Der Eklat

Nach seiner Antrittsrede im Europaparlament rastete Ratspräsident Berlusconi aus. Er forderte den deutschen Abgeordneten Schulz auf, einen Capo in einem Film über ein deutsches Konzentrationslager zu spielen.
Die italienische Präsidentschaft begann und das parlamentarische Arbeitsjahr endete mit einem Eklat. War die von Ratspräsident Berlusconi im Europaparlament vorgelesene Antrittsrede durchaus vernünftig und akzeptabel, so waren seine Reaktionen als Antwort auf die vorangegangenen Reden der Abgeordneten unter jeder Kritik. Die meisten dieser Redebeiträge waren kritisch, aber durchaus gemäßigt. Aber schon bei diesen Reden, beispielsweise auch bei meiner eigenen, verfinsterte sich Berlusconis Miene und er schien sie nicht für würdig genug zu halten, um zuzuhören.

Unfassbare Äußerungen

Die Rede des Abgeordneten Schulz, meines deutschen Delegationsleiterkollegen jedoch brachte ihn auf die Palme. Zugegeben, sie war scharf, jedoch im Rahmen der parlamentarischen Kritik. So etwas muss ein Ratspräsident und Premierminister aushalten. Noch dazu, wo er selbst einmal Mitglied des Europäischen Parlaments gewesen ist. Aber Berlusconi konnte bzw. wollte sich nicht zurückhalten. Er rastete aus. Er forderte Martin Schulz auf, doch einen Capo in einem Film über ein deutsches Konzentrationslager zu spielen, der gerade in Italien gedreht würde.
Eine solche Aufforderung ist unfassbar. Angesichts dieser Aussage wurden viele andere seiner dummen und unwürdigen Bemerkungen in den Hintergrund gedrängt, so zum Beispiel die Behauptung, viele von uns seien nur Demokratietouristen, oder dass man ihm nichts über Umweltpolitik erzählen müsste, betreibe er doch selbst Gartenarbeit, etc.

Das wahre Gesicht

Kaum konnte er sich nicht mehr an das Manuskript halten, das ihm seine Mitarbeiter vorbereitet hatten, kam der wahre Berlusconi durch – ein Berlusconi, von dem sich sogar sein Stellvertreter Fini, der ehemalige Vorsitzende der Neo-Faschisten distanzierte.
Was mich besonders stutzig macht ist die Tatsache, dass viele Konservative Politiker wie Berlusconi in ihren Reihen – er gehört der Europäischen Volkspartei an – akzeptieren. Es gab unter ihnen durchaus einige, die Berlusconi nach seiner Rede kritisierten. Es gab auch einige Wankelmütige, die am Morgen Berlusconi lobten, ihn unmittelbar nach seiner Rede kritisierten und am Abend desselben Tages dem Abgeordneten Schulz die Schuld an den Entgleisungen Berlusconis gaben – so etwa die Abgeordnete Stenzel:
Stenzel: Gelungener Auftakt der italienischen EU-Ratspräsidentschaft
Straßburg/Wien, 2. Juli 2003 (ÖVP-PK) "Europas Sozialdemokraten tun sich schwer, den absolut gelungenen Auftakt der italienischen EU- Präsidentschaft unter Ministerpräsident Silvio Berlusconi mit der notwendigen Objektivität zu bewerten", sagte heute, Mittwoch, die ÖVP-Delegationsleiterin Ursula Stenzel in Straßburg. "Berlusconi lieferte jedoch in seiner Antrittserklärung vor dem Plenum des EP keinerlei Anhaltspunkte, an der Ernsthaftigkeit der italienischen Präsidentschaft zu zweifeln. Er legte ein sehr gutes Programm für das kommende Halbjahr vor", so Stenzel.

