glaube, dass Polen ein Zugpferd der Amerikaner in der Europäischen Union sei, antwortete ich, dass ich zunehmend davon ausgehe, dass Polen sich nur mehr europäisch begreift und die Teilnahme der polnischen Vertreter sowie die der anderen Kandidaten am Konvent sicherlich auch dazu führen wird, dass Polen sich verstärkt europäisch engagieren wird. Wir wollen ja kein anti-amerikanisches Polen, genau so wenig wie wir ein anti-amerikanisches Europa wollen. Wir wollen allerdings ein selbstbewusstes, eigenständiges Europa, das ein Verbündeter der Vereinigten Staaten ist, aber kein abhängiger Satellit. 
Brüssel, 19.2.2002