Die Geschichte aufarbeiten

Die Armenier wären die ersten, die davon profitieren könnten, wenn sie sowohl mit Aserbaidschan als auch mit der Türkei eine vernünftige politische Beziehung aufbauen könnten.
Auch heute fanden wieder intensive Gespräche mit den armenischen Abgeordneten statt. Wir verabschiedeten außerdem eine gemeinsame Resolution.

Beim Präsidenten

Mittags trafen wir Präsident Robert Kotscharjan. Ursprünglich hieß es zwar, dass ein Treffen mit ihm aus terminlichen Gründen nicht möglich sei, aber nun nahm er sich viel Zeit für uns. Kotscharjan ist entgegen den Erwartungen angesichts der Kritik an seinem autoritären Stil ein angenehmer Gesprächspartner.
Eines unserer Hauptthemen waren die Beziehungen zum Iran. Einige aus unserer Delegation, darunter auch ich selbst, meinten, dass Armenien, so klein es auch ist, einen kleinen Beitrag dazu liefern könnte, die Iraner zum Dialog über die großen Streitpunkte, vor allem die Atomindustrie im Iran, zu bewegen.

Risikofaktor Iran

Der armenische Präsident zeigte sich aber gegenüber einer solchen Vermittlerposition äußerst zurückhaltend. Er machte aufmerksam, dass der Westen den Iran oft falsch beurteile. Der Iran sei über viele Jahrtausende hindurch ein riesiges und sehr selbstbewusstes Land gewesen, dem man nicht absprechen könne, was man anderen Ländern zuspricht: Das Recht auf die Entwicklung einer Nuklearindustrie, letztendlich auch einer nuklearen Bewaffnung. Dies alles wäre in Indien, Pakistan und Israel der Fall.
In der Tat: Das Zuschauen in anderen Ländern rächt sich spätestens jetzt, da man dem Iran das alles untersagen möchte. Trotzdem, ich stimme der Meinung zu, dass jedes weitere Land, das über atomare Bewaffnung verfügt, ein erhöhtes Risiko darstellt. Und ich glaube, dass gerade der Iran mit seiner derzeitigen politischen Führung und insbesondere angesichts der völlig unverantwortlichen, ja geradezu dummen Aussage des iranischen Präsidenten über Israel ein potentielles Risiko darstellt.

Lösung mit Aserbaidschan

Im Anschluss an das Treffen mit dem Präsidenten führten wir ein Gespräch mit Außenminister Warten Oskanian, der offensichtlich stark durch Amerika beeinflusst ist. Er stellte aber klar fest, dass an dem guten Verhältnis Armeniens zu Russland nicht zu rütteln sei und er dieses auch forciere. Oskanian diskutierte vernünftig und überlegt mit uns und hofft auf eine baldige, noch im heurigen Jahr zu findende Lösung mit Aserbaidschan.
In der Frage Nagorno Karabach konstatierte er, dass Armenien bereit sei, durch den Abzug bestimmter besetzter Regionen die Flüchtlingsrückkehr zu ermöglichen. Im vergangegen Jahr hatten wir mit einer Delegation ja die Flüchtlingslager in Aserbaidschan besucht und in der Folge einen Bericht für das Europäische Parlament verfasst.

Amerikanische Bindung

Das Gespräch mit dem Außenminister, einem versierten und überlegten Politiker, verlief äußerst angenehm. Oskanian ist zwar politisch nicht gerade stark verankert, hat aber hoffentlich genug Kraft, um seine überlegte Position entsprechend in die politischen Entscheidungsprozesse einzubringen.
In der Person von Wartan Oskanian wird offensichtlich, dass die Amerikaner in dieser Region sehr geschickt vorgehen. Sie binden Personen an sich, die ein sehr gutes Verhältnis zu Amerika entwickeln und die die Interessen der USA verstehen und sie auch vertreten. Und zwar nicht, in dem sie den Amerikanern blindlings folgen, sondern indem sie Vertrauen aufbauen. Ich wünschte, Europa wäre stark und geschickt genug, um seine eigenen Interessen ebenfalls derart klug vertreten zu können.

Finanzielle Ansprüche

Wir trafen schließlich auch Ministerpräsident Andranik Margaryan und Parlamentspräsident Artur Baghdasarjan. Im Gespräch mit dem Ministerpräsidenten entwickelte sich kaum ein Dialog, da er die meiste Zeit monologisierte. Meine Frage nach den finanziellen Ansprüchen, die bei einer Anerkennung des Genozids durch die Türkei erfolgen würden, beantwortete er allerdings schon. Margaryan meinte, dies stünde derzeit nicht auf der politischen Tagesordnung, ließ aber offen, dass diese Frage zu einem späteren Zeitpunkt sehr wohl relativiert werden könnte.
Ähnlich argumentierte der Parlamentspräsident. Baghdasarjan hat auf uns einen sehr modernen und fortschrittlichen Eindruck gemacht. Er wies darauf hin, dass es in Armenien eine Drei-Parteien-Koalition gibt und es daher in verschiedenen Fragen auch zu unterschiedlichen Standpunkten käme. Das trifft gerade auch auf das Verhältnis zur Türkei zu.

