Der neue europäische Sozialstaat

Aufbauend auf den europäischen Werten müsste es möglich sein, ein Europäisches Sozialmodell zu definieren, das auch als Weiterentwicklung des bisherigen Sozialmodells verstanden werden kann.
In der letzten Zeit wurde ich mehrmals gebeten, Diskussionsbeiträge zur Überlebensfähigkeit des Sozialstaates im heutigen Europa zu liefern, so auch bei einer Diskussion im „College d´ Europe“ in Warschau.

Klub der Privilegierten

Im Folgenden einige Gedanken dazu: Die Zeit nach 1945 war für Westeuropa zweifellos die erfolgreichste. Frieden, Wirtschaftswachstum und der Aufbau des Wohlfahrtsstaates haben diese Periode gekennzeichnet. Unterstützt wurde diese Entwicklung durch eine starke Sozialdemokratie, die Sozialpartnerschaft, eine aktive Wirtschaftspolitik und eine Mischung aus öffentlichen und privaten Unternehmen bzw. Dienstleistern.
Man muss allerdings zugeben, dass es bevölkerungsmäßig ein kleiner Klub von Wohlfahrtsstaaten war, der diese Annehmlichkeiten genoss. Weder die europäischen Staaten hinter dem Eisernen Vorhang, noch die Staaten der Dritten Welt erlebten eine ähnliche Entwicklung. Es war ein privilegierter Klub der sich immer mehr dem Konsum widmete und für den die Produktionsseite den Experten überlassen blieb. Zugegeben: diese Charakterisierung ist etwas zugespitzt, aber das dient der Argumentation.

Neue Globalisierungswelle

In den vergangenen beiden Jahrzehnten allerdings erlebten wir dramatische Veränderungen – intern wie extern. Einerseits gab es deutliche demographische Verschiebungen: weniger Kinder und deutlich mehr alte Menschen auf Grund gestiegener Lebenserwartung. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs und dem Zusammenbruch des Kommunismus sowie des sowjetischen Imperiums kamen neue Konkurrenten auf den Markt. Inzwischen sind für das neue, gemeinsame Europa neue Konkurrenten mit China und Indien und anderen neuen Industrie- und Dienstleistungsstaaten entstanden. Die Folge: Qualifizierte Arbeitskräfte bieten vermehrt qualifizierte Leistungen zu extrem kostengünstigen Bedingungen an. In diesem Sinne kann man von einer neuen Welle der Globalisierung sprechen.
Parallel dazu kommt insbesondere aus den USA eine neue Ideologie, etwas vereinfacht unter dem Titel Neo-Liberalismus. Sie wendet sich gegen den staatlichen Interventionismus, gegen öffentliche bzw. kollektive Sozialversicherungssysteme und sie ist gewerkschaftsfeindlich und möchte „heilige Kühe“ schlachten: Arbeitszeitregelungen, Kündigungsschutz, etc.

Europäische Werte

Ist unter diesen Bedingungen der Wohlfahrtsstaat überhaupt noch zu retten? Kann man heute noch von einem Europäischen Sozialmodell sprechen bzw. zumindest von europäischen Sozialmodellen? Betrachtet man verschiedene Meinungsumfragen, dann gibt es sehr wohl gemeinsame „europäische Werte“. Die Europäer vertreten – in West und Ost – durchaus Werte wie Solidarität, Gleichheit, öffentliche Verantwortung, etc. Und sie unterscheiden sich dabei auch von den US-Amerikanern.
Aufbauend auf dieser Werthaltung müsste es möglich sein, ein Europäisches Sozialmodell zu definieren, das auch als Weiterentwicklung des bisherigen Sozialmodells verstanden werden kann – mit einem Schuss Pragmatismus, mehr Kostenbewusstsein und mehr Eigeninitiative als im nach 1945 entwickelten Modell, dabei ohne Aufgabe der in dieser Zeit entwickelten Grundsätze.

Sozialstaat neu

Der neue europäische Sozialstaat nimmt stärkere Budgetrestriktionen zur Kenntnis, ohne daraus einen Fetisch zu machen. Vor allem spart er in wirtschaftlich besseren Zeiten, um im Abschwung mehr Spielraum zu haben. Das Pensionssystem wird vor allem langfristig finanziell leistungsfähiger.
Die Hauptstütze bleibt ein umlageorientiertes System. Das Gesundheitssystem bleibt primär öffentlich, verweigert sich einer Klassenmedizin, wird allerdings kostenbewusster. Die Steuersätze – vor allem im Unternehmenssteuerbereich – sinken, allerdings werden viele Ausnahmebestimmungen gestrichen, sodass die Gesamteinnahmen etwa gleich bleiben. Öffentliche Dienstleitungsunternehmen bekommen private Ergänzungen und auch Konkurrenz, bleiben aber die tragende Säule der Versorgung und ein „Instrument“ der öffentlichen Verantwortung.

