Der Weg der kleinen Schritte

Ob die wenigen kleinen Fortschritte ausreichen, um eine gesunde Grundlage für die Zukunft des Kosovo zu erbringen, kann heute noch nicht gesagt werden. 
Es ist ein schöner, wolkenloser Frühlingsabend in Pristina. Soeben sind wir von Mitrovica zurückgekehrt. Fährt man über und durch das Land, sieht man eine gepflegte, grüne Landschaft. Man kann sich gar nicht vorstellen, dass hier vor einem Jahr noch Krieg geherrscht hat. Ein furchtbarer, grausamer Krieg. Würde man nicht immer wieder zerstörte, niedergebrannte Häuser, würde man nicht immer wieder internationales Militär sehen, man fühlte sich in einer glücklichen, schönen, ruhigen und beruhigenden Region Europas.

Gemeinsames Leid

Dass aber die Wunden des Krieges nicht geheilt sind, das haben wir schon in der Früh bei unserem ersten Termin mit Vertretern der Kosovo-Albaner und der Serben aus dem Kosovo gesehen. Wir sprachen über ihre Sorgen und Nöte hinsichtlich der großen Anzahl von Vermissten, die beide Seiten beklagen. Zum Teil ist es sicherlich aus Reaktion auf die Klagen der Albaner gedacht, dass auch die Serben nun über eine große Anzahl an Vermissten Beschwerde führen. Aber auch die serbischen Vertreter gaben unumwunden zu, dass es viele Vermisste und Verhaftete in Serbien gibt und dass sie sich selbst gegen das Regime von Milosevic wenden, der diese Verhaftungen vorgenommen hat und immer wieder vornehmen lässt.
Beiden ist also das Leid gemeinsam – auch wenn sie es uns vielleicht nicht gemeinsam, sondern mehr nebeneinander vorgetragen und um Hilfe und Unterstützung gebeten haben. Aber viel können wir angesichts des Regimes in Serbien, das natürlich auch immer wieder als Ausrede für nationalistische und zum Teil terroristische Aktivitäten einer Minderheit der Albaner dient – aber eben einer Minderheit, die genauso den Frieden im Kosovo gefährdet, wie Milosevic und seine Anhänger – nicht tun.

Die Übergangsregierung

Nach diesem Gespräch hatten wir eine Unterredung mit den vier Mitgliedern der Übergangsregierung des Kosovo. Es sind dies Hashim Thaci, der ehemalige Führer der UCK, also der Kosovo-Befreiungsarmee, Ibrahim Rugova, der Vorsitzende der demokratischen Liga des Kosovo – jener Mann der immer für die Unabhängigkeit des Kosovo, aber gleichzeitig für eine friedliche, passive Resistenz eingetreten ist -, Reship Kosha von der Vereinigten Demokratischen Bewegung und die Vertreterin der serbischen Gemeinschaft, Rada Taikavic. Diese vier Vertreter haben es noch nicht geschafft, einen Dialog untereinander zu führen – ich meine hier einerseits die Albaner, anderseits die serbische Vertreterin.
Es wurde viel über die Attentate gesprochen, die es gerade in letzter Zeit wieder gegeben hat, insbesondere gegen Serben. Weil die serbische Vertreterin eindeutig die Albaner dafür verantwortlich machte, meinten die Albaner, das könnten auch Vertreter von Milosevic gewesen sein, die verhindern wollen, dass es zu einer friedlichen Entwicklung im Kosovo kommt.

Kritik der Albaner

Auf meine Frage hin, ob Thaci nach wie vor Kritik an der internationalen Gemeinschaft zu üben habe – nämlich jene Kritik, die er uns und mir gegenüber auch im September des vorigen Jahres vorgebracht hat, dass der Chef von UNMIK und die internationale Gemeinschaft insgesamt die Albaner zu wenig in die Entscheidungen bezüglich des Kosovo mit einbeziehen – reagierte er verhalten.
Einerseits meinte er, diese Kritik vom Herbst vergangenen Jahres habe geholfen, sei fruchtbar gewesen und habe zu einer wesentlichen Verbesserung der Zusammenarbeit geführt. Andererseits jedoch betonte Thaci, dass noch einiges besser laufen könnte und es auch noch zu wenig Einbeziehung der Albaner gäbe. Positiv bewertete er, dass die Serben jetzt mitarbeiten, zumindest als Beobachter, denn Rada Taikavic ist vorerst nur Beobachterin. Und er führte an, dass die Aktivitäten von Vertretern Belgrads, insbesondere in Mitrovica, nach wie vor immer wieder neue Probleme schaffen würde.´
Thaci ist eindeutig derjenige albanische Vertreter, der aggressiver, kritischer und bestimmter wirkt. Und obwohl es immer wider Nachrichten gibt, dass Rugova als Person mehr Zustimmung in der Bevölkerung bekommt, ist Thaci sicherlich derjenige, der selbstbewusster und entschiedener auftritt.

