Die arabische Welt, der Islam und Europa

Kairo

Kairo

Die jüngsten Entwicklungen im Norden Afrikas und im Nahen Osten haben Europa am falschen Fuß erfasst. Wir waren alle überrascht von den Ereignissen, auch wenn viele von uns wussten, dass die Verhältnisse in vielen arabischen Ländern auf Dauer so bleiben nicht konnten. Aber der Zeitpunkt und die ersten Orte der Revolutionen kamen dann doch überraschend.

Jahrelange Auseinandersetzung

Seit Jahren haben wir uns im Europäischen Parlament und bei verschiedenen Besuchen in den betreffenden Ländern mit der Menschenrechtslage beschäftigt. Auch Fragen der Meinungsfreiheit und des Medienpluralismus wurden immer wieder thematisiert. Ich glaube nicht, dass die VertreterInnen der Mitgliedstaaten und der EU-Kommission das ebenso gemacht haben. Dabei gebe ich zu, dass dies für die ParlamentarierInnen einfacher ist als für die RegierungsvertreterInnen.

Man muss auch zugeben, dass es immer schwer ist zu beurteilen, inwieweit ein autoritäres Regime breite Unterstützung genießt oder nicht. Und natürlich ist es kurzfristig bequem, die Stabilität und Sicherheit solcher Regimes und Regierungen zu akzeptieren anstatt risikoreichere Entwicklungen demokratischer Wahlen zu fördern, an denen sich die „Islamisten“ beteiligen können. Aber all das gilt nur kurzfristig. Denn auch unter den Regimes in Ägypten und Algerien haben die Fundamentalisten an Einfluss gewonnen bzw. haben die Regierungen zum Teils selbst die islamistische Karte gespielt. Jetzt geht es vor allem darum, diejenigen unter den Muslimbrüdern zu unterstützen, die sich zur Demokratie und zur Akzeptanz anderer Religionen bekennen. Hoffentlich ist es dafür noch nicht zu spät.

Transformationsprozess unterstützen

Natürlich hatten vor allem die USA und auch Israel ein Interesse an der Stabilität der autoritären Regierungen. Sie waren der beste Garant dafür, dass die Menschen in Schach gehalten wurden und damit auch die Unterstützung für die Palästinenser bloß in wenigen und manchmal organisierten Demonstrationen zum Ausdruck kam. Israel betonte zwar immer, dass es die einzige Demokratie im Nahen Osten sein, aber es hatte auch kein Interesse an der Entfaltung von Demokratie in seiner Nachbarschaft. Das zeigt auch die nervöse Reaktion auf die Demonstrationen in Tunesien und Ägypten.

Ich meine allerdings, dass wir alle – die Europäer, die Amerikaner und Israel – ein großes Interesse an der Entwicklung der Demokratie in der arabischen Welt haben sollten. Dabei bin ich nicht so naiv zu glauben, dass dieser Transformationsprozess ohne Schwierigkeiten, Rückschläge und Verwerfungen abgehen könnte. Da werden sich die Vertreter der alten Regimes und radikale Islamisten unter die Demonstranten und die „Erneuerer“ mischen. Die einen wollen möglichst viel von den meist widerrechtlich angehäuften Reichtümern und Privilegien retten. Die anderen wieder wollen als Revolutionäre der ersten Stunde auftreten. Wir aber sollten jenen helfen, die eine wirkliche demokratische Erneuerung wollen und weder der Herrschaft der alten Klasse noch einer Herrschaft der neuen, islamistischen Klasse Raum geben wollen.

Aus den Fehlern lernen

Dabei gehört zur Demokratie in den islamischen Ländern heute sicher auch die Kandidatur islamischer Parteien. Und man darf sich selbst fundamentalistische Gruppen nicht immer als verschwörerische Geheimbünde vorstellen, deren Vertreter islamistische Rauschebärte tragen. Ich habe viele Vertreter auch der Muslimbruderschaft getroffen, die kaum von anderen, modern orientierten Arabern zu unterscheiden sind. Viele von ihnen sind Techniker, Ärzte etc. Oftmals boten fundamentalistische Gruppierungen die einzige Chance einer organisierten Opposition. Nun kommt es darauf an, all jene Gruppen zu unterstützen, die eine moderne Demokratie entwickeln wollen und sich zum Respekt gegenüber den Menschenrechten bekennen. Für uns schließt dies selbstverständlich auch den Respekt gegenüber religiösen Minderheiten ein. Es ist nicht vorgegeben, zu welchen Erneuerungen die Revolutionen führen werden und ob eine „echte“ Demokratie“ entsteht. Aber es geht eben nicht um ein distanziertes Zusehen, sondern um ein engagiertes Unterstützen.

Jedenfalls ist jetzt die Stunde einer klugen, differenzierten, aber zugleich engagierten Strategie unseren Nachbarn gegenüber gekommen. Wir sollten dabei aus den Fehlern der Vergangenheit lernen. Am schlimmsten verhielten wir uns im Falle des Iran und hatten bzw. haben daher dort die schlimmsten Auswirkungen zu erleiden. Wir unterstützten das Schah-Regime mit seiner berüchtigten Geheimpolizei. Die USA und die Engländer stürzten die demokratische gewählte und populäre Regierung von Ministerpräsident Mossadegh, weil dieser die Erdölunternehmungen verstaatlichen wollte. Und dann wunderten wir uns, dass die schiitische Geistlichkeit unter Führung von Ayatollah Khomeini die Macht übernahm! In der jüngsten Zeit verhielt sich der Westen schon geschickter, aber noch immer nicht rasch und deutlich genug.

