Die Annäherung der Türkei an Europa

Es gibt zwei Wege, um das längerfristige Verhältnis zwischen Europa und der Türkei neu zu gestalten: eine enge Partnerschaft oder die Mitgliedschaft.  
Für das Wochenende vom 22. bis 24. Oktober war wieder einmal ein Besuch in der Türkei angesagt. Die Frage, ob die Türkei offiziell als Kandidat für den Beitritt zur EU anerkannt werden sollte, hat die Wogen – auch in unserer Fraktion – hochgehen lassen. Sie wurde vornehmlich kurzfristig und moralisch bewertet und aus meiner Sicht zu wenig langfristig und strategisch.
Ich meine damit nicht strategisch im Sinne politisch-militärischer Überlegungen, sondern im Sinne einer positiven Beeinflussung der Entwicklung in der Türkei selbst und des Verhältnisses der Türkei mit ihren Nachbarn.

Papandreou als Hoffnungsträger

In diesem Sinn hat der griechische Außenminister Georgios Papandreou schon vor den Erdbeben in der Türkei und in Griechenland zwar einerseits risikoreiche, aber andererseits zukunftsweisende Politik begonnen. Ich konnte selbst mit ihm darüber anläßlich der Balkankonferenz in Wien im Sommer dieses Jahres sprechen.
Papandreou erkannte, daß eine Politik der Isolierung nur die nationalistischen Kräfte in der Türkei stärken würde. Das wiederum verringert die Möglichkeiten der demokratischen Kräfte in der Türkei und der Entspannungspolitik hinsichtlich Zypern. Für Griechenland selbst bedeutet diese Politik der permanenten Spannung nicht zuletzt unnötig hohe Militärausgaben für ein relativ kleines Land.
Wer Papandreou kennt, weiß, daß ihm Menschenrechte, Demokratie und Frieden höchste Anliegen sind – aber gerade deshalb sucht er die Entspannung und die Stärkung der westlich orientierten Kräfte in der Türkei. Das geht aber nur über die Öffnung der Türkei und die Annäherung an Griechenland und Europa insgesamt. Ich teile hundertprozentig diese Meinung. Wie schon erwähnt: Auch diese Politik muß nicht von Erfolg gekrönt sein bzw. der Erfolg kann länger auf sich warten lassen, als uns recht wäre; aber dennoch halte ich dieses Risiko für gering im Verhältnis zum möglichen Erfolg.
Mit dieser Grundeinstellung begann ich die Reise nach Ankara, der ersten Station meines Türkeiaufenthaltes, wo der österreichische Botschafter Dr. Scheide meine umsichtige Betreuung übernahm. Der erste „Arbeitstag“ begann mit einem Pressefrühstück. Die Tatsache, daß ich bereits in den vergangenen Wochen in den türkischen Medien zur Frage der möglichen EU-Mitgliedschaft der Türkei von Brüssel aus gegeben hatte und daß ich im „letzten“ EU-Parlament Berichterstatter für die Türkei war, hat viele Journalisten bewogen, sich zu diesem Pressegespräch anzumelden.
Allerdings kam dann ein tragisches Attentat dazwischen. Einer der bekanntesten türkischen Journalisten und Kämpfer für den Laizismus, Ahmet Taner Kislali von der Tageszeitung Cumhurriyet, fiel einem Bombenanschlag zum Opfer. Sofort wurden islamistische Kräfte dafür verantwortlich gemacht, denen unterstellt wurde, daß sie den Weg der Türkei nach Europa unterbinden wollen. Jedenfalls war es natürlich für viele Journalisten wichtiger, dieses Ereignis zu recherchieren als über meinen Besuch aus „Europa“ zu berichten.
Dennoch, einige Interviews in den Printmedien (siehe zum Beispiel den Ausschnitt aus den „turkish daily news“) und in mehreren Fernsehstationen überbrachten meine Botschaft: Ja, die Türkei hat einige wesentliche Verbesserungen auf dem Gebiet der Demokratie und der Menschenrechte umgesetzt, aber noch vieles bleibt zu tun, und falls die Türkei beim Rat von Helsinki als Kandidat anerkannt werden sollte, wird Europa weitere Schritte verlangen.

