Der Tag der Kritik

Viele BürgerInnen, aber auch viele im Europäischen Parlament verstehen nicht, warum ein derart langer Finanzierungszeitraum notwendig ist. Man wird sich bemühen müssen, völlig neue Budgetansätze zu finden.
Martin Schulz, unser Fraktionsvorsitzender, feiert heute seinen 50. Geburtstag und in seiner Gemeinde, wo er auch Bürgermeister war, findet ein großes Fest statt. Daher hat er mich gebeten, ihn bei einer Diskussion der ParlamentarierInnen mit Toni Blair über das Ergebnis der letzten Gipfelsitzung zu vertreten.

Konferenz der Präsidenten

Es handelt sich dabei um keine formelle Parlamentssitzung, sondern um eine sogenannte offene Konferenz der Präsidenten. Automatisches Rederecht haben dabei die Fraktionsvorsitzenden oder deren StellvertreterInnen, im konkreten Fall ich für die sozialdemokratische Fraktion. Zudem gibt es das sogenannte „catch the eye“-Prinzip. Dabei müssen die einzelnen Abgeordneten das Auge des Präsidenten „erwischen“, um eine kurze, einminütige Stellungsnahme abgeben zu können. Die Fraktionen legen aber auch Listen vor, um es dem Präsidenten zu erleichtern, auf gewisse Abgeordnete aufmerksam zu werden. Die Letztentscheidung, wer Rederecht erhält, obliegt aber dem Präsidenten.

1,045 statt 1,05

Toni Blair hat uns zweifellos weder mit Optimismus noch mit Begeisterung über das Ergebnis des Gipfels berichtet. Man hat sich auf einen Budgetvorschlag geeinigt, der geringer ausfällt als der Kompromiss von Luxemburg, der bekanntlich abgelehnt wurde. Der Budgetrahmen soll nunmehr statt 1,05 Prozent 1,045 Prozent betragen. Soweit es aus der heutigen Beurteilung erkennbar ist, muss dazu zweierlei festgehalten werden.
Erstens, der Prozess des Hin- und Herschiebens, das Zuckerlverteilen an einzelne Länder, um sie zur Zustimmung zu bewegen, ist eigentlich entwürdigend. Das führt automatisch dazu, dass diejenigen, die mehr zahlen müssen, aufschreien, und jene, die weniger bekommen, als sie sich erwartet haben, ebenfalls aufschreien. Die Konsequenzen dieser Vorgangsweise wurden nicht überlegt, und das ist beschämend. Für den europäischen Bürger, die europäische Bürgerin kann das kein zukunftweisendes europäisches Projekt sein.

Alibi-Budget

Wir sind ganz zweifellos vom geringen Budgetrahmen betroffen. Der Budgetrahmen der Europäischen Union fällt generell äußerst gering aus und stellt keineswegs eine großartige Manövriermasse für die Wirtschafts- und Konjunkturpolitik sowie die Strukturverbesserung dar. Es sind eigentlich nur kleine Ansätze bezogen auf die gesamte Wirtschaftsleistung Europas, die über das europäische Budget laufen. Es können incentives, Unterstützungen gegeben werden, aber eine eigentliche Wirtschafts-, Struktur- und Konjunkturpolitik ist kaum möglich.
Eine Ausnahme bildet die Landwirtschaft. Das ist jener Bereich, der vergemeinschaftet ist, also ein Bereich, in dem sich die EU-Politik vollständig im Budget niederschlägt bzw. das Budget vollständig die europäische Agrarpolitik wiederspiegelt. In anderen zentralen Bereichen wie Forschung, Entwicklung, etc. stellen die Ausgaben der Europäischen Union etwa 5-6 Prozent der Gesamtausgaben der öffentlichen bzw. privaten Forschung auf europäischer Ebene dar. Es handelt sich also lediglich um Zusatzmittel. Man kann Vernetzungen einreichen oder einzelne Projekte in den Vordergrund schieben. Aber man muss sich immer die Begrenztheit der Möglichkeiten europäischer Politik angesichts dieses Budgetrahmens vor Augen halten.

Abwägungen

Aufgrund dieser deutlich geringen Budgetleistung könnte man eigentlich meinen es sei egal, ob es sich beim Budget nun um 1,05 oder um 1,045 Prozent handelt. Genauso gut könnte man aber auch fragen, warum die Staats- und Regierungschefs eigentlich so knauserig sind. Die Kommission hat einen weit höheren Wert als notwendig angesetzt, das Parlament hat diesen Wert bereits unterschritten. Aber was die Regierungschefs jetzt anbieten, ist noch weit geringer.
Tatsache ist, dass es zu einer deutlichen Erhöhung der Budgetmittel für Forschung und Entwicklung kommen würde, wenngleich nicht die von der Kommission vorgeschlagene Verdoppelung, aber ein Plus von 60-70 Prozent. Allerdings verdrängt diese Erhöhung der Forschungsmittel zum Teil andere wichtige Aufgaben, insbesondere im Bereich der Infrastruktur, aber auch der direkten unternehmensbezogenen Innovationsförderung und muss daher mit einem skeptischen Blick betrachtet werden.
Darüber hinaus sind etliche Jugend-, Austausch- und Förderprogramme, die jungen Menschen die Chance geben sollen, Europa und seine Institutionen und Einrichtungen, seine Schulen und Universitäten kennen zu lernen, gravierend unterausgestattet. Das wäre ebenfalls ein Ansatzpunkt, wo wir vielleicht doch noch Verbesserungen in den Gesprächen, die zwischen dem Parlament und dem Rat stattfinden müssen, erreichen können.