(Diese Aussendung wurde kurz darauf wieder zurückgezogen, Anm.)
Stenzel: Berlusconi-Entgleisung ist inakzeptabel
Straßburg, 2. Juli 2003 (ÖVP-PK) "Die Entgleisung des italienischen Ministerpräsidenten Silvio Berlusconi im Plenum des Europäischen Parlaments ist inakzeptabel und unentschuldbar. Seine Weigerung, sich für schwerste Beleidigung gegenüber dem deutschen Abgeordneten Schulz zu entschuldigen ist für mich unverständlich. Dieser Vorfall überschattet das an und für sich gute Programm, das Berlusconi namens der italienischen Ratspräsidentschaft heute vorgestellt hat", sagte die ÖVP-Delegationsleiterin Ursula Stenzel heute in einer ersten Reaktion in Straßburg.
Stenzel nimmt Entschuldigung Berlusconis zur Kenntnis
Straßburg, 2. Juli 2003 (ÖVP-PK) "Berlusconi hat klar gemacht, dass er vor allem auch nicht die Sensibilitäten des deutschen Volkes verletzen wollte. Ich glaube nun, dass man den Schatten, der mit diesem Zwischenfall auf den Beginn der italienischen EU-Präsidentschaft gefallen ist, nicht überdimensional ausdehnen sollte", so Stenzel weiter. Die Entrüstung der Sozialdemokraten im Europäischen Parlament habe absolut auch Methode und sei nicht nur moralisch-ethisch begründet. "Wir europäischen Christdemokraten sollten keinen Vorwand liefern, uns einen Keil in unsere Fraktion treiben zu lassen", forderte Stenzel.
"Das Europaparlament darf nicht zur Tribüne der italienischen Innenpolitik werden. Dazu muss natürlich auch Ministerpräsident Berlusconi die nötige Gelassenheit gegenüber gezielten und geplanten Provokationen aus dem linken Lager aufbringen", so Stenzel abschließend.

Gefährlicher Geist

Schon am Vortag bei der 50 Jahr Feier der EVP gab es eine Entgleisung, diesmal vom französischen Ministerpräsidenten Raffarin. Er meinte, Frankreich werde erst dann ein Paradies sein, wenn es dort keine Sozialdemokraten mehr gäbe. Es scheint mir angesichts dieser Meldungen aus den Mündern führender konservativer Politiker ein Geist zu wehen, den ich für Europa insgesamt für sehr gefährlich erachte. Der Geist des Konsenses wird abgelöst durch eine Gesinnung des Kampfes, der Freude an der Erniedrigung und der systematischen Verdrängung der Sozialdemokratie aus dem öffentlichen Leben (beispielsweise aus den Medien).