Kritik der Serben

Diesem Gespräch folgte ein weiteres in einem größeren Kreis des Kosovo-Übergangsrates. Auch hier ging die Diskussion im selben Stil weiter. Die Serben berichteten von jüngsten Zwischenfällen, einer davon passierte gerade heute Früh – zwei Personen sind getötet, zwei Kinder und eine Frau schwer verwundet worden. Einer der serbischen Vertreter, Pater Sava von der orthodoxen Kirche, meinte, das seien keine Racheakte individueller Personen, sondern organisierte Aktionen, um die Serben aus dem Land zu vertreiben und sie zu vernichten. Im übrigen gäbe es wenig Fortschritt für die serbischen Teilnehmer an den gemeinsamen Organen des Kosovo. Und es sei sehr schwer, der eigenen Bevölkerung die Mitarbeit in diesen Organen klar zu machen, wenn es immer wieder zu diesen Attentaten komme und keine wirklichen Fortschritte bei der Integration der Serben in die Gesellschaft sichtbar seien.

Umstrittene Kosovo-Protection-Force

Wieder antworteten die Albaner, dass sie durchaus bereit sind für diese Integration und dass es keine organisierten Maßnahmen gegen die Serben gäbe. Selbst die heiß umstrittene Kosovo-Protection-Force, also jene unbewaffnete Truppe, die im Wesentlichen aus den ehemaligen Mitgliedern der Kosovo-Befreiungsarmee besteht, und die Überlegung, in diesen Truppenkörper auch Serben und Vertreter anderer Minderheiten verstärkt aufzunehmen, kann wahrscheinlich die Serben nicht wirklich beruhigen. Wer ist von serbischer Seite schon bereit, in die Kosovo-Befreiungsarmee bzw. in ihre Nachfolgeorganisation zu gehen? Würde man so Jemanden nicht sofort als Verräter, ja als Feind von den Serben selbst ansehen? Die Wunden sind noch zu frisch und der Krieg noch zu sehr in Erinnerung, um solche Dinge zu ermöglichen.

Ich fragte den anwesenden General der KFOR-Truppen, wie denn in der Praxis die einzelnen Truppenbestandteile aus den unterschiedlichen Ländern bei Konflikten reagieren und wie die Regeln des Eingreifens aussehen. Ich hatte nämlich vom österreichischen Vertreter hier in Pristina am Vorabend gehört, dass die einzelnen Armeeangehörigen, je nachdem, welchem Land sie angehören, sehr unterschiedliche Regeln haben, wann sie bereit sind, bei Konflikten einzugreifen. Und dass manche Probleme, insbesondere auch in Mitrovica, deshalb entstanden sind, weil gerade die Franzosen nur dann eingreifen, wenn sie selbst angegriffen werden, bei sonstigen Zwischenfällen, vor allem auch zwischen Serben und Albanern, aber eher zuschauen als versuchen, das Problem zu lösen.

Willkür im Konfliktfall

Die Antwort bestätigte diese Information. Es gibt 40 nationale Armee-Einheiten, die KFOR zur Verfügung gestellt wurden. Es gelten zwar NATO-Regeln, auch jetzt, nachdem das EURO-Chor die Leitung des Kosovo-Einsatzes übernommen hat. Aber letztendlich sind die unterschiedlichen nationalen militärischen Traditionen und auch das unterschiedliche nationale Equipment ausschlaggebend für das, was die einzelnen Truppenbestandteile tun und wie sie sich im Falle eines Konfliktes verhalten.
Mir scheint es inakzeptabel zu sein, dass hier gemeinsame Zielsetzungen vorhanden sind, aber eine sehr unterschiedliche Praxis beim Einsatz der Friedenstruppen im Konfliktfall gegeben ist.

Fortschritte in Mitrovica

Nach dieser Diskussion ging es dann nach Mitrovica, jener Stadt, wo Serben und Kosovo-Albaner heute noch aufeinander stoßen. Die Serben, die dort hauptsächlich leben und die Albaner im Südteil – getrennt durch einen Fluss, verbunden, aber zum Teil auch getrennt, durch Brücken. Es wird versucht, durch eine gemeinsam Aktion der EU, des Entwicklungsfonds der UNO und unter der Teilnahme von KFOR-Truppen, Projekte zu realisieren, die gleichzeitig auch Beschäftigung schaffen. Neue Parks werden angelegt, zum Teil auf dem Schutt zerstörter Häuser, neue Häuser werden aufgebaut, alte repariert. Alte Fabriken werden wieder hergestellt, der Rindermarkt ist gesäubert und wieder seiner Bestimmung übergeben worden und anderes mehr.
Dieses Konzept ist durchaus überzeugend: Werte für die Gemeinschaft zu schaffen, Jobs zu schaffen und zu versuchen, die Gemeinschaft aus Albanern, Serben, Türken, Bosniern und anderen wieder herzustellen. Die Vertreter der beiden Gemeinschaften, der Bürgermeisters des südlichen Teils, Baran Prisepi und der Vertreter des nördlichen serbischen Teils, Ivanovic, plädierten für die Ansiedlung neuer Betriebe, um Arbeitsplätze zu schaffen. Meine Befürchtung ist allerdings, dass wir kaum neue Investoren gewinnen werden.

