Das neue Jugoslawien

Die Zeit der Diktatur ist vorbei. Jetzt müssen andere Methoden der Konfliktregelung oder zur Erlangung einer größeren Autonomie herangezogen werden. 
Soeben bin ich aus Belgrad zu einem Zwischenaufenthalt nach Wien zurückgekehrt, wo wir auf ein Flugzeug aus Bosnien, genauer aus Sarajevo, warten mussten, um nach Brüssel weiter zu fliegen. Und wie ich vermutet habe, ist Wolfgang Petritsch mit mehreren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern bei uns zugestiegen, um ebenfalls in die europäische Hauptstadt zu fliegen.

Bunt gemischt

In Belgrad haben wir zwei Tage lang Gespräche mit den neuen Parlamentariern des Bundesparlamentes geführt und hatten dabei spannende Diskussionen. Unsere Gesprächspartner waren nicht nur die Vertreter der jetzigen Regierungsparteien, also der früheren Opposition zu Milosevic, sondern auch Vertreter der Milosevic-Parteien selbst sowie Vertreter Montenegros. Allerdings handelte es sich um jene Montenegriner, die für die Beibehaltung des Staates Jugoslawien sind und zum Teil früher auch Anhänger von Milosevic waren. Genauso vielfältig wie unsere Gegenüber waren auch die Themen, die wir besprachen: der Bogen spannte sich von Montenegro über den Kosovo bis hin zur Medien- und Wirtschaftslage.
Am Beginn dieser Diskussionen allerdings waren Besuche außerhalb der parlamentarischen Ebene angesagt. Einerseits trafen wir uns mit dem Leiter des Belgradbüros der Europäischen Agentur für den Wiederaufbau und informierten uns über die Leistung dieser Agentur, die ursprünglich nur für den Kosovo vorgesehen war. Im Kosovo liegt nach wie vor der Hauptarbeitsbereich, aber inzwischen gibt es sowohl in Belgrad als auch im montenegrinischen Podgorica ein kleines Büro.

In der europäischen Agentur für den Wiederaufbau

Einmal mehr überzeugten wir uns, dass diese Agentur, wenn wir all den Zahlen und Berichten glauben dürfen, sehr gute Arbeit geleistet und bereits viele Zusagen, aber auch unzählige Finanzierungen vorgenommen hat. Die Fragen der Energieversorgung, der Infrastruktur bis zum vorgesehenen Neubau einer Brücke in Novisad, bilden nach wie vor die Schwerpunkte dieser Agentur. Ich glaube, dass wir schon in verschiedenen Fällen die Phase des Wiederaufbaus verlassen haben und in die Phase der Entwicklung eingetreten sind. Und diesbezüglich kann eine aus der EU-Verwaltung ausgelagerte Agentur viel rascher und flexibler agieren.

Kosovo-Chefkoordinator Covic

Das erste Gespräch mit einem serbischen Vertreter war jenes mit dem stellvertretenden Premierminister und Chefkoordinator für den Kosovo, Nebojsa Covic. Ich kenne ihn noch aus jener Zeit, als er Bürgermeister von Belgrad war. Zuerst stand er auf der Seite von Milosevic, wandte sich dann allerdings gegen ihn und musste schliesslich auch zurücktreten.
Covic versucht, mit Pragmatik, aber auch mit grosser Zielstrebigkeit die Probleme, die es mit der albanischen Bevölkerung in Jugoslawien gibt, zu lösen. Einerseits kam es zu einem klaren Abkommen mit Süd-Serbien, das von Jugoslawien wieder zurückgegeben worden ist. Die Jugoslawen haben sich zu einer Amnestie verpflichtet, die auch eingehalten worden ist. Und sie haben sich zu einem toleranten und friedlichen Vorgehen bei der Wiedereingliederung dieses Teils in Jugoslawien bzw. Serbien verpflichtet und auch diese Zusage eingehalten.

