Der omnipräsente 11. September

Der 11. September und auch die Zeit danach hat gezeigt, dass militärische Macht alleine nicht fähig ist, ein unbedingt notwendiges Bündnis gegen den Terrorismus zu schnüren.  
In den vergangenen Tagen und Wochen haben wir uns im Europäischen Parlament immer wieder mit den Attentaten rund um den 11. September beschäftigt. Mit „Wir“ meine ich insbesondere einen kleinen Kreis rund um Javier Solana, den Außenpolitiker des Rates, sowie die Mitglieder des Außenpolitischen Ausschusses und auch einige weitere Vertreter unserer Fraktion. Immer wieder ging es dabei um Fragen, die sowohl in Zusammenhang mit den Attentaten als auch den Gegenschlägen seitens der Amerikaner zu stellen sind.

Mr. Außenpolitik

In den Gesprächen mit Javier Solana habe ich stets dessen Vielseitigkeit und auch seine noch spät abends vorhandene Energie bewundert. Aus meiner Sicht hat die EU in ihm einen guten Mann für Europas Aussenpolitik gefunden. Eine Schwierigkeit liegt allerdings in der Tatsache, dass es neben Solana auch einen Kommissar für außenpolitische Fragen gibt. Und dass der strategische Stab, der Solana zur Verfügung steht, sicherlich nicht groß genug ist – wie insgesamt die Wissens- und Informationsmacht der Europäischen Union nicht groß genug ist. Ich glaube auch gar nicht, dass es vorrangig darum geht, der Europäischen Union eine große militärische Macht zuzuschreiben. Aber in diesem Sinn wird leider politische Macht meist verstanden: als eine Macht, die auf der militärischen Kapazität beruht.

Schwieriges Bündnis gegen den Terrorismus

Wie der 11. September und auch die Zeit danach gezeigt hat, ist militärische Macht alleine nicht fähig, ein unbedingt notwendiges Bündnis gegen den Terrorismus zu schnüren. Einen Terrorismus, der weder in der Armut noch im Islam als solches resultiert, allerdings Unterstützung aus islamistischen Bewegungen, der Armut und der insgesamt ungelösten Frage im Nahen Osten bekommt. Eine Allianz gegen diesen Terrorismus wird nur dann dauerhaft und tragfähig sein, wenn diese Kombination an Problemen einer Lösung zugeführt wird oder man sich zumindest intensiv anstrengt, wesentliche Verbesserungen zu erreichen.

Was will die Nordallianz wirklich?

Inzwischen sind die Nordallianz und die Amerikaner, zum Teil mit, wenn auch sehr zurückhaltender, britischer Unterstützung in Afghanistan schon weit vorgedrungen und haben weite Teile des Landes erobert. Wie immer in solchen Fällen, stellen sich die ersten Konflikte zwischen der Nordallianz auf der einen Seite und den Amerikaner sowie anderen Ländern, die nicht der Nordallianz allein das Feld überlassen wollen, auf der anderen Seite ein. Dass es bei der Eroberung vermutlich, wie auch erste Nachrichten vermitteln, nicht immer zu besonders humanen Aktionen auch seitens der Nordallianz gekommen ist, ist nicht weiter verwunderlich.
Das Grundproblem liegt in der Frage, wie weit die Nordallianz wirklich geht. Steht allein die Machtfrage im Mittelpunkt oder geht es schon auch darum, eine offenere und liberale Gesellschaft zu tolerieren? Dass sich heute bereits manche Frauen in den befreiten Gebieten unverschleiert bewegen und sich die Männer ihren Bart abschneiden lassen, dass man in den Kinos wieder erste Filme gezeigt hat – wobei allerdings nur Männer zugelassen waren – ist zwar erfreulich, aber es ist sicherlich nicht genug. Und wir wissen auch keineswegs, ob es von Dauer sein wird.

Unterstützung für die RAWA-Frauen

In diesem Zusammenhang habe ich in Wien eine junge Afghanin kennen gelernt, die die Organisation RAWA vertritt. RAWA bemüht sich besonders um die afghanischen Frauen, um ihre Erziehung, ihre Emanzipation und ihre Befreiung. In der vergangenen Woche habe ich am Rande der Plenarsitzung in Strassburg mit sehr vielen Personen, etwa dem zuständigen Kommissar Paul Nielson, aber auch mit mehreren Politikerinnen unserer Fraktion, über diese Arbeit gesprochen.
Ich habe mich dabei bemüht zu erreichen, dass man RAWA unterstützt und über die humanitäre Hilfe durch Lebensmittelspenden etc. hinaus der Organisation eine Rolle beim Wiederaufbau des Landes zukommen lässt. Denn genau das ist zweifellos eine besonders schwierige Aufgabe in einem islamischen Land, das eine derart schlimme Phase der Unterdrückung der Frauen erlebt hat. Den Frauen eine wirkliche Chance bei der Entwicklung des Landes, in der Regierung, in der Erziehung etc. zu geben, wird insbesondere in den Gebieten außerhalb der großen Städte, wo nicht nur die Taliban in extremer Form die Unterdrückung der Frauen propagiert und erzwungen haben, sondern wo diese auch auf veraltete Traditionen und Sitte aufgebaut hat, wird bestimmt nicht leicht sein.

Die Spuren des Terrors

Auf europäischer Ebene ist jedenfalls weder entschieden, wie Afghanistan in Zukunft regiert wird noch ob der Kampf gegen den Terror beendet ist. Er wird in unseren Gesellschaften auch weitere Spuren hinterlassen. Als ich etwa heute von Berlin über Düsseldorf nach Brüssel kam, hätte ich eigentlich nicht mehr geglaubt, tatsächlich noch in Brüssel einzutreffen. Der Düsseldorfer Bahnhof wurde aufgrund einer Bombendrohung gerade in jenem Moment gesperrt, als ich meine Koffer von der Gepäcksaufbewahrung holen wollte, um mit dem Zug weiter nach Köln und von dort mit dem „Thalis“ nach Brüssel zu fahren.
Früher hätte ich mich wahrscheinlich darüber aufgeregt und es für eine abstruse, übervorsichtige Maßnahme gehalten, plötzlich einen Bahnhof abzusperren. Heute hingegen war ich über diesen Umstand zwar nicht erfreut, habe mich aber mehr oder weniger dem Schicksal ergeben. Und dieses Schicksal meinte es schliesslich doch noch gut mit mir: Nach ca. einer ¾ Stunde konnte ich das Bahnhofsgebäude betreten und etwas verspätet mit dem Zug nach Köln und dann nach Brüssel fahren.

Die Moral von der Geschicht`

Die Moral von der Geschicht`? Man wird zum einen seitens der Polizei und der Sicherheitskräfte zunehmend nervöser und zum anderen zunehmend toleranter und geduldiger gegenüber eben jenen Maßnahmen, die die Polizei und Sicherheitskräfte treffen. Ich hoffe nur, dass das nicht zu einer zu großen Toleranz auch gegenüber inakzeptablen Einschränkungen des Lebens mit Elementen des Überwachungsstaat etc. führen wird.
Es ist schon richtig, dass man nicht zimperlich sein soll und wer nichts verbrochen hat, hat nichts zu befürchten. Aber einige Staaten entwickeln sich doch in eine Richtung hin, wo derartige Maßnahmen letztlich auch dazu eingesetzt werden können, Menschen mit unliebsamer politischer Gesinnung zu vernadern. Und genau das gilt es zu verhindern!  
Brüssel, 6.11.2002