Das sozialdemokratische Jahrhundert ist angebrochen

Wir müssen Europa neu denken und neu starten, um einen Ausweg aus der zu stark von neoliberalistischen Strömungen beeinflussten Wirtschaftspolitik zu finden.
Ein weiterer Schwerpunkt, der uns in dieser vergangenen Woche in Brüssel beschäftigt hat, ist jenes Sanierungspaket, das von der EURO-Gruppe gemeinsam mit dem britischen Premierminister Gordon Brown beschlossen wurde und das auch Gegenstand der Beratungen des EU-Gipfels sein wird. Wir werden dazu nächste Woche bei unserer Plenarsitzung des Europäischen Parlaments Stellung nehmen.

Ende des Neoliberalismus

Wir führten dazu in der Fraktion eine sehr vehemente, zum Teil kontroversielle Diskussion. Wir wollten und sollten uns im Prinzip nicht gegen dieses Paket wehren – auch wenn es Kritik gegeben hat. Im Vordergrund der Auseinandersetzung stand aber doch die Frage, wie die Sozialdemokratie auf dieses Paket reagieren soll. Angesichts der aktuellen Situation muss man letztendlich feststellen, dass das neoliberale Modell gescheitert ist. Leider kann die Sozialdemokratie – zumindest kurzfristig – nicht so viel daraus machen, wie sie will und wie es eigentlich naheliegen würde.
Selbst die Konservativen wie auch viele konservative Leitartikler sind binnen kürzester Zeit von einer Apologie für den Neoliberalismus auf eine Kritik des Neoliberalismus umgeschwungen. Die von mir mehr oder weniger täglich gelesene Frankfurter Allgemeine Zeitung ist – zumindest im Feuilleton, aber nicht nur dort – ein gutes Beispiel für massive Kritik an den Entwicklungen der letzten Wochen. Das Lob, das der neue Nobelpreisträger Paul Krugman dort erhält, wäre wahrscheinlich vor einem halben Jahr oder einem Jahr undenkbar gewesen.

Europa neu denken, Europa neu starten

Diese Medienöffentlichkeit macht es der Sozialdemokratie schwer zu argumentieren: „Wir haben es Euch immer gesagt! Aber nicht, weil wir Recht haben wollten, viele von uns waren ohnedies unsicher geworden, was die Frage der Regulierung betrifft, sondern weil wir signalisieren wollten, welche Bedeutung sozialdemokratische Auffassung von Wirtschaft und Gesellschaft hat.“ Trotzdem: Wir müssen uns in dieser Hinsicht entsprechend artikulieren.
Ralf Dahrendorf hat behauptet: Das sozialdemokratische Jahrhundert ist vorbei – und vielleicht war das auf nationaler Ebene in vielen Länder so. Wenn man allerdings heute die Entwicklungen beobachtet, muss man feststellen: Mit dem Ende des Neoliberalismus ist ein neues sozialdemokratische Jahrhundert angebrochen. Das geschickt aufzugreifen, ohne Triumphalismus, aber doch mit einer klaren Orientierung, erscheint mir im Zusammenhang mit der Neuordnung der europäischen Politik notwendig. Ich glaube, dass man sogar mit Recht fordern kann, dieses Europa neu zu denken und neu zu starten, um einen Ausweg aus dieser zu stark von neoliberalistischen Strömungen beeinflussten Wirtschaftspolitik zu finden.

