Demokratisches Regieren

Es geht heute darum, wie wir auf europäischer Ebene Demokratie durch- und umsetzen.  
Die Krise am Balkan hat sich verschärft. Das, was abzusehen war, hat sich bewahrheitet: Die zaghafte und zögernde Reaktion insbesondere der KFOR und des Westens angesichts neuer Attentate in Südserbien und Mazedonien hat die albanischen Extremisten zu weiteren Attacken animiert.

Ein Extremismus begünstigt den anderen

In dieser Woche haben wir während der Plenarsitzung in Straßburg darauf gedrängt, nicht nur die Attacken der albanischen Extremisten zu verurteilen, sondern auch einen Zusammenhang mit den Unabhängigkeitsbestrebungen in Montenegro und den einseitigen Abseitsbewegungen kroatischer Extremisten in Bosnien-Herzegowina gesehen. Ich glaube zwar nicht, dass dahinter eine gemeinsame geheime Strategie steckt. Aber ich bin überzeugt, dass ein Extremismus der einen den der anderen begünstigt, provoziert und ermutigt. Und deshalb sollten wir jedenfalls klar machen, dass Seperatismus in einem fragilen System wie am Balkan destabilisierend wirkt, nicht lokal begrenzbar ist und daher von uns mit allen unseren Möglichkeiten abgelehnt werden muss. Das heißt auf der anderen Seite, dass wir all jenen Regierungen, Parteien und Autoritäten Unterstützung geben müssen, die versuchen, im Rahmen bestehender Grenzen Probleme zu lösen.
Der ethnische Wahn, der am Balkan genau so zu Hause ist wie im Baskenland und in einigen anderen europäischen Regionen, ist ausschliesslich rückwärts gerichtet und behindert uns in unserem Bestreben, Frieden und Stabilität in Europa zu schaffen. Nach einigem Widerstand haben auch die Anderen eingesehen, dass in dieser Frage eine Gesamtsicht der Dinge notwendig ist, und so haben wir schliesslich im Plenum eine Resolution beschlossen, die eine Absage an einseitige Unabhängigkeitsmaßnahmen setzt und insbesondere dem Extremismus Einhalt gebietet.

Demokratisches Regieren auf europäischer Ebene

In Strassburg ging es diesmal auch um die Frage einer Reform des Regierens auf europäischer Ebene. Dienstagabend gab es ein Arbeitsessen für die sozialdemokratischen Delegationsleiter der einzelnen nationalen Delegationen und den sozialdemokratischen Kommissaren, bei dem dieses Thema durchaus ernsthaft und sehr gründlich diskutiert wurde. Ich habe bei dieser Gelegenheit ein Papier vorgelegt, das ich gemeinsam mit meinem Mitarbeiter Marcel Marsch, einem Luxemburger, ausgearbeitet habe. Dieses Papier ist auf hohe Zustimmung gestossen und einige meinten, zu diesem Thema hätten sie bisher noch nichts derart Klares gelesen – weder was die Fragestellung noch was die ersten Antworten betrifft. Die meisten haben ausserdem gemeint, der Begriff „democratic government“ oder „demokratisches Regieren“ sei viel aussagekräftiger als der Ausdruck „gutes Regieren“ (good governance).

Demokratie durch- und umsetzen

Und in der Tat: Es geht heute darum, wie wir auf europäischer Ebene Demokratie durch- und umsetzen. Demokratie heißt natürlich, dass der Parlamentarismus, die gewählten Volksvertreter, das entscheidende Wort in der Gesetzgebung und in der Definition der Politik haben. Mehr Demokratie heißt heute aber sicherlich auch, dass verschiedene Interessensgruppen, die sogenannte zivile Gesellschaft, in den laufenden Prozeß eingeschaltet werden sollen – und zwar möglichst transparent und offen. Das würde sicherlich eine Bereicherung der Entscheidungsprozesse bringen, denn auch gewählte Parlamentarier können nicht alles wissen, was es an Ideen, Vorschlägen und auch Einwänden gibt.