Konstruktive Kritik

Ich habe den Schwerpunkt meiner fünf Minuten dauernden Rede bei der Konferenz der Präsidenten auf die Kritik gelegt. Vor der Aussprache mit Toni Blair hatten wir eine kurze Fraktionssitzung. Nachdem einer unserer Abgeordneten, der sehr erfahrene frühere Parlamentspräsident Klaus Hänsch, mehr Realismus anmahnte, habe ich ihm geantwortet: Heute ist der Tag der Kritik. Aber es muss zweifellos eine Kritik sein, die zugleich signalisiert, dass weitere Gespräche und Veränderungen notwendig sind. Und die signalisiert, dass man letztendlich zu einem Kompromiss kommen muss, der kaum wesentlich vom dem, was verhandelt wurde, entfernt sein wird.
Es kommt hinzu – und das sage ich durchaus auch als österreichischer Abgeordneter – , dass wir in den nächsten Jahren deutlich mehr zahlen werden. Das muss aber auch in Verbindung mit dem Nutzen gesehen werden, der gerade für Österreich aus der Erweiterung der Europäischen Union entsteht. Es ist trotzdem kaum vertret- und zumutbar, dass wir den ÖsterreicherInnen gewissermaßen eine deutliche Erhöhung der Finanzierungsmittel auf dem Tablett servieren.

Korrekturen vornehmen

Selbst wenn wir im Parlament den Beschluss des Rates kategorisch zurückweisen und darüber gar nicht wirklich verhandeln bzw. so verhandeln, dass es zu einem Scheitern der Verhandlungen kommen würde, muss man bedenken, dass wir dann eine Situation hätten, bei der wir bis zu einem gewissen Rahmen mehr Ausgaben budgetieren könnten, die sogenannten obligatorischen Ausgaben – hier vor allem die Landwirtschaftsausgaben – fix bleiben würden. Wir würden also nichts von der Landwirtschaft streichen, aber trotzdem zusätzliche Mittel einfordern. Das wiederum würde auf der Finanzierungsseite seinen Ausdruck bei den einzelnen Beiträgen der sogenannten Nettozahler finden.
Es wird auf der anderen Seite viele Abgeordnete aus Nettoempfängerländern geben, die trotz Kritik und Unmut über die geringen Zahlungen, die sie erhalten, dennoch zustimmen würden, um zumindest diese Zahlungen zu erhalten und nichts aufs Spiel zu setzen.
Ich gehe davon aus, dass wir uns im März, spätestens im April auf konkrete Zahlen einigen und im Europäischen Parlament einen entsprechenden Entschluss fassen werden. Im Rat wird man sich im wesentlichen auf die Ergebnisse des letzten Gipfels beziehen, aber doch kleine Korrekturen, die wir auch in der Öffentlichkeit entsprechend vertreten können, vornehmen.

Neue Budgetpolitik notwendig

Das sich dadurch ergebende Bild rundet die Britische Präsidentschaft durchaus im leicht positiven Sinn ab. Wir werden zwar nicht mit großer Begeisterung über diese Präsidentschaft sprechen, aber wir erkennen doch an, dass einige wesentliche Ansatzpunkte – selbst in der Budgetdiskussion – zumindest angerissen und angedacht worden sind. Es wurde ja auch beschlossen, dass in den kommenden Jahren, etwa ab dem Jahr 2008, die gesamte Frage der Budgetgestaltung inklusive der Agrarausgaben neu zu diskutieren wäre.
Das ist reichlich spät und ich wäre froh, würde man damit schon früher beginnen. Man könnte gerade in dieser Frage der Bevölkerung zeigen, dass wir sehr wohl über neue Strukturen nachdenken, selbst wenn wir jetzt für einen relativ langen Zeitraum von 2007-20013 eine Festlegung und Festschreibung der bestehenden Strukturen mit geringen Korrekturen vorgenommen haben.