Gemeinsame Strategien

Derzeit ist Covic dabei, mit den gewählten Vertretern des neuen Parlaments im Kosovo eine gemeinsame Strategie für die Beteiligung der Serben an der Macht im Kosovo zu erzielen. Covic hat es bedauert, dass nicht alle an den Wahlen teilgenommen und im Kosovo sogar einige selbst ernannte Berufs-Serben einen Teil der Bevölkerung abgehalten haben, zur Wahl zu gehen. Das hat die Vertreter der Serben im Kosovo-Parlament und somit auch in der Regierung, die neu zu bilden ist, geschwächt.
Covic würde sich eine Koalition mit Rugova wünschen. Eine Koalition, an der die Serben auch entsprechendes Mitspracherecht haben. Für Rugova stellt sich allerdings nicht die Frage, ob er nur eine albanische Koalition eingehen soll oder auch eine Koalition mit den Serben. Das wäre zwar leichter und er käme nicht in den Verruf, nur mit Albanern zusammenzuarbeiten. Aber auch die Interessen der Serben entsprechend zu berücksichtigen, wird sehr schwierig sein.
Es wäre jedenfalls sicher zielführend, mit den entsprechenden serbischen Vertretern zu kooperieren. Ich kenne etliche von ihnen, einige haben wir auch kürzlich im Kosovo getroffen. Frau Trajkovic etwa ist zur Fraktionsvorsitzenden bestimmt worden, und Olivier Ivanovic soll im Präsidium des Parlaments die Serben vertreten.
Jedenfalls handelt es sich um Persönlichkeiten, denen ich genug Realismus und auch Pragmatismus zutraue, um zu einer entsprechenden Lösung der Konflikte im Kosovo beizutragen.

Kooperation mit Belgrad

Wir Europaparlamentarier sowie andere Vertreter der Europäischen Gemeinschaft, etwa die Botschafter, sind überzeugt, dass Covic die Sache sehr aktiv in die Hand nehmen und auch eine Koordination der serbischen Vertreter im Kosovo von Belgrad aus anstreben wird. Ich selbst bin in diesem Punkt pragmatisch und erkenne Serbien eine gewisse Schutzfunktion für die serbische Bevölkerung in Kosovo zu.
Gerade die Rückführung der Serben, die aus dem Kosovo geflohen sind, weil sie nach dem mit Hilfe des Westens errungenen Sieges der Kosovo-Albaner vertrieben wurden, ist keine Angelegenheit, die nur der Kosovo selbst erledigen bzw. die allein von den Serben im Kosovo selbst übernommen werden kann. Dabei braucht man die Mithilfe, die Unterstützung und die klare Entscheidungsfähigkeit der serbischen Regierung. Der Aufbau einer multiethnischen Gemeinschaft im Kosovo und letztendlich auch, wenn man das will, die Unabhängigkeit des Kosovo ist nur über Belgrad zu erreichen.
Die Kritik am Hohen Beauftragten im Kosovo, dem Dänen Hans Häkkerup, er würde gewissermaßen über die Köpfe der Albaner hinweg mit Belgrad verhandeln und Vereinbarungen treffen, würde ich so nicht teilen. Natürlich wäre es vernünftiger, die albanischen Vertreter würden das selbst tun, aber sie sind aus meiner Sicht nicht bereit, vielleicht auch noch nicht fähig dazu, da die ihnen von den „Serben“ zugefügten Wunden noch bluten. Es müsste allerdings genau in diese Richtung gehen.