Finanzdienstleistungen haben sich verselbständigt

Es ist ja gar nicht so, dass in der EU immer alles nur auf den Markt hinausgelaufen ist. Nein, wir haben eine Reihe von Regelungen getroffen – im ökologischen, aber auch in anderen Bereichen. Die Grundeinstellung in etlichen Bereichen und vor allem die Grundtendenz mancher Kommissare waren allerdings trotzdem sehr neoliberal geprägt. Das gilt insbesondere für das Verhältnis von Finanzdienstleistungen zur Realwirtschaft.
Aus meiner Sicht haben sich im Laufe der Jahre die Finanzdienstleistungen letztendlich auch in Europa verselbstständigt – auch wenn diese Entwicklung ihren Ursprung in den USA hat. Sie waren nicht mehr Service, also Dienstleistung, für die Realwirtschaft. Vielmehr wurden die Gewinne aus der Realwirtschaft zum Teil in Finanzdienstleistungen investiert, weil dort mehr zu holen war, anstatt durch Finanzdienstleistungen die reale Investitionstätigkeit zu fördern. Geld ist von der Schaffung von Arbeitsplätzen in der realen Wirtschaft in die Spekulationen des Finanzdienstleistungssektors gegangen. Zweifellos wurden dort auch einige Arbeitsplätze geschaffen, aber vor allem wenig reale Werte.

Konsequenzen auf die Realwirtschaft

Diese Entwicklung muss wieder umgekehrt werden. Die Konzentration muss wieder auf die Realwirtschaft, auf reale Werte, Güter, Dienstleistungen, Infrastruktur etc. gelegt werden – und zwar mit der Konsequenz der Schaffung neuer Arbeitsplätze. Dienstleistungen müssen diesem Zweck dienen und nicht einigen wenigen Spekulanten. Diese klare Aussage gilt es jetzt aus meiner Sicht zu treffen. Wir müssen vermitteln, dass leider nicht nur die Banken zusammenbrechen und – hoffentlich – einigermaßen abgestützt werden, sondern dass dies in der Folge Konsequenzen auf die Realwirtschaft hat und wir deshalb große konjunkturpolitische Anstrengungen unternehmen müssen, um zumindest die Abschwächung möglichst gering zu halten.
Wenn sich die Finanzdienstleistungen verselbstständigen und schließlich zusammenbrechen, dann hat das ohne jeden Zweifel Konsequenzen für die Realwirtschaft. Das Verhältnis zwischen Realwirtschaft und Finanzdienstleistung hat nicht mehr gestimmt. Die Wirtschaft wieder mit Liquidität und Vertrauen zu versorgen, ist jetzt das größte Problem. Man kann nur hoffen, dass die bereits geschnürten Pakete dabei helfen.

Klimapaket darf nicht unter die Räder kommen

Eine andere Konsequenz der aktuellen Finanzkrise könnte sein, dass unsere klimapolitischen Anstrengungen bzw. das Klimapaket der EU unter die Räder kommt. Man argumentiert bereits, dass dafür jetzt keine Zeit sei, Arbeitsplätze gingen verloren, man müsse sich jetzt in erster Linie darum kümmern. Natürlich hat der EU-Kommissionspräsident Recht, wenn er solche Aussagen trifft.
Allerdings ist es gerade jetzt wichtig, dass wir uns in einer Form um die Klimapolitik kümmern, die Wettbewerbsverzerrungen verhindert und dass die Entscheidungen zu Investitionen gerade jetzt positiv beeinflusst werden – und zwar Entscheidungen für Investitionen in Europa und nicht in anderen Regionen unter Ausnützung billigerer Arbeitskräfte und verstärkter Möglichkeiten, die Umwelt zu verschmutzen. Hier muss mit großer Sensibilität vorgegangen werden.

Herausforderungen

Ich bin absolut dafür, das Klimapaket weiterhin zu verfolgen. Aber ebenso bin ich dafür klar festzustellen, dass es inakzeptabel ist, dass insbesondere in den energieintensiven Bereichen, wo es zu beträchtlichen Verteuerungen kommt, es zum sogenannten carbon-leakage-Problem kommt – also der Abwanderung von Betrieben mit ihren Arbeitsplätzen und mit ihrer Umweltbelastung.
Diese Fragen werden uns in den nächsten Wochen intensiv beschäftigen. Es gilt zu beantworten, wie wir beides erreichen können: Auf der einen Seite eine verstärkte konjunkturelle Stützung herbeizuführen und auf der anderen Seite einen vernünftigen, ökologischen Weg in der Klimapolitik zu gehen. Es gilt, die Klimaveränderungen nachhaltig zu bekämpfen, ohne dabei unsere Arbeitsplätze zu gefährden.

Brüssel, 15.10.2008