Kürzere Finanzierungszeiträume

Viele BürgerInnen, aber auch viele im Europäischen Parlament verstehen eigentlich gar nicht, warum ein derart langer Finanzierungszeitraum notwendig ist. Er verkompliziert vieles. Zweifelsohne brauchen wir längerfristige Programme. Aber auch auf nationaler Ebene werden heute bereits jährliche oder zweijährige Budgets erstellt und längerfristige Finanzierungsperspektiven, insbesondere für langfristige Forschungs- und Entwicklungsprogramme angestrebt.
Man wird sich bemühen müssen, völlig neue Budgetansätze zu finden. Vielleicht können gerade auch aus den Gesprächen und Verhandlungen zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat einige solcher Gedanken in das Verhandlungsergebnis einfließen.

Problematisches Amalgam

Viele von uns sind hin- und hergerissen zwischen einem nicht befriedigenden Budget auf der einen Seite und einer gewissen Genugtuung auf der anderen Seite, dass es überhaupt gelungen ist, einen Budgetrahmen festzulegen. Gerade in Österreich findet derzeit eine heftige Debatte statt, die von einer stark gestiegenen Skepsis gegenüber der Europäischen Union getragen ist. Diese Skepsis mischt sich mit einer wieder gestiegenen Feindschaft und Animosität gegenüber Zuwanderung und ausländischen MitbürgerInnen und dem Ruf nach einer Stärkung der nationalen Interessensvertretung.
Hier braut sich ein äußerst problematisches Amalgam zusammen, das eine Anti-EU-Stimmung fördert. Aber es ist auch problematisch und schwierig für eine Oppositionspartei sich angesichts dieser Haltung zu positionieren. Die Versuchung, die anti-europäische Stimmung auch ins eigene Programm oder den Wahlkampf einzubringen, ist groß. Es ist außerdem durchaus gerechtfertigt, Kritikpunkte anzuführen – nicht nur aus einer Oppositionsrolle heraus gegenüber der österreichischen Regierung, sondern auch als Sozialdemokratie gegenüber Entwicklungen auf europäischer Ebene.

Konstruktiv an Europa arbeiten

Man muss dabei aber bedenken, dass Europa nicht nur durch neoliberale und konservative Strömungen definiert wird, sondern es auch sozialdemokratische Kräfte gibt. Außerdem stellt nicht alles, was mit Liberalisierung, Marktöffnung oder Erweiterung verbunden ist, ein neoliberales Projekt dar. Und schließlich sollte man gerade auch für die Europapolitik einer zukünftigen Bundesregierung eine Strategie entwickeln, die zumindest in den Ansätzen eine Chance hat, umgesetzt zu werden.
Vor allem wir als Europaabgeordnete sollten darauf drängen, Inputs für eine vernünftige, realistische Oppositionspolitik in diesem Bereich zu liefern – durchaus mit unseren Kritikpunkten an europäischen Entwicklungen. Wir müssen aber andererseits bei der Linie bleiben, konstruktiv an diesem Europa weiter zu arbeiten. Und dazu gehört auch eine kritische, aber konstruktive Begleitung der österreichischen Präsidentschaft. Diese österreichische Präsidentschaft tritt nicht als schwarz-blaue Bundesregierung auf, sondern institutionell als Vertreter der Regierungsseite, also des Rates. Deshalb gilt es, konstruktiv mit dieser Regierung zu verhandeln und eine positive Entwicklung in Europa voranzutreiben. Was wir heute vermittelt bekommen, ist oft eine Karikatur von Europa. So sehr ich das „Gefasel“, die bloß oberflächliche, pro-europäische Stimmung, die manche PolitikerInnen verbreiten, verabscheue, sosehr verabscheue ich zugleich die scheinradikale Karikatur, die über ein rein neoliberales Europa gezeichnet wird.

Taten statt Worte

Gerade in den letzen Monaten haben wir im Bereich der Chemikalienpolitik, also der Umweltpolitik im Bereich der chemischen Produkte, aber auch bei der Frage der Terrorismusbekämpfung, der Arbeitszeitregelung sehr gute Regelungen zustande gebracht.
Derzeit arbeiten wir daran, auch bei der Dienstleistungsrichtlinie zu einem vernünftigen Kompromiss zu kommen. In den entsprechenden Abstimmungen im Sozial- und im Binnenmarktausschuss des Europäischen Parlaments haben wir zwar nicht alles, aber doch einiges erreicht. Die entscheidende Abstimmung findet erst im Februar-Plenum statt, sodass wir in den nächsten Wochen und Montane noch Zeit haben, mit den anderen Fraktionen zu einem Konsens zu kommen. Gerade mit einigen Kräften aus christdemokratischen bis hinein in liberale Kreise sowie mit KollegInnen der Grünen wollen wir zu einer vernünftigen, tragfähigen Lösung kommen. Diese soll den europäischen Markt für Dienstleistungen durchaus ermöglichen, allerdings nicht auf Kosten der Sozialstandards, die wir in den schon weiter fortgeschrittenen europäischen Ländern bereits erreicht haben.
Brüssel, 20. Dezember 2005