Zwei mögliche Wege zur Neugestaltung des Verhältnisses EU-Türkei

Mir ging es bei allen Gesprächen darum, meinen türkischen Gesprächspartnern zu vermitteln, daß es zwei Wege gibt, um das längerfristige Verhältnis zwischen Europa und der Türkei neu zu gestalten: Einerseits eine enge Partnerschaft, andererseits die Mitgliedschaft.
Beide Wege verlangen eine Angleichung an europäische Standards, die zweite Alternative natürlich ungleich mehr und intensiv. Wenn die Türkei die Alternative der Mitgliedschaft wählt, dann muß sie die notwendigen Veränderungen rasch vollziehen, um den Anschluß an Europa, das sich ja selbst in einem fortdauernden und fortschreitenden Integrationsprozeß befindet, nicht zu verlieren.
Wenn es aber ohnedies diese zwei Wege gibt, warum sollte sich die EU dann noch heuer den Kandidatenstatus für die Türkei überlegen? Erstens haben wir bereits in mehreren Erklärungen diesen Weg für die Türkei als gangbar bezeichnet. Und zweitens verwenden viele in der Türkei die Verweigerung des Kandidatenstatus als Ausrede, sich vom europäischen Weg abzuwenden. Wir wollen aber durch eine negative Haltung der EU nicht diese Gruppierungen stärken, sondern durch positive Signale jene motivieren, die für Demokratie, Menschenrechte und ein friedliches Zusammenleben mit den Nachbarn eintreten.
Meine beiden ersten Gesprächspartner in Ankara waren der Vorsitzende des EU- Ausschusses, Kürsat Eser sowie der Vorsitzende des außenpolitischen Ausschusses, Kamran Inan. Während der erste neu in seiner Funktion ist, ist Inan ein ehemaliger Außenminister und generell ein alter Hase der türkischen Politik. Er kennt auch Österreich sehr gut und zeigte sich besorgt über die im Wahlergebnis vom 3. Oktober zum Ausdruck gekommenen nationalistischen Strömungen.
Mein nächster Termin fand im Außenministerium statt, wo ich einen der Spitzendiplomaten des Landes, Faruk Logoglu, traf. Er beendete soeben das Gespräch mit der griechischen Delegation, die ebenfalls in Ankara weilte – eine für frühere Verhältnisse ungewöhnliche Situation. Auch bei ihm merkte man eine viel offenere Haltung, insbesondere was Griechenland, aber auch was eine mögliche Lösung der Zypernfrage betrifft.
Ich hatte Faruk Logoglu schon früher kennengelernt und sah in ihm einen seinem Land und dessen Interessen verpflichteten, aber weltoffenen Diplomaten, der allerdings entgegen den Vorurteilen seinem Berufstand gegenüber offen, klar und eindeutig argumentierte.
Zum Mittagessen in der österreichischen Botschaft kamen die Botschafter bzw. Erstzugeteilte aller EU-Staaten. Etliche von ihnen kannte ich schon von früheren Besuchen in Ankara. Viele von ihnen sind kritische und kenntnisreiche Beobachter der Entwicklungen in der Türkei. Auch sie sahen positive Veränderungen, nicht zuletzt auch im Verhältnis zu den Kurden. Und auch sie hofften auf eine klare Entscheidung beim Rat in Helsinki.

