Der Schein trügt

Rund um Sarajevo sind die Zerstörungen an den Häusern noch deutlich sichtbar, und ganze Dörfer liegen völlig verlassen vor einem. 

Mit einem Minibus ging es von Podgorica weiter nach Sarajevo. Die Fahrt dauerte etwa viereinhalb Stunden und führte durch eine herrliche Landschaft. Durch Schluchten, über Pässe, durch Täler, entlang eines sehr ausgedehnten und verzweigten Stausees ging es zur Grenze und dann auf einer wesentlich schlechteren Straße weiter nach Sarajevo.
Es war eigentliche eine friedliche Landschaft, durch die wir fuhren – grün, bewaldet, saftige Wiesen, blauer Himmel – fast wäre man versucht, an eine Urlaubslandschaft zu denken, wüsste man nicht um die prekäre Sicherheitslage.
An der Grenze zu Bosnien wehte zwar die bosnische Fahne, aber es gab keinen Hinweis darauf, dass man Bosnien betritt. Statt dessen prangte auf einer großen Tafel der Vermerk „Republic of Srpska“. Das allein zeigt schon das große Dilemma Bosniens: Man kommt zwar nicht umhin, eine bosnische Fahne zu hissen, aber vermeidet, jedenfalls im serbischen Teil, sich neben einem Bekenntnis zur serbischen Teilrepublik klar und deutlich zu Bosnien zu bekennen.

Die Wunden sind noch nicht verheilt

Knapp vor Sarajevo waren schließlich die Zerstörungen an den Häusern deutlich sichtbar, und ganze Dörfer lagen völlig verlassen vor uns. Hier waren die Wunden noch nicht geheilt.
Nach der Ankunft in Sarajevo ging es zu Fuß vom Holiday Inn ins Zentrum der Stadt und es galt, jenen Teilnehmern unserer Delegation, die die Stadt noch nicht kannten, die Wunden, aber auch die Schönheiten Sarajevos zu zeigen.
Es war Montags abend, und die Straßen waren voll von jungen Menschen, so voll, wie man es kaum je in einer europäischen Stadt sieht – jedenfalls nicht an einem ganz normalen Montag. Lag es daran, dass ein großer Prozentsatz dieser jungen Menschen arbeitslos ist? Dass sie nicht daran denken müssen, am nächsten Morgen früh aufzustehen? Dass das Schlendern durch die Straßen und das Verweilen in den Kaffees einen Großteil ihres heutigen Lebens ausmacht? Sicherlich war auch die Präsenz der vielen MitarbeiterInnen der Internationalen Gemeinschaft ausschlaggebend für das Bild, das sich uns an diesem Abend bot, denn viel mehr Ablenkung als die Kaffeehäuser und Restaurants von Sarajevo gibt es auch für diese Menschen nicht. Aber ein Blick in die Gesichter und das Aufschnappen der Sprache, die man miteinander sprach, machten doch deutlich, dass es vornehmlich die EinwohnerInnen Sarajevos waren, denen wir hier begegneten. Ich hoffe, dass Muslimen, Serben und Kroaten sich in dieser Stadt bereits vermischen – wenigstens bei der Jugend.

Rückkehr ins Leben

Nachdem wir noch eine Kleinigkeit in der Altstadt von Sarajevo gegessen hatten, bin ich nun wieder zurück im Holiday Inn.
Interessant war am Rande unseres Abendessens übrigens, dass uns das Bier, das wir im Restaurantgarten trinken wollten, nicht gewährt wurde, da es ausschließlich im Inneren der Lokale ausgeschenkt wurde. Eine etwas eigenartige Interpretation der muslimischen Ess- und Trinkvorschriften…
So tranken wir unser Bier eben im Hotel und sind froh, dass diese Stadt wieder im Frieden lebt und Lebendigkeit und Freude zum Ausdruck bringt. In besonderem Ausmaß hat das ein Mitglied unserer Delegation, den früheren General Morillon, gefreut. Er war hier während des Bosnien-Kriegs stationiert und hat eine führende Rolle im Prozess der Befriedung gespielt. Jetzt ist er für die Europäische Volkspartei Mitglied im Europäischen Parlament. 
Sarajevo, 20.6.2000