Der Kampf um Unabhängigkeit

Mein Besuch in Algerien galt diesmal in erster Linie der Pollisario, der Befreiungsbewegung für das zum Großteil von Marokkanern besetzte Gebiet der West Sahara. 
Ich sitze hier in einem Hof, man könnte sagen einer Hazienda. Das ist zwar nicht ganz richtig, aber auch nicht ganz falsch. Angeschlossen an das kleine Gästehaus, unter dem man sich keinerlei Luxus vorstellen darf, außer daß es fließendes Wasser gibt, ist ein kleiner landwirtschaftlicher Betrieb mit einer Hühnerfarm und einem Palmengarten. Es gibt strahlend blauen Himmel, der in Verbindung mit den Palmen, dem ockerfarbenen Sand und den rotbraunen Mauern ein faszinierendes Bild bietet.
Eigentlich wollte ich das Militärmuseum der Pollisario, der Befreiungsfront der West Sahara, besuchen – allerdings, es ist Ramadan. Da ist am Nachmittag – es ist jetzt vier Uhr – niemand mehr da, auch wenn ein Besuchsprogramm es so vorgesehen hat. Das ärgert mich, gibt mir aber auch Gelegenheit, ein bißchen zu reflektieren, was in den vergangenen Tagen passiert ist.

Kampf gegen den Islamismus

Vorgestern nachmittags habe ich die Türkei verlassen, mit einem Satz einer Dolmetscherin im Ohr, den ich nicht so schnell vergessen kann. Sie meinte im Plenarsitzungssaal des türkischen Parlaments mit dem Hinweis auf die Abgeordneten der FASILET-Partei: „Die Islamisten gehören genauso bekämpft wie die PKK, wenngleich mit anderen Mitteln, als es der Staat der Türkei tut.“ Sie war sicher eine vehemente Befürworterin von Atatürk, und Angriffe gegen die Einheit der Türkei, wie sie ihrer Meinung nach von der PKK kommen, waren aus ihrer Sicht genauso abzulehnen wie die Ideen der Islamisten, die den Laizimus zerstören würde.
Eine ähnliche Situation ist auch in Algerien vorzufinden. Der Kampf gegen die Islamisten ist es hier, der auf der einen Seite steht, und der Kampf gegen undemokratische Tendenzen auf der anderen Seite. Mafiöse Elemente, die sich zum Teil mit dem Militär in Verbindung gesetzt haben, das seinerseits wieder den Kampf gegen die Islamisten führt, machen auch hier die Lage sehr undurchschaubar und widersprüchlich. Es gibt keine PKK, die die Einheit Algeriens zerstört, allerdings sehen viele in den Berbern bzw. im Respektieren der Sprache der Berber eine Gefahr für die nationale Einheit.

Bei der Ankunft in Algier gestern mittags haben mich der österreichische Botschafter in Algerien, der Direktor des algerischen Parlaments sowie der Botschafter der West Sahara, dieses real zum Teil existierenden, aber kaum anerkannten Landes, empfangen.
Der Führer einer der oppositionellen Parteien, der RCD, der aufgeklärten linksliberalen Partei, war ebenfalls mit der Maschine aus Paris gekommen. Ich sollte ihn zwei Tage später abends in Algier treffen. Die Algerier haben allerdings versucht, das mit allen Mitteln zu vermeiden und jedenfalls einen offiziellen Termin beim Parlamentsvizepräsidenten, da der Präsident nicht da war, arrangiert. Aber so konnte ich wenigstens am Flughafen ein paar Minuten mit Said sprechen. Er ist Vorsitzender einer Partei, die sehr stark in der Kabylei, also im Gebiet der Berber vertreten ist. Sie hat allerdings auch in größeren Städten Einfluß, der aufgrund von Wahlfälschungen, aber nicht wirklich zum Ausdruck kommt.
Said ist ein international sehr anerkannter Politiker, ein vehementer Gegner der Islamisten. Weniger kritisch steht er dem Militär gegenüber. Das sind die Hauptunterschiede zur Haltung der Sozialisten unter Aid Ahmet, eines der letzten legendären Führer des Befreiungskampfes gegen die Franzosen. Er ist den Islamististen gegenüber viel weniger kritisch, aber ein unbedingter Gegner der Militärs und der Regierung. Leider finden diese beiden Oppositionsparteien, die beide ihre Stärke in der Kabylei haben, deshalb nicht zueinander. Said hofft jedenfalls auf ein Gespräch mit dem Präsidenten Bouteflika, das er heute hat. Er spricht sogar davon, daß er in die Regierung eingeladen werden soll.
Ich bin aber diesmal nicht nach Algerien gekommen, um die inneren Probleme des Landes zu studieren. Dazu hat sich auch noch zu wenig durchgreifend geändert – auch wenn Bouteflika den Willen dazu zu haben scheint. Ob ihm die Generäle, zumindest ein Teil des Militärs, daran hindern? Said meinte, nicht das Militär hindert ihn daran, sondern die Parteien, die an Macht, an Einfluß, vielleicht auch Geld verlieren würden – zumindest einige von ihnen.