Alter Streitfall Spital

Wenn nach wie vor eine große Unsicherheit besteht, wenn sich nach wie vor die beiden Gemeinschaften nicht einmal einigen können, das Spital, das sich im Nordteil der Stadt befindet, wirklich gemeinsam zu betreiben, mit einem gemischt ethnischen Personal und gemischt ethnischen Patienten, dann wird es doch kaum möglich sein, sehr viele neue Investoren anzuregen und anzusprechen. Die Vertreter der beiden Nationalitäten versuchten uns aber zu überzeugen, dass die Sicherheit weitaus größer ist, als in den Medien dargestellt wird. Dass zum Teil serbische Flüchtlinge wieder zurückkommen, wenngleich bisher nur in geringer Zahl. Und dass es Zeit braucht, bis sich die beiden Gemeinschaften wieder verstehen.
Ich war gedämpft optimistisch, denn immerhin sprachen die beiden Vertreter der albanischen und serbischen Gemeinschaft – zum Unterschied zu unserem letzen Besuchs im September hier in Mitrovica – schon miteinander, gab es andeutungsweise den einen oder anderen Witz, war die Atmosphäre insgesamt nicht mehr so kühl und so eisig. Der ehemalige amerikanische General Nash, der hier als Administrator tätig ist, leistet meiner Ansicht nach jedenfalls gute Arbeit – unkonventionell, pragmatisch, hemdsärmelig -, und hat einige, wenngleich bescheidene, Erfolge aufzuweisen.

Zu frühe Wahlen

Allerdings, dass die Serben im Nordteil immer noch nicht wirklich bereit sind, das Spital den Albanern verstärkt zu öffnen und dass die Serben auch nicht an den Lokalwahlen teilnehmen werden, sind nicht gerade ermutigende Zeichen. Obwohl ich zugeben muss, dass ich ein gewisses Verständnis dafür habe, dass die Serben an diesen Wahlen – die mir überdies grundsätzlich zu früh zu kommen scheinen – nicht teilnehmen wollen.
Die Serben können kaum aus ihren Enklaven heraus, also werden für sie seperate Wahlstationen errichtet, aber eine wirklich politische Tätigkeit ist für die serbische Gemeinschaft kaum möglich. Und der Großteil der Serben ist ja geflohen und nicht wieder zurückgekehrt – sie haben zwar formal nach wie vor ein Wahlrecht und könnten sich auf Ämtern entlang der Grenze zu Serbien auch registrieren lassen, aber ich glaube kaum, dass das von vielen ausgenützt wird bzw. ausgenützt werden könnte, da natürlich Milosevic absolut gegen diese Wahlen im Kosovo eintritt.
So bin ich mir nicht sicher, ob diese Wahlen im Herbst wirklich effektiv sein werden. Allerdings gibt es auch für die serbische Gemeinschaft eine Möglichkeit, unabhängig von der Anzahl der Wähler, ein Minimum an Gemeindevertretern zu reservieren. Denn sicherlich sind sie in einer ungemein schwierigeren Lage, als es die Albaner heute sind. Und so haben sich die Dinge umgedreht. Denn als der Kosovo effektiv zu Jugoslawien gehörte, haben die Albaner die Wahl boykottiert. Und heute sind es die Serben.
Vielleicht haben beide gute Gründe anzuführen. Für die Entwicklung der Demokratie ist ein Boykott von Wahlen allerdings kaum sehr förderlich.

Gedämpfter Optimismus

Es gibt aber trotzdem unterm Strich kleine, wenige Fortschritte. Die Serben nehmen, wenngleich auch nur als Beobachter, an den zentralen politischen Organen dieses Landes teil. Sie reden mit den Albanern und die Albaner reden mit ihnen. In Mitrovica wird nicht mehr nur über die Vergangenheit nachgedacht, sondern vielmehr über die Gegenwart und ein bisschen auch über die Zukunft. Die EU hat einige Projekte verwirklicht, ist mit viel Engagement dabei, gerade in einer so kritischen Region wie in Mitrovica, auf beiden Seiten der Stadt Zeichen des Friedens und der öffentlichen Verantwortung und auch Arbeitsplätze zu schaffen.
Ob das ausreicht, um eine gesunde Grundlage für die Zukunft zu erbringen, kann heute noch nicht gesagt werden, aber schon die Anstrengungen allein sind positiv zu sehen. In diesem Sinn ist noch nicht viel erreicht worden, aber wahrscheinlich konnte in dieser kurzen Zeit gar nicht mehr erreicht werden. Wenn es aber nicht bald gelingt, die Sicherheit der Bewohner, in diesem Fall insbesondere der serbischen Bewohner, zu erhöhen, dann wird es den Serben immer schwerer gemacht, am Aufbau des neuen Kosovo teilzunehmen. Sie haben viel Schuld auf sich geladen, zumindestens der Großteil der politisch Verantwortlichen. Und es mag manche Kosovo-Albaner freuen, wenn manche Serben nicht am Aufbau des zukünftigen Kosovo teilnehmen. Uns in Europa kann es allerdings nicht freuen, und es täte auch dem Land nicht gut – und der Region schon gar nicht.
Pristina, 2.6.2000