Die Gefahr des Rückschritts

Das Ziel Europas muss es sein, die Gemeinschaft als Gesamtes weiterzuentwickeln: mit der Kommission und dem direkt gewählten Parlament. 
Ein für Europa wichtiges Ereignis war die Rede Romano Prodis vor dem Plenum des Europäischen Parlaments am Dienstag. In ungewöhnlicher Klarheit hat sich Prodi gegen jegliche Formen der Stärkung einer Teil-EU innerhalb der EU, wie sie aus einer verstärkten Zusammenarbeit einiger europäischer Länder mit getrennten Sekretariaten ohne Rücksicht auf die gesamteuropäischen Institutionen Kommission und Parlament entstehen könnte, ausgesprochen.

Kommission und Parlament nicht zurückdrängen

Nicht, dass es eine verstärkte Zusammenarbeit einiger Länder geben wird und geben können muss, ist in diesem Zusammenhang das Problem, sondern eine Zusammenarbeit, die primär auf Regierungsebene funktioniert, stellt eine Gefahr dar: eine Kooperation der Regierungen, die die Kommission und das Parlament in den Hintergrund drängt.
Unser Ziel muss es daher sein, die Gemeinschaft als Gesamtes weiterzuentwickeln: mit der Kommission und dem direkt gewählten Parlament. Das war eine deutliche Ansage von Prodi, und viele freuten sich, dass er endlich den Mut gehabt hat, ein klares Bekenntnis zu einem starken gemeinsamen Europa zu geben. Denn das ist genau das, was einige von den Delegationsleitern der sozialdemokratischen Fraktion, vor allem ich selbst, Prodi vor etlichen Tagen bei einem abendlichen Arbeitsessen ziemlich deutlich gesagt haben. Wir haben ihn gedrängt, auch einmal auf den Tisch zu hauen und klar zu vermitteln, worum es ihm geht. Das hat ein bißchen dazu beigetragen, dass er den Mut und die Stärke dafür gefunden hat.

Nationale Interessen

Es wird nicht leicht sein, sein klares Konzept umzusetzen. Denn die Mitgliedsländer und ihre Regierungen sind an einem derart starken Europa mit einer starker Kommission und einem starken Parlament nicht gerade interessiert. Deshalb hat auch unser Fraktionsvorsitzender, ich würde sagen leider, auf die Rede Prodis zurückhaltend reagiert. Natürlich ist er in einer schwierigeren Lage, weil er der Fraktionsvorsitzende einer europäischen Partei ist, die über die Mitgliedsparteien in den einzelnen Ländern sehr viele Regierungen und Minister stellt. Und es ist weder sinnvoll noch glaubwürdig, wenn er die Kommission eindeutig gegen diese Mitgliedsländer vertritt.
Aber die Zielrichtung muss doch klar sein. Und dazu müssen wir unseren Regierungen klar machen, dass eine Schwächung Europas, eine verstärke Unübersichtlichkeit, zum Beispiel was Tony Blair jetzt wieder in Warschau vorgetragen hat , nämlich eine zweite bzw. dritte Kammer des Parlaments, nicht dazu beiträgt, Europa zu stärken. Aber vielleicht wird das auch gar nicht gewollt.

Konsequent bleiben

Viele haben nicht den Mut, den Aufbau Europas konsequent fortzusetzen. Nicht, dass mir die Bürokratie der Kommission in Brüssel als Non plus ultura erscheint. Aber je mehr ich von der Stärke der gemeinschaftlichen Organe weg gehe, in Richtung Zusammenarbeit der Regierungen, desto weniger wird die Entwicklung parlamentarisch kontrolliert und desto mehr werden die Themen auf die nationale Ebene verlagert und die Rolle Europas geschwächt. Das ist ein Rückschritt. Das ist gefährlich. Davor hat Prodi gewarnt. Und dabei müssen wir ihn mit aller Kraft unterstützen.

Austria meets Europe

Jüngst gab es eine gemeinsame Sitzung der Fraktion aus dem Ausschuss der Regionen und unserer Fraktion im Europäischen Parlament. Wir haben über die Regierungskonferenz gesprochen, über die Grundrechtscharta, den nicht optimalen, aber doch viel besseren Entwurf, der inzwischen vorgelegt wurde. Das interessante an der Anwesenheit der Mitglieder des Ausschuss der Regionen war eine Sitzung, zu der Landeshauptmann Weingartner als Vorsitzender der österreichischen Mitglieder des Ausschuss der Regionen teilgenommen hat. Es war eigentlich die erste direkte Kontaktnahme zwischen diesen beiden Arten von Vertretern der österreichischen Bevölkerung auf der europäischen Ebene.

Vernachlässigung der Regierungsaufgaben

Dabei war es sehr spannend zu sehen, dass die neue österreichische Regierung bisher überhaupt nicht zu einem Dialog mit den Europarlamentarier bereit war – etwas, das in früheren Zeiten zwar nicht sehr stark, aber doch von Fall zu Fall vorhanden war. Man muss sich das vor dem Hintergrund einer so schwierigen Phase, die Österreich in seinen Beziehungen mit den anderen 14 Mitgliedern der Europäischen Union mitgemacht hat und in der es massive Vorwürfe seitens der Regierung gegen die Opposition gab, auch z.B. gegen mich persönlich, vergegenwärtigen. Es wurde kein einziges Mal versucht, seitens der Regierung, die ja doch an oberster Stelle die Interessen Österreichs verwahrt hat, ein Gespräch herzustellen. Und zu diesem Zeitpunkt gab es auch keine Einladung seitens der Regierungsvertreter in Brüssel – an uns zusammen oder an einzelne -, um auszuloten, wie man im Detail vorgehen kann. Ich sehe darin eigentlich eine grobe Vernachlässigungen der Aufgaben dieser Regierung.
Jetzt beginnen auf parlamentarischer Ebene langsam Bemühungen, sich mit den Vertretern des Ausschusses der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialausschusses zusammenzusetzen und zu versuchen, einen gemeinsamen Kern in den Meinungen und Haltungen auszuloten. Aber eigentlich müsste das die Regierung tun. Für mich wäre es spannend, mit dieser Regierung und ihren Vertretern Fragen der Erweiterung und der Europapolitik zu diskutieren und zu sehen, ob die Regierung – FPÖ und ÖVP – wirklich eine gemeinsame Linie hat. Ober ob nicht gerade in der Europapolitik, wenn sie ernst genommen wird, die FPÖ, wie sie heute dasteht, nicht mitgehen kann. Vielleicht ist das auch der Grund, warum die Regierung und die Außenministerin derartige Kontakte und Gespräche scheut: weil genau diese Differenzen an den Tag kommen würden.
 
Strassburg, 4.10.2000