Aufbruch ins Ungewisse

Mein Besuch galt diesmal vielmehr der Pollisario, also der Befreiungsbewegung für das zum Großteil von Marokkanern besetzte Gebiet der West Sahara. Ich wollte die Flüchtlingslager in Algerien besuchen und mir ein Bild der Situation der Pollisario, die nun seit vielen Jahren gerade auch von Österreich und durch SPÖ-Politiker unterstützt wird, machen. Daher nahm ich nach einem kurzen Aufenthalt am Flughafen von Algier den Anschlußflug nach Tindouf.
In Tindouf am Abend nach Einbruch der Dunkelheit angekommen, war zuerst niemand von der Pollisario zu sehen. Erst nach einiger Zeit machte sich ein schmächtiges Bürschchen bemerkbar, um einen Schweizer, der, wie ich nachträglich erfuhr, orthopädische Einrichtungen in den Flüchtlingslagern aufbaut bzw. orthopädische Arbeiten übernimmt und dafür immer regelmäßig in die Sahara kommt, und mich abzuholen. Der Schweizer hatte aber zu viele Geräte bei sich, so daß ich mit dem Fahrer allein vom Flughafen – nicht viel mehr als ein kleines Haus – durch die Nacht, durch die Wüste, in das Empfangslager der Pollisario fuhr.
Es war mir ein bißchen unheimlich, mit einem völlig fremden Mann, der nur arabisch und spanisch sprach, durch die Wüste zu fahren. Aber was blieb mir übrig? Wir hörten eine Musikkassette der Sauharis, passierten viele Straßensperren und kamen schließlich in die sogenannte Rezeption, die völlig isoliert in der Wüste gelegen war. Ich bezog ein Zimmer, das einige Matratzen am Boden hatte, Leintücher und Decken, das aber sauber war, und legte mich bald nieder. Was allerdings nicht heißt, daß ich auch geschlafen habe – das lag aber eher an den vielen Spaniern, die bis spät in die Nacht bzw. bis früh in den Morgen tratschten und plauderten – aber immerhin, ich war an meinem Ziel sicher angelangt.

Wo früher nichts war…

Am nächsten Morgen ging es dann mit einem anderen Auto und Fahrer sowie einem Begleiter des Präsidenten der Sauharis in eine große Schule sowie in ein größeres Dorf bzw. eine Stadt, wo wir ebenfalls Schulen, Kindergärten, eine Behindertenschule und den zaghaften Versuch eines landwirtschaftlichen Betriebes besuchten.
Als die Sauharis vor zwei, drei Jahrzehnten in die algerische Wüste flohen, war hier nichts. Und rund um die Lager der Sauharis, die aus Zelten und kleinen Häusern bestehen, ist auch weiterhin nichts. Es gibt eine Hauptstraße, um allerdings zur Schule und in die Orte zu kommen, muß man einfach quer durch die Wüste fahren. Ich bewunderte unseren Fahrer, wie er es schaffte, die unsichtbaren Ziele auch wirklich, ohne Straßen und ohne sich zu verfahren, erreichte. Und ich bewundere dieses Volk, das fern von seiner Heimat, nur auf die Hilfe von außen, vor allem von Algerien angewiesen, ein Leben aufrecht zu erhalten versucht, die Kinder zur Schule schickt, wobei die Frauen die Hauptlast der Organisation tragen. Die Frauen, die dadurch zumindest faktisch eine Stellung einnehmen, die sie beim „normalen“ Ablauf des Lebens nie hätten.
Ein Großteil der Männer bewacht die befreiten Gebiete der Pollisario und kommt nur alle paar Wochen auf Heimatbesuch nach Hause. Dennoch – der Chef der Provinz und seine Mitarbeiter sind vor allem Männer. Auf dem Sozial- und Erziehungsbereich dagegen sind die Frauen sehr aktiv. Es sind zum Teil Frauen, die in Österreich ihre Ausbildung genossen haben, insbesondere die Leiterinnen von Kindergärten.
Besonders beeindruckt war ich von der Behindertenwerkstätte. Weit entfernt von den hochentwickelten Regionen Europas in seiner Heimat kämpft deren Leiter mit großem Engagement für die Integration der Behinderten in die Gesellschaft. Morgens holt er die Behinderten von den Familien ab und versucht ihnen jene Fertigkeiten zu vermitteln, die es ihnen ermöglichen, nicht allzu sehr auf andere angewiesen zu sein, von anderen akzeptiert zu werden und sich in die Gesellschaft integrieren zu können.