Rede von Martin Schulz zum Tätigkeitsprogramm des italienischen Ratsvorsitzes
Herr Präsident, meine Damen und Herren! Ich wende mich zunächst an den Kollegen Poettering. Der Kollege Poettering hat in geradezu euphorischer Form die Kompetenz auf der Ratsbank, die aus Italien hier angereist ist, gelobt: Berlusconi, Fini, Frattini, Buttiglione, ich hatte Angst, er kommt noch mit Maldini und Del Piero und Garibaldi und Cavour, aber einen hat er vergessen, nämlich den Herrn Bossi. Das ist auch ein Mitglied dieser Regierung, und die kleinste Äußerung, die dieser Mann macht, ist schlimmer als alles, worüber dieses Parlament gegen Österreich und die Mitgliedschaft der FPÖ in der österreichischen Regierung Beschlüsse gefasst hat. Über den müssen wir dann ja auch einmal reden.
(Beifall)
Sie sind nicht verantwortlich, Herr Ratspräsident, für den Intelligenzquotienten Ihrer Minister, aber verantwortlich für das, was die sagen, sind Sie schon. Die Äußerungen von Bossi, Ihrem Minister für die Einwanderungspolitik, die Sie in Ihrer Rede erwähnt haben, sind in keinster Weise vereinbar mit der Grundrechte-Charta der Europäischen Union. Sie sind als Ratspräsident aufgefordert, diese Werte zu verteidigen. Dann verteidigen Sie diese Werte gegen Ihren eigenen Minister!
Ich will ein Wort aufgreifen, das der Kollege Di Pietro hier erwähnt hat. Der Virus des Interessenkonflikts, hat er gesagt, dürfe nicht auf die europäische Ebene gehoben werden. Ja, da hat er Recht, und jetzt ist man hier in diesem Haus seit Tagen immer in der schwierigen Situation, wenn man über die italienische Ratspräsidentschaft redet, dann heißt es immer: Ja, nun seid vorsichtig, dass ihr den Berlusconi nicht kritisiert wegen dem, was er in Italien tut, denn das hat ja hier im Europäischen Parlament nichts verloren. Wieso? Ist Italien nicht Mitglied der Europäischen Union?
(Beifall)
Natürlich hat das hier etwas verloren, und ich sage Ihnen warum: Was Sie als Premierminister Italiens machen, dafür sind die Kolleginnen und Kollegen des italienischen Parlaments gewählt, um mit Ihnen darüber zu diskutieren, aber was Sie als Präsident des Rates tun, dafür sind wir hier zuständig. Da sage ich Ihnen: Sie haben über den Raum der Sicherheit, der Freiheit und des Rechts geredet, über den Tampere-Prozess. Da haben Sie einen Begriff verwendet: EUROPOL, aber drei Begriffe haben Sie nicht verwendet, und daran will ich Sie erinnern und Sie fragen, ob Sie bitte zu diesen drei Dingen etwas sagen können. Was gedenken Sie zu tun zur Beschleunigung der Einrichtung einer Europäischen Staatsanwaltschaft?
(Beifall)
Was gedenken Sie zu tun zur Beschleunigung des Inkrafttretens des europäischen Haftbefehls? Was gedenken Sie zu tun bei der gegenseitigen Anerkennung von Dokumenten in grenzüberschreitenden Strafverfahren? Da hätten Sie übrigens in Ihrem eigenen Land ein bisschen Reformbedarf, was die Dokumentenechtheit angeht. Wenn Sie im eigenen Land eine Reform durchführen, könnte nämlich der europäische Haftbefehl viel schneller in Kraft treten.
Ich freue mich trotzdem, dass Sie heute hier sitzen und ich mit Ihnen diskutieren kann. Das verdanken wir nicht zuletzt Nicole Fontaine, denn wenn Nicole Fontaine es nicht so gut geschafft hätte, die Immunitätsverfahren Berlusconi und Dell"Utri, ihres Assistenten, der heute ausnahmsweise einmal anwesend ist, so lange zu verzögern, dann hätten Sie die Immunität, die Sie brauchen, nicht mehr besessen. Auch das ist eine Wahrheit, die an diesem Tag hier gesagt werden darf!
(Zwischenrufe)

Reaktion auf Berlusconis persönlichen Angriff

Herr Präsident! Vielen Dank, dass Sie mir das Wort geben. Ich brauche keine drei Minuten. Ich will es ganz kurz machen. Herr Berlusconi hat in seinen Ausführungen Folgendes gesagt – wenn die Übersetzung richtig war: In Italien wird zurzeit von einem Regisseur ein Film über die Konzentrationslager gedreht, und er lädt mich ein, die Rolle des Kapo, …
(Zwischenruf)
… also des SS-Schergen, zu übernehmen. Ich sage Ihnen nur eines dazu: Mein Respekt vor den Opfern des Faschismus verbietet mir, darauf auch nur mit einem Wort einzugehen. Aber mir ist klar geworden, dass es schwierig ist, zu akzeptieren, dass ein amtierender Ratspräsident, wenn er mit der geringsten widersprüchlichen Debatte konfrontiert wird, seine Contenance in dieser Form verliert.
(Lebhafter und langanhaltender Beifall der Linken und der linken Mitte)
(Standing Ovation)


Strassburg, 3.7.2003