Öffnung der Landgrenze

Artur Baghdasarjan hatte erst kürzlich seinen türkischen Kollegen getroffen, Parlamentspräsident Bülent Arinc, den ich ebenfalls kenne. Das führte in nationalistischen Kreisen zu Kritik, durch die sich Baghdasarjan aber nicht gestört fühlt. Der armenische Parlamentspräsident teilte uns mit, dass er im Gegenteil weitere Aktivitäten setzen wird, um zu einer Entspannung der Situation zu kommen.
Ein vorrangiges Ziel ist dabei die Öffnung der Landgrenze mit der Türkei. Die Beziehungen laufen derzeit entweder über den Luftweg oder über Umwege über Georgien. Gerade jetzt ist in der Neuen Züricher Zeitung ein längerer Artikel erschienen. Es ging dabei um Armenier, die aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation in ihrem Land in die Türkei auswandern und dort Arbeit annehmen – wissend, dass zwischen den beiden Staaten nicht die besten Beziehungen bestehen.

Verhältnis zur Türkei normalisieren

Es wäre ein Beitrag zum Frieden und zur Konfliktlösung, würde die Grenze geöffnet werden und sich die Beziehungen normalisieren. In diesem Kontext wäre es wichtig, sich von vorneherein zu überlegen, ob ein klarer Verzicht auf Rechtsansprüche und finanzielle Ansprüche sowie eine klare Anerkennung der Grenzen nicht dazu beitragen könnten, dass die Türkei tatsächlich den wichtigen und notwendigen Schritt unternimmt, die eigene Geschichte aufzuarbeiten. Letztendlich müsste sie auch ihr Bedauern über die Geschehnisse nach dem Ersten Weltkrieg, als aus dem Osmanischen Reich die Türkei entstanden ist, zum Ausdruck bringen.
Kein Land kann gut leben, wenn es die eigene Geschichte – und vor allem die unangenehmen Seiten dieser Geschichte – leugnet. Das trifft nicht nur auf die Türkei zu. Auch viele andere Länder haben lange gebraucht, um zur eigenen Geschichte zu stehen. Aber gerade dieser Region würde es gut tun, wenn es zu einer Entspannung käme. Die Armenier wären die ersten, die davon profitieren könnten, wenn sie sowohl mit Aserbaidschan als auch mit der Türkei eine vernünftige politische Beziehung aufbauen könnten.

Kein unschuldiges Opfer

Es handelt sich alleridngs nicht – wie es manche darzustellen versuchen – um eine alleinige Angelegenheit von Aserbaidschan und der Türkei, bei der Armenien ein unschuldiges Opfer ist. Andere versuchen wiederum, die Konfliktsituation aus politischen Motiven heraus aufrecht zu erhalten und die Frage insgesamt sehr zu emotionalisieren.
Hier lag auch der Unterschied zwischen den Äußerungen mancher ParlamentarierInnen und den sehr gemäßigten Worten des Präsidenten, des Ministerpräsidenten, des Außenministers und des Parlamentspräsidenten.

Landkarten

Bei unserem Treffen mit dem Außenminister fiel mir auf dessen Schreibtisch ein Buch über verschiedene Landkarten dieser Region, insbesondere über Armenien, ins Auge. Ich konnte leider nur kurz darin blättern. Am Abend ging ich zu einem Coffee-Bookstore in der Nähe unseres Hotels, in dem wir schon am ersten Abend eine Kleinigkeit gegessen hatten. Hier entdeckte ich jenes Buch, das ich beim Außenminister gesehen hatte, und kaufte es mir. Mich interessieren Landkarten nicht nur generell, sondern vor allem auch diese Region.
Nun konnte ich im Detail nachvollziehen, dass Armenien nicht nur ein sehr altes Reich ist, das schon in den ältesten Landkarten verzeichnet ist, sondern in der Vergangenheit auch viel größer war als heute. So gesehen kann ich verstehen, dass in der Diaspora immer wieder Ideen über ein Groß-Armenien auftauchen.

Gemeinsamkeiten entwickeln

Aber letztendlich geht es ja – genauso wie beim Projekt Europa – nicht darum, die eigenen Ländern größer zu machen. Vielmehr sollte man sich bemühen, die Beziehungen zu den Nachbarn so zu verbessern, dass man letztendlich zwar immer Armenier, Azeri, Türke oder Georgier bleibt, aber die Unterschieden nicht gravierend oder gar verletzend sind.
Stattdessen müssen sich Gemeinsamkeiten entwickeln können, die immer stärker werden. Und der gegenseitige Austausch sollte nicht nur über Handelsgüter, sondern auch über Menschen erfolgen. Unterm Strich darf kein kulturloses Amalgan herauskommen. Die kulturellen und religiösen Unterschiede müssen respektiert, anerkannt, gepflegt und geschätzt werden. Sie sind keine trennenden, sondern verbindende Elemente.

