Das soziale Europa

Die Europäische Kommission hat zwei Papiere vorgelegt, die sich am Rande mit der Verfassung beschäftigen: eine Agenda für die Zukunft Europas und eine Citizens Agenda.
Wir haben uns in dieser Woche auch mit der Verfassung beschäftigt, unter anderem im Rahmen einer großen Konferenz von nationalen Parlamentariern und des Europaparlaments, an der für einen Nachmittag auch Kommissionspräsident Barroso und Ratspräsident Schüssel teilgenommen haben.

Schulterschluss

Es war interessant zu sehen, dass die Verfassung nach wie vor große Unterstützung hat. Es gab natürlich auch kritische Stimmen. Für mich war bei dieser Tagung aber ausschlaggebend, dass wir gemeinsam mit den nationalen ParlamentarierInnen überlegt haben, wie wir Europa vorwärts bringen können. Dass diese manchmal skeptischer sind und langsamer vorgehen wollen, als die Mehrheit im Europäischen Parlament, ist verständlich. Das bringen schon die jeweils unterschiedlichen Funktionen mit sich.
Wir müssen allerdings auch unsere nationalen ParlamentarierInnen dafür gewinnen, für Europa zu kämpfen und einzustehen. Und das werden sie nur tun, wenn sie sich als Teil des Europäisierungsprozesses verstehen können. Wenn uns das nicht gelingt, werden wir Europa nie in dem Ausmaß vermitteln können, wie wir das tun müssen. Und dann wird nicht nur diese Verfassung scheitern, sondern es werden auch viele andere wichtige Reformen scheitern.

Agenda für die Zukunft Europas

Die Europäische Kommission hat diese Woche zwei Papiere vorgelegt, die sich am Rande mit der Verfassung beschäftigen: eine Agenda für die Zukunft Europas und eine Citizens Agenda, also eine Bürgeragenda. Diese Papiere sind allerdings aus meiner Sicht schwach. Zwar versucht die Kommission richtigerweise zu argumentieren, dass die Arbeit auch ohne Verfassung weitergehen muss. Sie führt in diesem Zusammenhang einige Gebiete an, wie man die Einstellungen, Bedürfnisse und Interessen der BürgerInnen stärker betonen und berücksichtigen kann. Das ist richtig und gut.
Mir fehlt allerdings ein klares Bekenntnis zu notwendigen institutionellen Reformen, um auch für die BürgerInnen entsprechend aktiv zu sein. Gerade die Energiepolitik ist ein solches Beispiel das belegt, dass Änderungen notwendig sind. Ich bin auch durchaus mit dem Prinzip der Subsidiarität einverstanden, das jetzt wieder in den Vordergrund rückt. Ich finde es richtig immer wieder zu überprüfen, ob eine Regelung auf der europäischen Ebene getroffen werden soll oder ob sie nicht viel besser auf der nationalen oder regionalen Ebene gehandhabt werden könnte. Das darf allerdings nicht dazu führen, dass gar keine Maßnahmen getroffen werden. In manchen Bereichen muss man einsehen, dass eine stärkere Gemeinsamkeit zu verfolgen wäre.

Rechte Antieuropäer

Ich ziehe nochmals die Energiepolitik als Beispiel heran. Immer wieder argumentieren etwa polnische Vertreter aus dem rechten Lager, die extrem europakritisch sind, dass es nicht sein kann, dass Deutschland mit Russland eine Vereinbarung schließt und die anderen ausgeschlossen sind – hier brauche es mehr Gemeinsamkeit. Das ist aber reine Rosinenklauberei. Man kann sich nicht nur das herauspicken, was einem selbst Vorteile bringt und in vielen anderen Punkten absolut gegen Europa argumentieren.
Für mich ist es höchst eigenartig, dass kein amerikanischer Vertreter fordert, die USA solle nicht so viele Kompetenzen und Möglichkeiten haben, man solle sich stattdessen an Europa und anderen orientieren. Und in Europa wird gerade von der Rechten – und damit meine ich tatsächlich die Rechte und nicht die politische Mitte – immer wieder gefordert, man solle sich mehr an Amerika orientieren und keine eigenständige europäische Politik betreiben. Genau dieses Verhalten schwächt uns. Viele europäische PolitikerInnen handeln extrem antieuropäisch und in diesem Zusammenhang unpatriotisch und orientieren sich, vor allem auch außenpolitisch, in einem Ausmaß an Amerika, das weder sinnvoll noch in irgendeiner Form gerechtfertigt ist. Bei allem Verständnis gegenüber der Geschichte mancher Länder, die in Amerika jenen Faktor sehen, der am meisten zu ihrer Befreiung beigetragen hat, ist ein solches Verhalten nicht akzeptabel.

Der soziale Aspekt

Ich fragte bei der erwähnten Konferenz den Bundeskanzler in seiner Funktion als Ratspräsident, ob er bereit sei, in der zukünftigen Debatte über Europa auch die sozialen Aspekte, nicht zuletzt in Zusammenhang mit der Verfassung, in den Vordergrund zu rücken. Ob er also das umsetzen wird, was wir als europäisches Lebensmodell bzw. europäisches Wirtschafts- und Sozialmodell betrachten. Er antwortete, dass er selbstverständlich immer für das europäische Lebensmodell eingetreten ist und betonte, dass dieses für ihn auch das Soziale beinhaltet.
Für uns SozialdemokratInnen hat die soziale Dimension allerdings einen viel größeren und zentraleren Stellenwert. Auf konservativer Seite – etwa bei Schüssel, Juncker und anderen – gibt es zwar die Betonung des Sozialen, aber letztendlich steht wenig dahinter. Es sei denn, sie werden gezwungen, verstärkt in diese Richtung zu arbeiten, wie das beispielsweise bei der Dienstleistungsrichtlinie der Fall gewesen ist. Wir müssen deshalb äußerst wachsam sein, dass der Begriff und die Formel vom europäischen Lebensmodell, zu dem das Soziale dazu gehört, nicht die Vorstellung davon verdrängt, was Europa auf sozialer Ebene konkret in Angriff nehmen soll.

Konkrete Schritte

Im vorgelegten Kommissionspapier finden sich dazu durchaus einige Ansätze. Die sozialen Rechte der BürgerInnen sollen demnach gestärkt werden. Diese Frage wird uns noch sehr intensiv beschäftigen. Hier entsprechende Schritte zu erzielen, insbesondere innerhalb der sozialistischen Familie, wäre sehr wichtig. Ich habe beim Abendessen der sozialdemokratischen ParlamentarierInnen am Rande der Konferenz, bei dem ich unseren Fraktionsvorsitzenden Martin Schulz vertreten habe, festgehalten, dass wir vor allem in den kommenden Monaten und auch unter finnischer Präsidentschaft an der Frage des sozialen Europas und der diesbezüglichen Verantwortung der Europäischen Union arbeiten sollten.
Paavo Lipponen, der finnische Parlamentspräsident, den ich seit langem sehr gut kenne und äußerst schätze, hat diese Idee aufgegriffen. Es wird sich zeigen, ob und was wir davon in unmittelbarer Zukunft umsetzen werden können.

Brüssel, 11.5.2006