Ungewisse Zukunft

Niemand weiß, wie es um die Zukunft dieses Volkes bestellt ist. Mit Marokko ist ein Referendum vereinbart, über die Selbständigkeit oder die Integration in Marokko. Aber die Marokkaner versuchen immer wieder durch Hinhaltetaktik, durch Anmeldung neuer Bewohner, die Abstimmung zu verschieben.
Man würde sich eine große gemeinsame arabische Union – jedenfalls hier im Nordwesten Afrikas – wünschen, die Grenzstreitigkeiten hinfällig machen würde. Aber nicht einmal in Europa haben wir das zustande gebracht. Und wie mein Begleiter heute sagte: Europa scheint nur etwas für die Nacht, für die Träume zu sein. Wenn wir aufwachen, wachen wir nicht als Europäer auf, sondern als Angehörige unserer Nationalstaaten, die ihre nationalen Interessen vertreten, um uns erst wieder am Abend als Europäer bewußt zu werden, den europäischen Traum zu träumen.
Er hat nicht unrecht, auch wenn heute schon manchmal untertags ein bißchen europäisches Bewußtsein durchschimmert – aber zu schwach, zu zögernd, zu unvollkommen.

Wir befinden uns heute in Smar. Smar, benannt nach dem Stammbezirk im besetzten Gebiet, ist eine Stadt, die aus mehreren Dörfern besteht und die heute einen großen Tag erlebte. Nicht, weil wir – meine Kollegin im Europaparlament Karin Scheele und ich – sie besuchten, sondern weil der Außenminister aus Lesotho kam und daher alle Schulklassen den Hauptplatz säumten, um den Minister zu begrüßen. Aber auch uns wurde eifrig „Olá, olá!“ zugerufen, wie die Kinder hier überhaupt sehr offen, spontan und vital sind.

Mitten in der Wüste

Gestern abend gab es im Zelt noch ein Abendessen, an dem auch der Präsident der Sauharis teilnahm – ein sehr interessanter und sympathischer Mann. Bei diesem Essen diskutierten wir über die Lage der Sauharis, wir berichteten aber auch über die Situation in Europa, am Balkan etc. Mein ständiger Begleiter Bashir hat mich danach überredet, doch bei ihm zu Hause im Zelt zu übernachten, was nicht nur einfacher wäre, sondern mir auch das Leben in den Camps näher bringen würde. Ich habe eingewilligt, habe das für mich vorgesehene, obwohl nicht gerade sehr luxuriöse Zimmer wieder verlassen und so fuhren wir spät nachts in das Dorf meines Begleiters.
Das Zelt war kein Zelt, sondern ein Haus, das aus einem einzigen Raum bestand. Als wir um halb zwölf Uhr nachts ankamen, waren seine Frau, ihr kleiner Bruder und einer ihrer Cousins anwesend. Es wurde noch Tee aufgesetzt, auf einem Kessel mit Braunkohle, der mitten im Raum stand – mit entsprechender Rauchentwicklung. Nach Diskussionen und Schilderungen darüber, wie es zum Referendum kam bzw. wie das Referendum über die Zukunft der Sauharis beschlossen worden ist, machten die Frau meines Begleiters und er selbst mein Bett, d.h. es wurden zwei Matratzen zusammengeschoben und Decken hergerichtet, und so verbrachte ich mit ihnen die Nacht in diesem Flüchtlingslager in einem Lehmhaus mitten in der Wüste unter einem faszinierenden Sternenhimmel, wie er angeblich nur in der Sahara zu sehen ist.