Action plan

So könnte Europa auch für diese Region ein Beispiel darstellen, wenn wir nur selbst genug an dieses Europa glauben würden. Es ist nicht verwunderlich, dass Armenien, das mit Russland, Amerika und dem Iran gute Beziehungen hat, auch größten Wert darauf legt, gute Beziehungen mit Europa zu haben.
Armenien möchte in der so genannten Nachbarschaftspolitik eine zentrale Rolle spielen und hofft, dass noch in diesem Jahr der „action plan“ zwischen der EU und Armenien abgeschlossen werden kann. Erst dann ist eine konkrete Umsetzung gemeinsamer Projekte möglich. Gerade Armenien als rohstoffarmes Land ist zweifellos darauf angewiesen und kann in der Region eine entsprechende Rolle spielen.

Von anderen lernen

Als stark christliches orientiertes Land mit muslimischen Nachbarn könnte Armenien zwar fast ein bisschen deplaziert wirken. Aber andererseits könnte es durch seine Tradition, Geschichte und Religiosität dazu beitragen, das Zusammenleben zwischen Christen und Muslimen als äußerst positive Möglichkeit darzustellen und damit auch ein entsprechendes Signal nach Europa senden.
Bei uns ist dieses Zusammenleben bekanntlich immer wieder umstritten. Es stellt ein Problem dar, dem wir uns nicht entziehen können und wollen. Wir müssen uns stattdessen Beispiele aus anderen Ländern und Regionen vor Augen führen und selbst beispielgebend sein.

FAZ-Interview mit Parlamentspräsident Baghdasarjan

Auf dem Flug zurück aus Armenien, der um 4.55 Uhr früh – 2.00 MEZ – in Eriwan startete, las ich die neueste Ausgabe der Frankfurter Allgemeinen Zeitung. In dieser Ausgabe, die am selben Tag erschienen war, an dem wir Parlamentspräsident Baghdasarjan getroffen hatten, war ein Interview mit ebendiesem Baghdasarjan veröffentlichte worden.
Dieses Interview war vor allem wegen seiner Offenheit bemerkenswert. Und es bestätigte den Eindruck, den ich unserem persönlichen Gespräch gewonnen hatte. So meinte Baghdasarjan etwa zur inneren Auseinandersetzung in Armenien: „Es ist ein Kampf zwischen gestern und heute. Die alten Kräfte sind diejenigen, die in ihren Köpfen noch die 70 Jahre sowjetische Ideologie haben. Sie sind bis zu dem Punkt für Veränderungen, an dem sie davon betroffen sind. Und sie sind eine starke Kraft in Armenien.“

Kein Wahlbetrug mehr

Der Parlamentspräsident bekannte sich in der Folge zu notwendigen Veränderungen. So meinte er etwa, Wahlbetrug, wie er bei früheren Wahlen stattgefunden habe, dürfe es nicht mehr geben: „Die Leute, die noch denken, dass sie Wahlen fälschen können, müssen sich darüber klar werden, dass diese Zeiten in Armenien vorüber sind. Wenn es noch einmal solche Fälschungen wie bei den früheren Wahlen gibt, wird das zu sehr großen Veränderungen führen. Im Lande und außerhalb des Landes kann man solche Wahlen nicht noch einmal akzeptieren.“ Ich hoffe, Baghdasarjan hat in dieser Frage eindeutig Recht.

Dialog mit der Türkei

Der Parlamentspräsident forderte außerdem, dass die Beziehungen zu Russland auf eine neue, gleichberechtigtere Ebene gestellt werden sollten. Auch zur Türkei äußerte er sich in dem Interview und brachte genau das zum Ausdruck, was er auch in unserem Gespräch gemeint hatte: „Wir können nicht den Völkermord an 1,5 Millionen Armeniern vergessen, aber wir dürfen unsere Zukunft nicht durch unsere Vergangenheit verbauen. Für mich persönlich ist die reale Hoffnung auf einen Fortschritt viel wichtiger als die traurige Erinnerung an die Vergangenheit. Das heißt, wir müssen offen und frei mit der Türkei reden, und diesen Dialog braucht auch die Türkei. Wir müssen an einem Tisch sitzen und unsere Probleme lösen. Diese Meinung wird natürlich nicht von allen in Armenien geteilt.“

Präsidentschaftskandidat?

In der Einleitung zu diesem Interview war zu lesen, dass Baghdasarjan vielleicht der nächste Präsidentschaftskandidat ist, nachdem Präsident Kotscharjan nicht mehr kandidieren kann. Ich kann mir gut vorstellen, dass Baghdasarjan ein guter und aufgeklärter Präsidentschaftskandidat wäre – allerdings sollte er nicht zu aufgeklärt und zu offen sein.
Wenn sich bis dahin außerdem das Problem Nagorno Karabach gelöst haben wird, dann wird vielleicht auch eine innere Entspannung eintreten. Und dann ist Armenien vielleicht auch reif für einen jüngeren, in die Zukunft blickenden Präsidenten. Das würde ich mir jedenfalls für das Land und die gesamte Region sehr wünschen.

Eriwan, 19.4.2006