Investitionen dringend gesucht

Der nächste Tagesordnungspunkt unseres Programmes war ein Treffen mit Ministerpräsident Djindjic, das allerdings nicht stattfinden konnte, da wenige Tage zuvor dessen Vater gestorben war. Djindjic hat deshalb seinen Vertreter Korac, einen mir bekannten Sozialdemokraten, gebeten, diesen Termin wahrzunehmen. Korac ist nicht nur Professor für Psychologie, sondern versteht es auch sehr gut, die positiven Seiten der serbischen Politik und Regierung zu vermitteln und zu vertreten. Wir sprachen über die Frage der Justizreform, die Kooperation mit den Nachbarländern und insbesondere die Armut in der Bevölkerung.
Es war insgesamt ein sehr angenehmes, lebendiges Gespräch, das zum einen die Wichtigkeit von Reformen im Lande, zum anderen aber auch die verschiedenen Widerstände gezeigt hat. Diese kommen nicht nur, aber auch von einem etwas zögerlichen Präsidenten. Die Unterschiede, die es mittlerweile zwischen der demokratischen Opposition und der Partei Kostunicas gegeben hat, erklären auch manche Reformblockaden.
Die wirtschaftliche Lage ist nach wie vor nicht sehr gut. Es werden dringend Investitionen benötigt. Erst kürzlich waren Djindjic und Korac in Deutschland, um in den früheren Bundesländern und in Berlin bei Bundeskanzler Schröder gemeinsam für Investitionen zu werben.

Verbale Ausrutscher

Djindjic hat bei dieser Gelegenheit in einem Interview mit der Süddeutschen Zeitung eine sehr unglückliche, um nicht zu sagen, dumme Erklärung abgegeben: Die Kosovo-Albaner hätten, wenn sie die Unabhängigkeit wollen, die Serben als Feinde und müssten in diesem Fall über die Adria nach Europa schwimmen. Derartige Fehlleistungen, die von Djindjic immer wieder zu hören sind, lassen leider nicht den optimalen Ministerpräsidenten in ihm erkennen. Das ist schade, denn ich sehe auch viel positive Zeichen an seiner Politik und er ist zweifellos eine überragende Persönlichkeit in Serbien.
Nach verschiedenen Gesprächen mit den Botschaftern haben wir schliesslich auch den Präsidenten der Volkskammer, Dragoljub Micunovic, getroffen. Micunovic ist ein Sozialdemokrat, der immer ein aufrechter und ehrlicher Kämpfer für die Demokratie und die Rechtsstaatlichkeit war. Es ist äusserst angenehm, mit ihm zusammenzutreffen, weil er eine sehr sympathische und offene Persönlichkeit ist.

Nur scheinbar geläutert

Die Gespräche mit den Parlamentariern waren entsprechend lebendig und lebhaft. Nicht, dass wir uns einigen konnten, die Parlamentarier selbst waren sich nicht einig. Aber so soll es in einer Demokratie ja sein. Jedenfalls mussten wir feststellen, dass die Vertreter jener Partei, die Mira Markovic, die Gattin von Milosevic, nach wie vor präsentiert, die sogenannte Sozialistische Partei Serbiens, keineswegs auf den Mund gefallen sind. Und sie sind nicht wirklich geläutert. Sie geben zwar manche Fehler zu, aber in ihren prinzipiellen Anschauungen, in ihrer Impertinenz in manchen Fragestellungen, in ihrer provokanten Forderung, der Westen hätte für alle Probleme, die es in Jugoslawien gibt, zu bezahlen, werden wir noch einiges zu hören bekommen.
Bei entsprechender wirtschaftlicher Problematik, bei anhaltender Arbeitslosigkeit, etc. schließe ich nicht aus, dass diese Kräfte wieder Gewinne verbuchen. Es bleibt zu hoffen, dass dies innerhalb des demokratischen Rahmens passiert. Allerdings wissen wir, dass die Grenzen in diesem Zusammenhang fließend sind. Wenn undemokratisch denkende und handelnde Menschen in einer Demokratie die Macht übernehmen, dann können sie etliches am System ändern. Was an Änderungen im Rahmen einer gefestigten parlamentarischen Demokratie möglich ist, sehen wir sogar in Österreich. Und was in Jugoslawien möglich wäre, kann man sich entsprechend vorstellen… Wir hoffen jedenfalls, dass es nicht dazu kommt.