Europäischer Markt

Parallel zur Neuorganisation des Sozialstaates gibt es ein verstärktes Zusammenwachsen der nationalen Märkte zu einem europäischen Markt. Das gilt auch für die Dienstleistungen. Allerdings nicht so, wie in der von der EU-Kommission vorgeschlagenen und derzeit heiß diskutierten Dienstleistungsrichtlinie.
Auf Grund der Gesetzgebung durch das EU-Parlament und den Rat müsste das Zusammenwachsen unter ausbalancierteren Bedingungen stattfinden. Vor allem müssten die Interessen der Empfänger der Dienstleistungen, also der Konsumenten nach hoher Qualität und die Durchsetzung der Konsumentenrechte gewährleistet werden. Weiters sollten die Wettbewerbsbedingungen möglichst fair gestaltet werden – so schwierig dies im Einzelfall möglich ist. Grundsätzlich heißt das, dass das vorgesehene Ursprungslandprinzip, nach dem sich alles nach den Bestimmungen jenes Landes, aus dem die Leistung erbracht wird, orientiert, nicht unumschränkt gelten kann.

Lebensbegleitendes Lernen für alle

Entscheidend für das gemeinsame Europa ist allerdings die Vorbereitung auf den gestiegenen internationalen Wettbewerb, wollen wir unser Sozialmodell erhalten. Dazu brauchen wir vor allem best ausgebildete Arbeitskräfte, die Spitzenqualität liefern können – und zwar durch ein System des lebensbegleitenden Lernens.
Dabei müssen wir allen eine Chance geben: den Frauen, den Alten, den Jungen, den Menschen aus sozial schwachen Gesellschaftsgruppen, etc. Unsere Investitionen in die Ausbildung und Bildung, in die Forschung und Entwicklung, etc. müssen in diesem Sinn steigen – auf europäischer und auf nationaler Ebene.

Komplementarität statt Wettbewerb untereinander

Damit ist auch klar, dass wir in Europa den internationalen Wettbewerb nur gemeinsam und unter Ausnützung unserer jeweiligen Vorteile bestehen können. Zweifellos müssen wir auch unsere Konkurrenten „scharf im Auge haben“ und müssen auf die Einhaltung grundlegender Umwelt- und vor allem Sozial- und Arbeitsrechtbedingungen drängen.
Aber die Abwehr von Importen und der Abwanderung von Betrieben wird nicht helfen. Wir müssen in Europa vom Wettbewerb untereinander zu einer hohen Komplementarität und Ergänzung kommen. Wir müssen auch die kostengünstigen Produktionsbedingungen, den Unternehmergeist und die unternehmerfreundlichen Bedingungen unserer Nachbarländer in unsere wirtschaftlichen Tätigkeiten und Exporte miteinbeziehen. 40% der Exporte des Weltmeisters Deutschland werden in anderen Ländern, vor allem in Billiglohnländern, hergestellt (vor allem Vorprodukte). Auch viele österreichischen Firmen und Arbeitnehmer leben davon.

Instrumente für den internationalen Wettbewerb

Unser gemeinsames, reformiertes Modell des sozialen Europa muss sich vor allem im internationalen Wettbewerb behaupten. Wenn wir uns nur um die Verteidigung unserer nationalstaatlichen Regeln kümmern, werden wir gemeinsam verlieren.
Unser größtes Problem hinsichtlich der Verteidigung des Sozialmodell Europa besteht in der mangelnden Bereitschaft vieler Regierungen, Europa auch die Instrumente zu geben, das Sozialmodell an die globalen Wettbewerbsbedingungen anzupassen. Wir glauben noch immer, wir könnten nationale Modelle ohne Rücksicht auf Europa verteidigen und sind nicht bereit, Europa die politischen und finanziellen Instrumente dafür zu geben, dass wir gemeinsam an den notwendigen Anpassungen arbeiten.

„Linkes“ Korrektiv

Ich verstehe eine gewisse Angst auf der „Linken“ vor den neo-liberalen Bestrebungen, das Sozialmodell radikal abzubauen. Aber dies kann nur durch eine gemeinsame linke, sozialdemokratische Aktion auf europäischer Ebene verhindert werden. Nationale, egoistische Verteidigungsversuche sind zum Scheitern verurteilt. Dafür sind die internationalen Abhängigkeiten und die internationale Mobilität von Arbeit, aber vor allem von Kapital zu groß.
Wenn die Linke, wenn die Sozialdemokratie auf internationaler – und vor allem europäischer Ebene – dem nichts entgegenzusetzen hat, werden wir unsere nationalen Modelle nicht retten und uns den globalen Verhältnissen unterwerfen müssen.
Warschau, 9.4.2005