Die geteilte Insel

Die „grüne Linie“, die Trennlinie zwischen dem griechischen und dem türkischen Teil Zyperns, muss durchlässiger gemacht und schliesslich aufgelöst werden. 
Wir befinden uns im Sondergastraum des Flughafens der geteilten zypriotischen Hauptstadt Nicosia. Wir, das sind Enrique Baron, der Vorsitzende der Sozialdemokratischen Fraktion, Georgios Kateforis, der Leiter der griechischen Fraktion im Europäischen Parlament und ich als Türkeiberichterstatter des Europäischen Parlaments.
In den vergangenen Tagen haben wir versucht, die Situation in Zypern zu analysieren, sicherlich mit Schwerpunkt auf der griechischen Seite. Wir trafen den Präsidenten des Landes zu einem längeren Gespräch, den Finanzminister, unsere Freunde von der Sozialdemokratie, die hier auf Zypern nicht sehr stark ist, und den Außenminister, der uns zu einem ausführlichen Arbeitsessen eingeladen hat.

Die grüne Linie

Und wir haben die so genannte grüne Linie besucht, die sich quer durch Nicosia und über die gesamte Insel zieht. Sie hat allerdings nichts mit friedlicher Natur und ökologischen Verhältnissen zu tun, sondern stellt die Trennlinie zwischen dem türkischen und dem griechischen Teil Zyperns dar. Nicosia ist die einzige noch getrennte Stadt Europas. Geteilt durch Stacheldraht und sehr schwer passierbar, jedenfalls für die Bewohner der Insel selbst. Zwar handelt es sich hier – nicht so wie in Deutschland – um die Trennung von ein und der selben Bevölkerung mit ein und der selben Sprache, Kultur und Religion. Aber immerhin haben Griechen und Türken über viele Jahrhunderte neben- und auch miteinander auf dieser Insel gelebt und die Trennung, jedenfalls diese Art von Trennung, ist unnatürlich und inakzeptabel.

Besitzansprüche

Wie sollen wir diesen Zustand überwinden? Es ist nicht leicht. Die Griechen haben vor vielen Jahren begonnen, das, was ihnen die Engländer an Gemeinsamkeiten hinterlassen haben, zu ihren Gunsten zu verändern. Aus ihrer Sicht war die verfassungsmässige Gleichberechtigung zwischen dem weitaus größeren griechischen Teil und dem kleineren türkischen Teil weder akzeptabel noch durchführbar. Eine Vereinigungsbewegung mit Griechenland, die so genannte Enossisbewegung, und vor allem die Junta in Griechenland hat im Jahr 1974 zur Versuchung geführt, die Insel mit Griechenland zu vereinigen.
Das musste natürlich die Türken auf den Plan rufen. Sie haben die Insel besetzt, jedenfalls den von ihnen mehrheitlich bewohnten „türkischen“ Teil. So weit, so gut. Diese Besetzung hat allerdings zu einer weiteren Vertreibung der Bevölkerung geführt. Zuerst der griechisch zypriotischen Bevölkerung, danach allerdings auch von vielen türkischen Zyprioten, die mit Dentas nicht einverstanden waren.
Seither gibt es eine türkische Republik Nordzypern mit einem nicht sehr freundlichen Herrschaftssystem unter Denktas, der vor allem ein Ziel verfolgt: Er möchte als der Präsident einer unabhängige Republik anerkannt werden. Dann erst, so meint er und das wurde mir vor kurzem auch in der Türkei mitgeteilt, könne man darüber sprechen, ob es auf Zypern nicht doch eine gemeinsame türkisch-griechische Föderation bzw. Konföderation geben könnte, die auch in die Europäische Union aufgenommen werden könnte.

Verhandlungsstillstand

Ich wurde während meines Aufenthaltes, vor allem während eines langen Gespräches mit dem Außenminister, immer wieder gefragt, wie die Türkei über Zypern denkt und wie ich die Chancen einschätze, dass die Türkei zu einem Kompromiss bereit ist. Aus meiner Sicht wird die Türkei kurzfristig nicht bereit sein, zu verhandeln und auf eine gemeinsame Lösung zuzugehen.
Warum sollte sie das aus ihrer Perspektive heraus auch tun? Sie hat momentan Nichts zu gewinnen. Und so lange die Türkei und vor allem Denktas glauben, die Europäische Union meine es mit einer Aufnahme des griechischen Teil Zyperns nicht ernst, wenn es nicht vorher zu einer Lösung kommt, so lange werden sie versuchen, diese Lösung zu verhindern.
Die einzige Chance, Zypern tatsächlich geeint in die Europäische Union aufzunehmen, besteht einerseits darin, dass der griechische Teil alles unternimmt, um eine Lösung in Zypern zu finden und andererseits die Türken merken, dass, wenn es nicht zu einer gemeinsamen Lösung kommt, die Union auch bereit ist, den griechischen Teil allein – mit einer grösseren Erweiterungsmöglichkeit für den türkischen Teil – aufzunehmen.