Grundsatzentscheidung

Wir müssen allerdings nicht nur die Strategie gegenüber den südlichen Nachbarn überdenken, sondern generell entscheiden, wie wir mit autoritären oder gar diktatorischen Regimes umgehen. Die Fragen der Menschenrechte, der demokratischen Entwicklung und vor allem die Probleme einer extrem ungleichen Verteilung von Einkommen, Vermögen und Chancen müssen in unseren Beziehungen mit unseren Nachbarn viel mehr und deutlicher angesprochen werden.

Entsprechende Anträge habe ich auch bei den derzeit im außenpolitischen Ausschuss zur Diskussion stehenden Berichten zur Nachbarschaftspolitik und generell zur Außen- und Sicherheitspolitik eingebracht. Aber das darf nun nicht heißen, dass unsere internationalen und bilateralen Beziehungen nur mehr nach moralischen Grundsätzen zu gestalten sind und wir demgemäß nur mit Demokratien politische und wirtschaftliche Beziehungen aufrechterhalten dürfen.

Diskurs der Doppelmoral stoppen

So hat Christian Geyer in einem Kommentar in der FAZ mit Recht gefordert: „Stoppt den Diskurs der Doppelmoral. (…) Denn sie verkennt das Chaos, in dem die Welt versinken würde, wenn Moral das einzige Interesse wäre, das die Politik unter ihren Hut zu bringen hätte.“ Auch ich sehe, wie der Kommentator der FAZ, keinen grundsätzlichen Gegensatz von Moral und Realpolitik. Aber wenn einmal die Bevölkerung in einem Lande selbst bereit ist, das Joch der ungerechten und gewaltsamen Herrschaft abzuschütteln, sollten wir klar auf dessen Seite stehen und die Diktatoren zum Gehen auffordern.

Und im Übrigen sind diese Revolutionen keine nachträgliche Rechtfertigung für die sogenannte Demokratisierungsstrategie von George W. Bush. Denn er hat nichts zur Demokratisierung dieser Region beigetragen. Weder die schönen Sprüche noch der Irakkrieg haben die jungen Menschen in Tunis und Kairo motiviert. Sie hatten einfach genug von den selbstherrlichen Präsidenten und deren Cliquen. Und sie hatten neue Möglichkeiten der Kommunikation über Facebook und Twitter.

Helfen, wenn es die Menschen brauchen

Ich hoffe, die Demokratisierungswelle in dieser Region geht weiter. Und natürlich hoffe ich dabei auf friedliche Entwicklungen. Auch in unserer östlichen Nachbarschaft, vor allem in Zentralasien, wäre es höchst an der Zeit, einige langjährige Präsidenten abzulösen und der Demokratie eine Chance zu geben. Europa sollte sich darauf vorbereiten und ohne Einmischung in die innere Angelegenheit von Staaten dann mithelfen, wenn die betreffende Bevölkerung uns dazu braucht.

Einer, der den Umbruch im ehemals kommunistischen Europa besonders intensiv und klug beobachtet und analysiert hat, Timothy Garton Ash, hat die Bedeutung des europäischen Engagements deutlich hervorgehoben. So meinte er kürzlich in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung: „ Niemand hat mehr Erfahrung mit den komplizierten Wegen des Übergangs von Diktaturen zur Demokratie als die Europäer. (…) Und Europa ist der Platz auf der Welt, zu dem es junge Araber zieht – zu Besuch, zum Studieren, zum Arbeiten. Ihre Brüder und Schwestern sind schon hier. Diese enge Verknüpfung ist ein Problem und eine große Gelegenheit zugleich.“ Wir sollten diese Gelegenheit beim Schopf packen und zwar rasch.

PS.: Wer sich unterhaltsam und spannend über das jetzt – hoffentlich – zusammenbrechende System Mubarak informieren möchte, dem empfehle ich den Roman „Jakubijan Bau“ von Alaa al-Aswani, für das er 2008 mit Bruno Kreisky-Preis für das politische Buch ausgezeichnet wurde. In meiner damaligen Rede anlässlich der Preisverleihung bemerkte ich dazu: „Der ägyptische Zahnarzt hat mit seinem Roman eine sehr lesbare Anamnese und Diagnose über die arabische/islamische Welt verfasst. Die Charaktere seines Werkes sind präzise und eindeutig beschrieben. Sie befinden sich allerdings alle in sehr komplexen Verhältnissen, und diese werden zum Teil im Laufe der Handlungen immer komplexer. Die Vielfältigkeit und die Widersprüchlichkeit des Jakubinischen Baus wiederspiegeln dabei die ebenso widersprüchliche ägyptische Gesellschaft.
Für al-Aswani ist „der Fundamentalismus das Resultat von Diktaturen“. Und für ihn steht fest: „Die Demokratie kennt nur eine Form, und diese ist längst nicht mehr nur eine westliche, sondern eine allgemein menschliche Idee.“ „Diese Idee müssen wir immer wieder in unserem Dialog mit der arabischen/islamischen Welt zur Sprache bringen. Das Schlimmste ist die militärische Bekämpfung des Terrorismus, kombiniert mit einer bedingungslosen Unterstützung autoritärer und diktatorischer Regime. Das ist bzw. war die amerikanische Strategie zur Demokratisierung der arabischen Welt. Wie erfolgreich dieser Weg ist, kann man täglich erleben. Europa sollte einen anderen Weg gehen. Aus dem Werk von al-Aswani kann man dazu viel lernen, und dafür sind wir ihm sehr dankbar.“
Ich bin stolz darauf, dass ich dem Autor den Bruno Kreisky-Preis für das politische Buch überreichen durfte.

Wien, 6.2.2011