Das Sein bestimmt das Bewusstsein

Der Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, erhielt für die Leistungen der UNO – vor allem auch in Erinnerung an den UNO-Sonderbeauftragten für den Irak, Annans Stellvertreter Sergio Vieira de Mello, den „Sacharow Preis“ des Europäischen Parlaments.
Heute mittag wurde dem Generalsekretär der UNO, Kofi Annan, der „Sacharow Preis“ des Europäischen Parlaments verliehen. Er wurde ihm für die Leistungen der UNO – vor allem auch in Erinnerung an den UNO-Sonderbeauftragten für den Irak, Annans Stellvertreter Sergio Vieira de Mello, überreicht. Als wir über die Vergabe des Preises abstimmten, hatten viele von uns auch die UNO-Waffeninspektoren im Kopf, und so wollten wir generell der UNO und dem internationalen Recht, die beide von den USA mit Füßen getreten wurden, unsere Referenz erweisen.
Wenige Stunden vor der Vergabe des Preises diskutierten wir einen Bericht aus dem außenpolitischen Ausschuss, in dem unter anderem Vorschläge für die Reform der UNO gemacht wurden, die nicht zuletzt von mir eingebracht und vom Berichterstatter, einem Kollegen der EVP Fraktion, angenommen wurden.

Die europäischen Gesellschaften brauchen Zuwanderer

Gespannt warteten wir auf die Rede von Kofi Annan. Wir waren alle ein wenig überrascht, dass sich der Generalsekretär der UNO im wesentlichen mit einer Frage beschäftigte: den globalen Wanderungsströmen. Die rechte Seite des Hauses war besonders enttäuscht und ihr Applaus fiel sehr mäßig aus, die Grünen waren über die Maßen begeistert und bei den Linken gab es deutliche Zustimmung.
Kofi Annan plädierte in seiner Rede, deren Kernaussaugen gleichzeitig in vielen Medien publiziert wurden, für ein Europa, das bereit sein müsse, Einwanderer aufzunehmen, sie in die Gesellschaft zu integrieren und im Interesse der eigenen Zukunft einzusetzen. Ausgangspunkt war die demographische Situation: „Es steht außer Zweifel, dass die europäischen Gesellschaften Zuwanderer brauchen. Die Europäer leben länger und haben weniger Kinder. Ohne Einwanderung wird die Bevölkerung der demnächst 25 Mitgliedstaaten der EU von heute 450 Millionen auf weniger als 400 Millionen im Jahr 2050 zurückgehen.“
Zweifellos, so Annan, könne und müsse die illegale Zuwanderung bekämpft werden, aber je weniger legale Kanäle offen gehalten würden, desto stärker würde der Druck auf die illegalen Zuwanderung sein: „Es überrascht nicht, dass viele dieser Menschen Europa als ein Land der Möglichkeiten sehen, in dem sie ein neues Leben beginnen wollen – genauso wie einst die Möglichkeiten der Neuen Welt Millionen verarmter, aber wagemutiger Europäer angezogen haben.“

Ein offenes Europa ist ein starkes Europa

Ganz unbestritten sprach hier ein Staatsmann, der die Dinge aus einer globalen Perspektive sieht und überdies von einem armen Auswanderungskontinent stammt. Und dieses Sein bestimmt nun mal das Bewusstsein.
Ich habe Kofi Annans Rede jedenfalls als eine Mahnung betrachtet, offensiv und positiv an die Frage der Migration und der Integration heranzugehen. Und ich habe darin keine Aufforderung gesehen, die Türen unserer Grenzen einfach aufzumachen und jeden hereinzulassen. Denn das Maß der Zuwanderung muss von den Möglichkeiten der Integration bestimmt werden. Und alle, auch die zuletzt Zugewanderten, müssen das Gefühl haben, dass die Zuwanderung nicht unkontrolliert vor sich geht.
Nur dann stimmt die Schlusspassage von Kofi Annans Beitrag: „Ein Europa, das seine Türen verschließt, wäre ein schäbigeres, ärmeres, schwächeres, älteres Europa. Ein offenes Europa wird ein faires, reicheres, stärkeres, jüngeres Europa sein – vorausgesetzt, dass Europa die Einwanderung gut gestaltet.“
Brüssel, 29.1.2004