Der Streit um des Kaisers Bart

In der Türkei findet eine heftige Diskussion darüber statt, ob man einen kurdischen Fernseh- und Radiosender zulassen soll. 
Heute hatten wir im außenpolitischen Ausschuss zwei Gäste zur Diskussion eingeladen. Zuerst kam die Präsidentin von Lettland, Vaira Vike-Freiberga. Mit ihr diskutierten wir in erster Linie die Frage der Erweiterung.
Sie hatte klare Ansichten und auch auf meine Frage hin, wie es sein würde, wenn Lettland nicht gleichzeitig mit Estland in die Europäische Union aufgenommen werden würde, meinte sie: Natürlich sei es der Wunsch ihres Landes, so rasch wie möglich aufgenommen zu werden. Sie sehe auch keine gravierenden Unterschiede zu dem in einer allgemeinen Ansicht am weitesten Fortgeschrittenen Land, nämlich Estland, aber es würde keine gravierenden politischen oder psychologischen Effekte haben, würde Lettland nicht gemeinsam mit den anderen und vor allem nicht gleich in der ersten Runde drankommen.

Auf der Tagesordnung: Türkei

Der zweite Gast war der türkische Außenminister Ismail Cem. Ich hatte ihn schon am Abend am Brüsseler Flughafen getroffen, als wir gemeinsam aus der Maschine von Wien kommend ausstiegen. In Wien hatte das Treffen der Außenminister der OSZE stattgefunden, und von dort reiste Cem direkt nach Brüssel.
Cem hat sehr ausführlich begründet, warum die Türkei Mitglied der Europäischen Union werden möchte. Er hat aber gleichzeitig, zum Beispiel in der Frage der Minderheitenrechte, sehr unmissverständlich argumentiert, dass die Türkei in dieser Frage eine andere Konzeption als die Mitglieder der Europäischen Union hat. Für die Türkei gibt es nur religiöse Minderheiten, keine ethnischen – seien sie kurdischer, armenischer, albanischer oder welcher Herkunft auch immer. Ein Türke ist ein Türke, und die Minderheitspositionen beziehen sich lediglich auf die unterschiedliche religiöse Ausübung. Cem meinte allerdings, man könnte durch eine verstärkte Benützung der Sprache und der kulturellen Ausdrucksformen eine gewisse Flexibilität an den Tag legen. Er hat diese Ansicht schon öfters geäußert und wurde deswegen auch heftig kritisiert. In der Türkei hat man ihn sogar angezeigt, weil er von manchen bereits als tendenzieller Zerstörer der Einheit der Integrität des türkische Staates betrachtet wird.

Streit um des Kaisers Bart

Gerade zum jetzigen Zeitpunkt findet in der Türkei eine heftige Diskussion darüber statt, ob man einen kurdischen Fernseh- und Radiosender zulassen soll.
Dazu bin ich heute vom staatlichen türkischen Fernsehen interviewt worden. Die an mich gestellte Frage lautete, ob der Staat selbst auch Sendungen in kurdischer Sprache ausstrahlen soll. Natürlich kann man sagen, dass es sich hier um einen Streit um des Kaisers Bart handelt, da ohnedies schon von außen kurdische Fernseh- und Radiosendungen in die Türkei hineingestrahlt werden. Aber dass über diese Frage in der Türkei überhaupt debattiert wird, ist schon ein kleiner Fortschritt, den ich zwar nicht überschätzen, als Signal aber auch nicht unterschätzen möchte.
Auf diese Frage stiegen sowohl Daniel Cohn-Bendit, der Vorsitzende des gemischten parlamentarischen Ausschusses Türkei-EU ist und ich selbst ein. Wir schilderten verschiedene Ereignisse, wo gerade die Verwendung der kurdischen Sprache zu Schwierigkeiten führte, wo es zu Verboten in der Aufführung von Theaterstücken oder zur Schließung von Privatkursen kam, deren Zweck es ja war, die kurdische Sprache zu vermitteln. Ich habe selbst einmal bei einem Besuch in Istanbul erlebt, wie ein solcher Klub, der eine offizielle staatliche Genehmigung hatte, Kindern die Sprache zu unterrichten, bevor er noch damit beginnen konnte, vom Gouverneur wieder gesperrt wurde. Und zwar mit Hinweis auf die Gefahren, die von der Vermittlung der kurdischen Sprache ausgehen würden…

Peinlicher Zwischenfall

Durch die interessanten, aber doch etwas längeren Ausführungen des Außenministers ist es im Aussenpolitischen Ausschuss nicht wirklich zu einer Debatte gekommen. Ein peinlicher Zwischenfall passierte, als zwei kurdische Demonstranten auf T-Shirts verschiedene Kritikpunkte an der Türkei, insbesondere an der Gefangenenpolitik der Türkei, zum Ausdruck brachten. Sie preschten zum Podium vor, bedrohten den türkischen Außenminister zumindest verbal und hätten ihn, hätte Cem aggressiv reagiert, vielleicht sogar auch angegriffen. Cem aber blieb ruhig und hat diesen „Zwischenfall“ auch sehr gut überstanden.
Das Demonstrationsrecht muss gewahrt bleiben, gar keine Frage. Aber es muss doch jeder Gast die Möglichkeit haben, gerade hier vor einem Ausschuss des Europäischen Parlaments, in Ruhe seine Positionen darlegen zu können. Andernfalls werden immer weniger Gäste zu uns kommen, wenn sie Angst haben müssen, nicht nur verbal, sondern vielleicht sogar tätlich angegriffen zu werden. Ein Minimum an Sicherheit, insbesondere in derart kritischen Fällen wie beim Besuch eines türkischen Außenministers, müsste jedenfalls gewährt werden. In diesem Sinne werde ich mich auch an die Präsidentin des Parlaments wenden, um hier Abhilfe zu schaffen.  
Brüssel, 28.11.2000