Regulierungen zulassen

Demokratisches Regieren kann ausserdem heissen, dass auch Institutionen außerhalb des politischen Feldes in bestimmten kontrollierten und genau definierten Fällen es übernehmen, Regelungen zu treffen, sich selbst gewisse Selbstregelungen aufzuerlegen oder gemeinsam mit Partnern eine Art Koregelung vorzunehmen. Das mag im Umweltbereich geschehen, im Sozialbereich, z.B. zwischen den Sozialpartnern etc. Aber für das Europäische Parlament muss diese Möglichkeit bestehen, wenn bestimmte Regelungen in die Irre gehen oder grobe Nachteile haben, indem etwa Dritte belastet werden, die regelungen an sich zu ziehen und sie selbst zu treffen. Es ist schon richtig, dass dem Parlament bzw. dem Parlamentarismus nicht alles an Regelungen in Auftrag übertragen wird. Aber die Regelungskompetenz muss auf der parlamentarischen Ebene bleiben und kann immer nur im geliehenen Weg auf andere übertragen werden.
Gerade jetzt gibt es auf Grund eines Berichtes des Finanzexperten Lamfallussi Überlegungen, inwieweit im Rahmen der Finanzdienstleistungen aus einem sehr komplexen Bereich eine solche Externialisierung und Regelung erfolgen soll. Gerade in diesem Fall beharrt aber das Europäische Parlament sehr eindeutig auf der Möglichkeit, im Falle einer solchen Übertragung im Einzelfall das Rückholverfahren in Gang zu setzen und dann selbst die Regelungen durchzuführen, falls es zu unbefriedigenden und negativen Regelungen seitens der Finanzdienste selbst kommen sollte.

Kooperation der verschiedenen Ebenen

Was aber nun die Kompetenzregelung und die Frage der sogenannten Abgrenzung zwischen den verschiedenen Kompetenzen auf nationaler und zum Teil auch regionaler Ebene einerseits und der europäischen Ebene andererseits betrifft, haben mir die Diskussionsteilnehmer ebenfalls zugestimmt, dass es weniger um Kompetenzabgrenzungen geht, sondern eher um die Kooperation der verschiedenen Ebenen des Entscheidungsprozesses.
Mir kommt es auch darauf an, dass die nationale und die regionale Ebene, die sehr oft die Verantwortung abschieben, wenn es um „negative“ Maßnahmen geht, selber eine europäische Verantwortung übernehmen. Was wir heute in Europa lösen wollen, es hat fast immer eine europäische, aber auch eine nationale und regionale Dimension. Und daher ist es sehr schwierig, scharfe Trennlinien zu ziehen. Es ist sicherlich möglich, die Hauptverantwortung bzw. die Initiative verschiedenen Ebenen zuzuordnen. Aber letztendlich kommt es darauf an, dass die einzelnen Ebenen miteinander verknüpft sind und miteinander kooperieren, um die gemeinsamen gesamteuropäischen Ziele umzusetzen.

Höchstmögliche Synergieeffekte erzielen

Es geht also insgesamt darum, wie die verschiedenen sogenannten Nicht-Regierungsorganisationen eingebunden werden können, ohne dass ihnen deswegen die Rolle als Entscheidungsträger auferlegt wird – denn die Verantwortung können und wollen sie in vielen Fällen nicht übernehmen. Es geht darum, wie in Einzelfällen Entscheidungen ausgelagert werden können, aber wie dennoch das Parlament nichts an Kompetenz abgibt, sondern die Kompetenz behält und im Falle von „Auslagerungen“ auch die Möglichkeit bekommt, diese Auslagerungen zurückzunehmen und selbst die Regelungen zu finden. Und es geht darum, nicht den hilflosen und heillosen Versuch zu starten, Kompetenzen scharf abzugrenzen, sondern Synergieeffekte der Zusammenarbeit verschiedener Regelungskompetenzen zu erzielen.
Die Debatte geht weiter. Wir werden bald ein Hearing der Fraktion zu diesen Fragen veranstalten. Und ich bin sehr froh, dass wir relativ früh die Initiative ergriffen haben und diese Tatsache bereits Früchte trägt, d.h. in die Entscheidungen der Europäischen Kommission bzw. in den Vorbereitungsprozeß für entsprechende Vorschläge im Rahmen der Europäischen Kommission einfliesst.
Für uns Parlamentarier muss sicherlich auch gelten: Wenn wir nicht selbst Träger und Avantgarde der Reform sind, sind wir Opfer und Nehmer von Reformvorschlägen, die die Kommission und der Rat mit aller Macht durchzudrücken versuchen werden. Gerade weil wir von der Kommission und vom Rat Reformen verlangen, müssen wir selbst zu sinnvollen Reformen schreiten, die uns nicht schwächen, sondern stärken werden! 
Strassburg, 14.3.2001