Begegnungen

Am Morgen bekam ich Kaffee, Brot und Honig, ich konnte mir zumindest das Gesicht waschen und mich mit meinem aufgeladenen Rasierapparat rasieren. Danach bin ich zwischen den Häusern herumgestreift, um zu sehen, wie das Lager aufwacht und wie die Kinder zur Schule gehen. Die Kinder, einige verschreckt, die anderen sehr fröhlich auf mich zugehend, mich begrüßend, mich mit spanischen Worten begrüßend, hatten natürlich nichts dagegen, daß ich sie fotografierte.
Ein kleines Mädchen war besonders lieb. Es wollte mich unbedingt küssen. Da es aber sehr schmutzig war und ich vor allem die Reaktionen der Dorfbewohner befürchtete, habe ich versucht, das zu vermeiden, habe ihr nur eine Kußhand zugeschickt und bin weitergegangen, so wie sie. Plötzlich blieb sie stehen, hat mich gerufen, ist mich auf mich zugelaufen und hat mir schließlich auch einen Kuß gegeben.
Nach einiger Zeit kam auch unser Fahrer, um uns abzuholen und nach Smar zu bringen, wo wir nach einigem Warten und Plaudern die beiden Außenminister, die hier erwartet wurden – den der Sauharis und den von Lesotho – begrüßen konnten. Während die beiden Außenminister ihr Gespräch führten, hatten wir eine Aussprache mit dem sahaurischen Parlamentspräsidenten und danach mit verschiedenen Stammesvertretern, die sehr aktiv beim Auffinden aller Sauharis waren, die sich im Laufe der Zeit für das Referendum registrieren ließen.


Kommt die Unabhängigkeit?

Unsere unterstützenden Worte wurden natürlich erfreut aufgenommen. Ich hoffe, daß wir sie auch wirklich in ihrem Bemühen unterstützen können, eine Entscheidung über die Unabhängigkeit zu bekommen. Dabei verweisen sie immer wieder auf Osttimor und wundern sich, warum die Europäer, zum Beispiel die Portugiesen, nicht auch die Sauharis mehr unterstützen, zumindest in Richtung eines Referendums und ihnen so die Wahl zu geben, zwischen Selbständigkeit und Integration in Marokko zu unterscheiden.
Nach diesen Gesprächen und einer längeren Wartezeit, in der wir mit verschiedenen Pollisario-Mitgliedern sprachen, u.a. mit der ersten Ministerin in einer Pollisario-Regierung, nahmen wir dann gemeinsam mit dem lesothischen Außenminister am Essen teil, wobei der Außenminister der Pollisario der erste hochrangige Politiker bzw. Vertreter der Sauharis war, der sich nicht an den Rammadan gehalten hat – ob aus Höflichkeit oder aus grundsätzlichen Überlegungen – und mit uns das Essen geteilt hat.

Unvergeßliche Eindrücke

Dieser Besuch, der heute abend zu Ende geht, ist sicher nicht so effizient nach Terminen verlaufen, wie ich mir das vorgestellt habe, aber durch das Übernachten im Dorf bzw. Lager, durch das langsame Abwickeln unseres Programms, das immer wieder Zeit zum Überlegen, reflektieren, Nachdenken und Schauen gelassen hat, kam es dennoch zu sehr starken Eindrücken, die vielleicht länger anhalten, als eine rasche Abfolge von Terminen.
So jedenfalls tröste ich mich darüber hinweg, daß wir anders als bei meinen übrigen Auslandsbesuchen nicht von Termin zu Termin eilten, sondern uns stärker an das Leben der Orte anpaßten, an denen wir uns befanden. Ich werde diesen Besuch bei einem freundlichen und entschlossenen Volk nie vergessen. 
Tindouf, 11.-12.12.1999