Im ethnografischen Museum

Die Vorsitzende unserer Delegation, Doris Pack, hat mit Recht darauf gedrängt, dass wir auch ein kulturelles Programm einplanen, wenn wir Besuche in unsere Partnerländer durchführen. Zwar plädiert sie eher dafür, die moderne Kunst und weniger die traditionelle Kultur zu präsentieren, jedoch ist ihr dieses Vorhaben noch nicht ganz gelungen.
Denn wir besuchten das ethnografische Museum und sahen dort verschiedene, allerdings sehr gut präsentierte, Trachten, Kostüme, Einrichtungsgegenstände, wirtschaftliche Instrumente der Landwirtschaft, der Fischerei, etc. Es war durchaus interessant, diese Exponate zu besichtigen. Und es war interessant zu sehen, dass alle Dinge als Serbische präsentiert worden sind. Mich hätte allerdings auch der eigentliche Ursprung – ob österreichisch, griechisch, türkisch oder ungarisch – interessiert.
Nach einer Tafel, die uns ein Museumsführer in diesem Zusammenhang gezeigt hat, hat überall eine türkisch-serbische Besiedlung stattgefunden. Das war zumindest unvollständig, denn genau so hätte man eine Tafel für die Bosnier, die Albaner, Kroaten oder die Ungarn aufstellen können. Dann hätte man festgestellt, dass die Überlagerung zwischen den verschiedenen Bevölkerungen in unzähligen Bereichen sehr groß war. Was hier ursprünglich gewesen ist, ist nicht immer leicht nachzuvollziehen. Und es ist auch nicht besonders relevant, denn die Geschichte in dieser Region ist eine, bei der sich verschiedene Elemente wie ethnische Gruppen, Religionen, etc. überlagern. Und damit werden neue Fakten geschaffen, die man nicht einfach wieder rückgängig machen kann.

Kulturelle Ansprüche Serbiens

Nach dem Rundgang durch das Museum genossen wir musikalische Darbietungen, zum Teil von hervorragender Qualität. Serbische Lieder – gesungen, getanzt, gespielt und teilweise modern interpretiert und präsentiert.
Besonders viele der vorgetragenen serbischen Lieder stammten aus den ehemaligen jugoslawischen Gebieten, die jetzt zu Kroatien gehören. Auch viele serbische Lieder aus dem Kosovo waren darunter.
In diesem Fall ist ganz offensichtlich die Ideologie mitgeschwungen: Man wollte demonstrieren, dass der Kosovo zu grossen Teilen serbisches Gebiet ist. Und dass die Serben auch entsprechende, zumindest kulturelle Ansprüche in Kroatien und anderen Gebieten haben. Der Tendenz, den Serben auch in jenen Teilen, die heute nicht mehr zu Serbien gehören, eine entsprechende Stellung zu geben, wurde damit Rechnung getragen. So lange das nur auf dem kulturellen Gebiet verfolgt wird, ist es durchaus akzeptabel. Schlimm wird es dann, wenn daraus politische Gebietsansprüche erhoben werden, wie das auch immer wieder vorgekommen ist.

Streitfrage Montenegro

Am Abend und auch am nächsten Tag ging es bei unseren Gesprächen mit den Parlamentariern vor allem um die Frage Montenegro. Auch aus meiner Sicht gibt es keinen realen und vor allem keinen objektiven, nachvollziehbaren Grund, Montenegro aus dem gemeinsamen Staatenverband mit Jugoslawien auszuscheiden. Aber es gibt aussagekräftige Vorwände. Montenegro ist von Djukanovic, dem gewählten Präsidenten, beherrscht. Diesem wird nachgesagt, er sei mit seinem Clan in verschiedenen Schmuggelgeschäften, insbesondere im Zigarettenschmuggel, tätig ist. Und die Informationen, die ich bekommen habe, bestätigen diese Gerüchte.
Montenegro ist ausserdem gespalten. Die eine Hälfte plädiert für die Unabhängigkeit, die andere Hälfte dagegen. Insbesondere deshalb, weil die Bande mit Serbien sehr eng sind. Viele Menschen, die heute in Serbien leben, wurden in Montenegro geboren und sehen es auch als ihre Heimat.

