David gegen Goliath

In einer Entschließung hat das Europäische Parlament seine Vorschläge für die bevorstehende Regierungskonferenz festgehalten. 
Die Debatten bei der dieswöchigen Plenarsitzung konzentrierten sich, vor allem in der Fraktion, auf eine Entschließung des Europäischen Parlaments und der darin aufgelisteten Vorschläge zur Regierungskonferenz. Für mich ging es in Strassburg natürlich auch um andere Themen, beispielsweise um eine Reihe außenpolitischer Fragen, zu denen ich auch im Plenum des Parlaments gesprochen habe und die im Anhang dieser „Briefe aus Europa“ bzw. auf meiner Homepage nachgelesen werden können.

Regierungskonferenz

Die Debatten in der Fraktion haben sich aber, wie gesagt, auf die verschiedenen Positionen der einzelnen Mitglieder – zum Teil strukturiert nach Mitgliedern aus großen und kleinen Ländern – zur Regierungskonferenz konzentriert. Die Regierungskonferenz hat im Grundsatz die Aufgabe, die zukünftige Struktur der Europäischen Union festzulegen, die die Union befähigt, neue Mitglieder aufzunehmen, die also die Union darauf vorbereitet, sich selbst durch die Aufnahme neuer Mitglieder zu erweitern.
Ein erster Schwerpunkt der eingangs angesprochenen Entschließung bezieht sich auf die Anzahl der Mitglieder des Europäischen Parlaments. Bisher ist eine Höchstgrenze von 700 Abgeordneten vorgesehen gewesen. Das Parlament hat sich mit Recht dazu bekannt, diese Obergrenze beizubehalten, damit es nicht zu völlig unüberschaubaren und unkontrollierbaren Verhältnissen kommt – denn die Arbeitsfähigkeit des Parlaments muss unter allen Umständen beibehalten werden.
In seiner Entschließung hat das Parlament deshalb zum Ausdruck gebracht, dass es bereits für die Wahlperiode 2004-2009 zu einer Anpassung der Sitze pro Mitgliedsstaat kommen soll, sodass bei einer Aufnahme von neuen Mitgliedern die 700er-Grenze nicht erhöht wird. Ab dem Jahr 2009 soll dann eine weitere grundlegende Anpassung erfolgen.

Proportionalitätsstreit

Und genau bezüglich dieser grundlegenden Anpassung waren die Auseinandersetzungen im Plenum dann auch am größten, da die stärkeren Delegationen aus den größeren Ländern die Proportionalität herstellen wollten – gleich vielen Bewohnern sollten gleich viele Abgeordnete gegenüberstehen. Derzeit ist es ja so, dass die kleineren Länder „besser“ behandelt werden – sie haben im Verhältnis zur Bevölkerung mehr Mitglieder im Europäischen Parlament als die großen Mitgliedsstaaten.
Dieser Streit ging leider zugunsten der großen Länder aus. Sie haben sich durchgesetzt und erreicht, dass eine Formulierung beschlossen wurde, die besagt, dass die Anzahl in Abhängigkeit von der Bevölkerung nach einem proportionalen Verteilungsschlüssel festgelegt wird, der nur durch die Zuweisung einer Mindestzahl von vier Sitzen pro Staat korrigiert wird. Bemerkenswert ist, daß die knappe Mehrheit nur dadurch zustande kam, daß die Vertreter der ÖVP und der FPÖ gegen die Interessen Österreichs für diese Bestimmung votiert haben!

Verminderung der Arbeitsfähigkeit

Die ganz kleinen Staaten haben dadurch wenigstens den Vorteil, dass sie auf jeden Fall durch vier Mitglieder im Europaparlament vertreten sind, aber gerade ein Land wie Österreich würde dramatisch weniger Abgeordnete bekommen, was die Arbeitsfähigkeit der österreichischen VertreterInnen in den einzelnen Fraktionen deutlich reduzieren würde. Sogesehen müssen wir groteskerweise glücklich darüber sein, dass es sich in diesem Fall nur um eine Entschließung, das heißt um eine Meinung, die von den Regierungen nicht berücksichtigt werden muss, handelt und nicht um einen legislativen Akt.
Und man muss ebenfalls groteskerweise hoffen, dass die österreichische Regierung sowie die Regierungen anderer kleiner Länder nicht für die volle Proportionalität eintreten, sondern den jeweils nationalen Abgeordneten eine größere Bedeutung beimisst. Wünschenswert wäre schließlich, dass auch in Zukunft nicht bloß eine Mindestanzahl von vier Mitgliedern pro Land festgelegt wird, sondern auch eine Degressivität eingebaut wird – dass also die Proportionalität generell durch eine etwas stärkere Berücksichtigung der kleineren Länder korrigiert wird.

Kommen die „Superkommissare?“

Ein zweiter wichtiger Punkt ist sicherlich die Zusammensetzung der Europäischen Kommission. Hier bietet das Parlament in seiner Entschließung zwei alternative Möglichkeiten an: Entweder sollte die Kommission aus einer festen Anzahl von Mitgliedern sowie dem Präsidenten bestehen und unter Anwendung eines Rotationsprinzipes agieren, sodass im Laufe der Zeit alle Mitgliedsstaaten die „gleiche Gelegenheit zur Teilnahme“ haben, wie es in der entsprechenden Textpassage wörtlich heißt.
Oder es soll aus jedem Mitgliedsstaat ein Kommissionsmitglied nominiert werden. In diesem Fall wird aber vorgeschlagen, die Rolle des Präsidenten zu stärken und eine innere Hierarchie zu bilden, indem gewissermassen einige „Superkommissare“ nominiert werden, um die Arbeit der Kommission zu koordinieren und zu straffen. Dabei besteht natürlich die Gefahr, dass diese „Superkommissare“ ausschließlich aus den großen Mitgliedsländern kommen und kleinere Staaten – unabhängig von der Kompetenz der von ihnen entsandten Kommissionsmitglieder – immer nur weniger bedeutende Ressorts zur Betreuung bekommen.