Lockerung des türkischen Rechtssystems

Um die vergangenen, aber vor allem zukünftigen Veränderungen ging es beim ausführlichen Gespräch mit dem türkischen Justizminister, Hikmet Sami Türk. Auch er ist ein alter Hase in der türkischen Politik und hat zuletzt so unterschiedliche Positionen wie die des Ministers für Menschenrechtsfragen und des Verteidigungsministers innegehabt.
Sami Türk spricht ein ausgezeichnetes, gepflegtes Deutsch. Und es war im Inhalt und in der Form ein großes Vergnügen, der Vorstellung seiner Gesetzesvorhaben zuzuhören. Er hat vor, das türkische Rechtssystem neuerlich – im Nachvollzug – an die europäischen Standards, wie schon unter Atatürk, anzupassen: von der Gleichstellung der Frau bis zur Strafprozeßordnung.
Nur bezüglich eines Vorhabens sieht Türk große Schwierigkeiten: bei der Abschaffung der Todesstrafe. Zwar hat die Türkei seit vielen Jahren kein Todesurteil mehr vollstreckt, aber im laufenden Verfahren nach der Verhängung der Todesstrafe gegen Abdullah Öcalan sieht er keine Chance, dieses Gesetzesvorhaben durchzusetzen.
Grundsätzlich zweifle ich nicht an den guten Absichten des Justizministers Türk, aber mit der Umsetzung in die Praxis wird es noch lange dauern.

Wiedersehen mit Akin Birdal

Unmittelbar vom Justizminister ging es zu einem der prominentesten Gefangenen der Republik, der derzeit nur aufgrund seiner angeschlagenen Gesundheit die Gefängnisstrafe unterbrechen durfte, zu Akin Birdal. Wir saßen in jenem Zimmer, in dem Akin Birdal durch mehrere Schüsse lebensgefährlich verletzt worden war – die Einschußlöcher in den Türen waren noch deutlich sichtbar.
Auch heute leidet Birdal stark unter den Folgen dieses Attentates. Dennoch mußte er für einige Monate ins Gefängnis und darf keine offizielle Funktion mehr ausüben, da er sich für eine bessere Behandlung der Kurden ausgesprochen hat, was ihm den Vorwurf des Separatismus eintrug. Am Tag vor unserem Treffen wurde ihm allerdings sogar die Ausreise nach Deutschland zum Empfang für eine Auszeichnung für seinen Kampf um die Menschenrechte gewährt.
Das Verhältnis der türkischen Behörden gegenüber Akin Birdal ist ein Musterbeispiel für das widersprüchliche Verhalten der Türkei. Verunglimpfung und Verurteilung von Birdal, gefolgt von Besuchen im Krankenhaus durch höchste staatliche Repräsentanten nach dem Attentat gehen Hand in Hand mit Zwang zum Antritt der Haftstrafe und danach Unterbrechung und Genehmigung einer Auslandsreise etc. Und so empfing auch Staatspräsident Demirel die Bürgermeister der „kurdischen“ HADEP-Partei aus dem Süd-Osten des Landes, aber der Staat gibt ihnen nicht genügend Geld, um ihre simpelsten Aufgaben zu erledigen.
Auch Akin Birdal wünscht sich eine Annäherung zwischen der EU und der Türkei. Denn auch er und seine Mitarbeiter erhoffen sich davon eine stärkere Stellung in ihrem Kampf um Menschenrechte und insbesondere um die Rechte der Kurden.
Auf ausdrücklichen Wunsch des Vorsitzenden der islamistischen Refah-Partei machte ich in Ankara schließlich noch einen Besuch im Hauptquartier dieser Partei. Ihr Vorsitzender Kutan konnte zwar zu diesem Zeitpunkt nicht anwesend sein, aber sein Stellvertreter, den ich schon des öfteren getroffen hatte und eine Abgeordnete aus Ankara erklärten mir die aus ihrer Sicht eindeutig tolerante und neuerdings auch proeuropäische Haltung ihrer Partei.
Wenn Europa den Islam und eine vornehmlich islamische Türkei akzeptieren, dann akzeptieren die Islamisten auch Europa. Und überdies erhoffen sie, die sich in der Türkei oft durch eine extrem laizistische Haltung des Staates diskriminiert fühlen, eine Stärkung ihrer Menschenrechte (beispielsweise wenn die Studentinnen an der Universität ein Kopftuch tragen möchten!).