Bestehendes soll nicht zerstört werden

Ich persönlich erachte es nicht als sinnvoll, ein Land aus einem Staatenverband herauszutrennen, der heute keinen Anlass für Kritik gibt. Montenegro ist weit überproportional zu seiner Größe vertreten. Und der Präsident Montenegros ist eben nicht der Staatspräsident, sondern nur der Präsident eines Teilstaates! Aber das ist ja nicht unbedingt der Grund, warum bestehende Staaten zerstört werden sollten. Ich hatte dafür Verständnis, als Milosevic geherrscht hat. Aber die Zeit der Diktatur ist vorbei. Jetzt gibt es eine Demokratie. Und in einer Demokratie müssen andere Methoden der Konfliktregelung oder zur Erlangung einer größeren Autonomie herangezogen werden.

Nicht mit dem Kosovo zu vergleichen

Ich bin mit meiner Haltung durchaus auf viel Verständnis gestoßen. Es waren zugegebenermassen jene Vertreter anwesend, die für das gemeinsame Jugoslawien sind – unabhängig von ihrer politischen Anschauung. Ich habe in meinen Ausführungen auch immer wieder betont, dass Montenegro nicht mit dem Kosovo zu vergleichen ist. Denn das, was Milosevic dem Kosovo angetan hat, seine Kämpfe und seine Grausamkeiten gegenüber den Kosovo-Albanern, ist nicht zu vergleichen mit der Haltung gegenüber Montenegro.
Trotz ähnlicher ethnischer und sprachlicher Strukturen ist der Kosovo also ein gänzlich anderer Fall als Montenegro – wenngleich die Serben Montenegro wahrscheinlich leichter gehen lassen als den Kosovo. Der Kosovo wird als Wiege des Serbentums gesehen. Es gibt hier ja auch unzählige Klöster, leider wurden viele davon von albanischen Fundamentalisten zerstört. Es zeigt aber, wie verworren und schwierig die Lage ist. Und ich glaube, dass man auch von jugoslawischer Seite den Kosovo nicht mit Serbien vergleichen sollte.

Reformunfreudiger Kostunica

Zum Abschluss unseres Aufenthaltes trafen wir, bereits auf dem Weg zum Flughafen, Präsident Kostunica, der erst in den vergangenen Tagen in Brüssel gewesen ist. Die Rolle Kostunicas ist immer wieder eine zurückhaltende, wenn es um Reformen geht. Auf die direkte Frage meines Kollegen Vojcic aus Iatlien, der lange Zeit Korrespondent in Belgrad, Wien und Moskau gewesen ist, ob Kostunica etwas zu den Differenzen zwischen ihm und Djindjic, dem Ministerpräsidenten Serbiens, sagen könnte, meinte dieser durchaus offen: „Das sind parteipolitische Differenzen. Djindjic ist für mehr Reformen, unabhängig von der Idealstruktur. Ich lege mehr Gewicht auf die Legalität, auf die Einhaltung der Gesetze und nicht unbedingt auf Reformen um der Reformen willen.“
Ob das so richtig ausgedrückt ist, sei dahingestellt. Aber Kostunica hat – wahrscheinlich zum ersten Mal – ziemlich deutlich zugegeben, dass er bei Reformen sehr zurückhaltend ist und Schritt für Schritt vorgehen möchte. Und er daher, wenn man so will, im gewissen Sinn auch ein Bremser ist. Dennoch überzeugt Kostunica durch seine ruhige, besonnene, durchaus bescheidene Art als Person. Und vielleicht ist es auch richtig, dass es Verantwortliche gibt, die ein bisschen auf der Bremse stehen.