Vernünftiges Rotationsprinzip

Ich persönlich bin, wie die meisten anderen Mitglieder unserer Delegation, der Meinung, dass nicht jedes Land immer einen Kommissar haben muss. Mir scheint es sinnvoller zu sein, dass die Gewichtigkeit der einzelnen Kommissare jeweils gleich ist, dass es eine begrenzte Anzahl an Kommissionsmitgliedern gibt und dass ein vernünftiges Rotationsprinzip dafür sorgt, dass alle Länder immer wieder die Möglichkeit haben, ein Kommissionsmitglied zu benennen.
Unabhängig davon ist es sicher sinnvoll, die Rolle des Kommissionspräsidenten zu stärken und ihm auch wirklich eine Richtlinienkompetenz innerhalb der Kommission zu geben.
Was nun das dritte Element der Europäischen Union betrifft, den Rat – also jenes Organ, in das die einzelnen Regierungen ihre Vertreter entsenden – wird natürlich einerseits eine Stärkung der Mehrheitsentscheidungen und weniger die Notwendigkeit der Einstimmigkeit verlangt – das ist eine alte Forderung des Europäischen Parlaments, die ich auch voll teile. Dort, wo eine qualifizierte Mehrheit notwendig ist, glaubt man, dass eine Art doppelte Mehrheit notwendig ist – einerseits die Mehrheit der Mitgliedsstaaten und andererseits auch verdichtet die Mehrheit der Gesamtbevölkerung der einzelnen Mitgliedsstaaten, die durch diese einzelnen Länder vertreten werden.

Freiwillige Beistandspflicht

Die hier etwas näher dargestellte Entschließung des Europäischen Parlaments beschäftigt sich aber noch mit einer Reihe anderer Fragen, unter anderem mit den institutionellen Voraussetzungen für eine Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.
In diesem Zusammenhang ist besonders interessant, wie das Europäische Parlament die Möglichkeit der neutralen bzw. paktungebundenen Staaten sieht. Einerseits meint das Parlament, dass im Rahmen einer Zusammenführung von Europäischer Union und der so genannten Westeuropäischen Union, jenes Sicherheitsbündnis, das die westeuropäischen Staaten vor längerer Zeit geschlossen haben, auch die so genannte Beistandsklausel des Artikels 5 des Vertrags über die WEU in ein Protokoll im Anhang zum EU-Vertrag aufgenommen werden soll. Das würde bedeuten, dass die im WEU-Vertrag verankerte Verpflichtung, sich im Fall eines Angriffes gegenseitig zu helfen, im EU-Vertrag selbst nicht direkt festgeschrieben ist, sondern nur in einem Anhang des Vertrages zu übermitteln ist. Damit ist es dann jedem Mitgliedsstaat freigestellt, dieser Beistandsklausel beizutreten – oder auch nicht. Zu diesem Punkt heisst es in der Entschließung im Wortlaut: „Die institutionellen Probleme einer solchen Integration (also WEU und EU, Anm.) und ihre Folgen müssen gebührend berücksichtigt werden und die traditionell neutralen Mitgliedsstaaten und diejenigen, die keinem Bündnis angehören, sollen vollständig und gleichberechtigt an den Arbeiten der Europäischen Union teilnehmen können.“

Gegen die Militarisierung der EU

Nach Meinung des Europäischen Parlaments soll außerdem ein Rat der Verteidigungsminister geschaffen werden. In diesem Zusammenhang habe ich mit Erfolg einen Antrag eingebracht, dass sich dieser Rat nur mit den technisch-operativen Fragen der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik zu beschäftigen hat, die politischen Fragen dagegen weiterhin vom Außenminsterrat zu treffen sind.
Ich wollte mit dieser Formulierung verhindern, dass es künftig zu einer zu starken Position der Verteidigungsminister kommen könnte und die eine „Militarisierung“ der Europäischen Union befürworten oder betreiben könnten.

Unverständliche Präpotenz

An der gesamten Resolution des Europäischen Parlaments stört mich eigentlich nur ein einziger Punkt – und zwar jener, der die volle Proportionalität der parlamentarischen Vertreter vorsieht. Dieses Vorhaben würde aus meiner Sicht eine nicht zielführende Verschiebung in Richtung der Vertreter der großen Länder bringen.
Das war eigentlich auch der Grund, warum ich – vielleicht etwas übereilt und zornig über die Präpotenz mancher großen Mitgliedsstaaten – gegen die Resolution gestimmt habe. Unser Vorsitzender Enrique Baron hat im übrigen noch vor der Schlussabstimmung genau deshalb, weil alle Anträge, die die Proportionalität vermindern wollten, abgelehnt worden sind, darauf hingewiesen, dass das Parlament in zukünftigen Beratungen einen anderen, vernünftigen Weg finden müsste.
Mit meiner Stimme gegen diese Entschließung wollte ich so wie viele andere Mitglieder die Bedeutung der Entschließung, zumindest in diesem Punkt, vermindern. In der Tat hat die Entschließung – sicher aus unterschiedlichen Interessen – letztlich auch keine sehr starke Zustimmung bekommen.

Abstimmungsergebnis zur Entschließung des Europäischen Parlaments mit seinen Vorschlägen für die Regierungskonferenz vom 13.4.2000:

Ja-Stimmen: 238
Nein-Stimmen: 147
Enthaltungen: 73

 
Strassburg, 14.4.2000