Istanbuler Impressionen

Nach diesen interessanten Gesprächen mit Vertretern eines großen Spektrums der türkischen Politik ging es weiter nach Istanbul.

Im Mittelpunkt dieses Aufenthaltes standen mehrere Treffen mit einem der größten Bauunternehmer der Türkei und wahrscheinlich Europas – dem Eigentümer der Firma ENKA, Sarik Tara. Ich bin froh, daß ich über Vermittlung von Jürgen Gramke, dem Leiter des „Institute for European Affairs“ und des „Pro Baltica Forums“ die Bekanntschaft dieses beeindruckenden Mannes gemacht habe. Sarik Tara ist eine komplexe und faszinierende Persönlichkeit. Seine Mutter war Türkin, sein Vater Bosnier, er selbst wurde in Bosnien geboren und wuchs dort auf. Tara ging aber in eine serbische Schule. Er spricht deshalb nicht nur diese Sprache, sondern auch perfekt Deutsch und Englisch.

Politisches Mäzentum

Sarik Tara ist nicht nur Unternehmer, sondern auch politisch sehr interessiert und im Sinne der Völkerverständigung tätig. Er bemüht sich insbesondere um ein gutes Verhältnis zwischen der Türkei und Griechenland. Tara ist darüber hinaus ein großzügiger Mäzen und hat in Istanbul eine große Sportanlage mit Kindergarten und Schule errichtet, wo mit modernster und fortschrittlichster Pädagogik unterrichtet wird. Und diese Einrichtungen sind nicht nur für die Kinder der Reichen da – spezielle Unterstützungen ermöglichen auch ärmeren Kindern, diese Bildungsinstitution zu besuchen. Auch ein von ihm finanziertes Jugendorchester und ein toller Konzertsaal sind in der Anlage beheimatet.
In unmittelbarer Zukunft möchte Sarik Tara die Errichtung einer Universität finanzieren.
Besonders faszinierend war für mich das Abendessen in Taras mit gut ausgewählten Kunstgegenständen versehenem Haus. Der Bürgermeister von Athen war sein Hauptgast an diesem Abend. Weitere westlich orientierte Unternehmerpersönlichkeiten der Türkei waren an diesem Abend anwesend – so der neue Präsident des Unternehmerverbandes TÜSIAD, Erkut Yücaoglu, den ich erst vor kurzem in Brüssel kennengelernt hatte.
Das Wiedersehen mit dem Bürgermeister von Athen, Avramopoulos, war für mich außerordentlich erfreulich. Gemeinsam mit ihm hatte ich vor einigen Jahren – aufgrund seiner Initiative – die Konferenz der südosteuropäischen Bürgermeister gegründet. Leider gelang es ihm damals nicht, die Bürgermeister von Istanbul und Ankara zur Teilnahme zu bewegen. Dennoch war es ein großer Erfolg, den stellvertretenden Bürgermeister von Sarajewo mit an Bord zu haben – auch im tatsächlichen Sinn, denn das erste Treffen fand zum Teil auf einem Schiff statt.
Avramopoulos und ich hatten eine sehr gute Zusammenarbeit bei dieser Konferenz und auch noch danach bei der Nachfolgetagung in Wien. Es hat mich daher besonders gefreut, daß er bei einer kurzen Ansprache bei unserem Abendessen in Istanbul diese Zusammenarbeit besonders nachdrücklich gelobt hat. Und es war auch eine Freude zu erleben, wie Persönlichkeiten aus der Politik und der Wirtschaft fähig sein können, über die Grenzen ihrer Partei und ihrer Länder und des gegenseitigen Mißtrauens hinweg an Projekten der Zukunft zu arbeiten.
 
Istanbul, 24.10.1999