Zusammenarbeit mit Den Haag

Trotzdem sind manche inneren Reformen ganz einfach notwendig, ebenso wie die Zusammenarbeit mit dem Gerichtshof in Den Haag. Kostunica versprach wieder einmal, dass es bald zu einem Gesetz über die Zusammenarbeit kommen wird. Er meinte, er könne die Abgeordneten der Montenegriner, die sich gegen dieses Gesetz ausgesprochen haben, bewegen, dafür zu stimmen.
Es wird kolportiert, dass viele Generäle Montenegriner sind und es aus diesen Gründen zu einer entsprechend negativen Haltung gekommen ist. Vielleicht will Kostunica diese nach seinen Gesprächen mit Solana und uns durch das Argument überzeugen, dass die Europäische Union ihnen helfen wird, bei Jugoslawien zu bleiben, so dass sie durchaus für das Gesetz stimmen könnten.

Überheblichkeit, Selbstwertgefühl und Minderwertigkeitskomplexe

Nach dem Gespräch mit Präsident Kostunica verließen wir Jugoslawien. Es war wie immer ein spannender und interessanter Aufenthalt mit vielen Gesprächen. Und ich habe viel vom Land gesehen. Am ersten Tag habe ich mit dem Abgeordneten Voicic in einem bekannten Restaurant zu Abend gegessen. Wir wurden gut bedient und befanden uns in angenehmer Gesellschaft. Ich hätte in diesen Momenten fast nicht geglaubt, dass ich mich in einem der ärmsten Länder Europas befinde. Ja, Serbien ist auch kultiviert, offen, sympathisch.
Und dennoch bin ich überzeugt, dass Serbien an sich arbeiten muss, um, auch im Inneren, wirklich pro-europäisch zu werden. Es muss ausserdem diese zum Teil jammernde Haltung ablegen, immer benachteiligt zu sein. Bei vielen Serben zeigt sich, dass Überheblichkeit, Selbstwertgefühl und Minderwertigkeitskomplexe sehr eng beieinander liegen. Als ich das in einem Gespräch mit einem offenbar serbischen Parlamentarier aus Montenegro, der mir sympathisch war und mich in vielen Diskussionen unterstützt hat, angedeutet habe, meinte dieser etwas konsterniert: Das kann doch nicht sein. Er wisse ganz genau, dass sehr viele Serben in ein EU-Land emigrieren, dort wohnen und arbeiten und keinesfalls negativ auffallen.

Nationalismus und übersteigerten Patriotismus abbauen

In der Tat: In dem Haus, in dem ich lebe, ist ein hervorragender und hilfsbereiter Serbe Hausbesorger. Er und viele andere Serben leben in unserem Land und sind sehr konstruktiv an der wirtschaftlichen Entwicklung beteiligt. Ich versuchte deshalb klar zu machen, dass ist nicht irgendeine generelle negative serbische Eigenschaft gemeint habe, sondern es sich aus meiner Sicht um eine kleine Elite, bis tief in die Akademie der Wissenschaft hinein, handelt, die diesen serbischen Nationalismus, diesen übersteigerten Patriotismus und diese überhöhte Selbstüberschätzung zum Ausdruck bringt. Und das gilt es, abzubauen.
Es gibt in jeder Bevölkerung Menschen, die, wenn sie entsprechend angeheizt und motiviert werden, um es neutral zu sagen, auch bereit für alle möglichen Dummheiten und Grausamkeiten sind. Das war in Deutschland so. Das war in Österreich so. Das war bei den Franzosen in Algerien so. Das war bei den Engländern so. Das war bei den Portugiesen so. Und das ist letztendlich wohl immer so. Daher geht es nicht darum, die Bevölkerung auszutauschen. Vielmehr müssen die Eliten eines Landes daran gewöhnt werden, dass wir heute in Europa nicht mit Hass, Minderwertigkeitskomplexen und Überheblichkeit agieren können, sondern versuchen sollten, mit dem entsprechenden Selbstwertgefühl, aber mit der Bereitschaft zu Kompromissen und Verhandlungen an die Dinge heranzugehen. Genau das ist das Entscheidende, um ein gemeinsames Europa aufzubauen. Und dieses gemeinsame Europa muss auch den Balkan – und zwar alle Staaten des Balkans – umfassen.  
Wien, 4.12.2002