Bevölkerungsaustausch

Es wurde weiters immer wieder betont, wie wichtig es sei, direkt an die Bevölkerung im türkischen Teil Zyperns heranzukommen – und zwar an alle, nicht nur an die favorisierten Türken, die schon über viele Generationen auf der Insel leben und die sich als Zyprioten fühlen, sondern auch an die vielen, fast schon genau so vielen, die inzwischen aus Anatolien oder aus anderen Regionen der Türkei auf die Insel gebracht wurden.
Es ist richtig, es hat fast ein Bevölkerungsaustausch stattgefunden. Viele Türken zypriotischer Herkunft bzw. Zyprioten türkischer Herkunft, wie immer man es bezeichnen will, haben das Land verlassen und leben heute in England, Amerika oder Kanada. Sowohl sie als auch die griechischen Zyprioten, die nach der Besetzung geflohen sind, wurden von türkischen Bewohnern, die aus dem Mutterland, aus dem Festland der Türkei gekommen sind, „ersetzt“.
Es ist allerdings irreal zu glauben, dass sie alle durch eine Einigung zwischen dem türkischen und dem griechischen Teil wieder das Land verlassen würden und die griechischen Zyprioten im Handumdrehen wieder in ihre alten Häuser zurückkehren, ihr Grundstückseigentum in Besitz nehmen könnten etc. Genau das wird sehr, sehr schwierig sein. Selbst dann, wenn beide Teile gewillt sind, eine gemeinsame Lösung zu finden.

Aufweichen der Grenze

Was auf jeden Fall geschehen müsste ist, die bestehende Grenze Zug um Zug löchriger und durchlässiger zu machen, um von einer Grenze im Sinne eines Eisernen Vorhanges wegzukommen. Natürlich geht das nur mit sehr viel Sicherheitsgarantien. Und natürlich geht das nur, wenn die türkische Armee das Land verlässt und gleichzeitig auch eine Demilitarisierung auf der griechischen Seite stattfindet. Europäische Truppen gemeinsam mit türkischen Bestandteilen könnten im Sinne einer neuen Europäischen Sicherheitspolitik Frieden und Stabilität nach Zypern bringen.
Das Beste wäre also, weiterhin in den Verhandlungen mit der Europäischen Union zu versuchen, eine Lösung in Zypern selbst herbeizuführen, entsprechende Angebote zu machen, dass es zu einer gemeinsamen europäisch-türkischen Sicherheitstruppe kommt, die alle einheimischen Militärs ersetzen würden und dass eine funktionsfähige Konföderation mit weitestgehender Gleichbeteiligung beider Teile entsteht.

Doppelter Schaden

Natürlich ergibt sich in diesem Zusammenhang die Frage was passiert, wenn die Türkei dazu nicht bereit ist. Die Türkei müsste wissen, dass ihr eigenes Bestreben, in die Europäische Union zu kommen bzw. auch den türkischen Teil auf der zypriotischen Insel in die Europäische Union zu bekommen, wesentlich davon abhängt, ob sie bereit ist, einer vernünftigen Lösung zuzustimmen und sie auch aktiv zu erarbeiten.
Wenn die Türkei dazu nicht bereit ist, so hat das aus meiner Sicht erheblichen Schaden für das Bestreben der Türkei in Richtung Mitgliedschaft. Unbeschadet dessen muss man sich überlegen, wie man die Situation an der türkisch-zypriotisch und griechisch-zypriotisch Grenze verändern bzw. mildern kann, sie also weniger straff und inhuman machen kann. Ob das mit einer Anerkennung des türkischen Teils verbunden sein könnte?
Meine diesbezügliche Frage, die in diesen Tagen in einer österreichischen Zeitung veröffentlicht wurde, ist in Zypern sofort kritisch hinterfragt worden. Mir geht es aber gar nicht um das Ziel, zwei Staaten anzuerkennen. Aber es ist aus meiner Sicht auch nicht unmöglich, nach dem Modell BRD-DDR in eine Situation zu kommen, wo so lange eine Vereinigung nicht möglich ist, bis zumindest eine Grenze entsteht, die keineswegs endgültig anerkannt wird bzw. die nicht jene Härte und Stärke hat, wie das derzeit der Fall ist. Das oberste Ziel muss sein, diese unmögliche Grenze zum Verschwinden zu bringen. Das ist für mich unumstritten.

Türkische Wirtschaftskrise

In der Zwischenzeit ist es in der Türkei zu einer ernsthaften Krise gekommen, vor allem zwischen Präsident Sezer und Ministerpräsident Ecevit. Sezer hat den Vorwurf erhoben, dass Ecevit in seiner Regierung nicht genug gegen die Korruption unternimmt, und es kam zu einem Eklat. Die Folge dieses Eklats ist eine große wirtschaftliche und auch finanzielle Krise. Der Kurs der türkischen Währung musste freigegeben werden, weil dem Druck nicht mehr standzuhalten war.
Aus meiner Sicht – aber wir werden sehen, ob sich das bewahrheitet – hat der Staatspräsident mit massiver Rückendeckung des Militärs oder vielleicht sogar auf Veranlassung des Militärs versucht, der türkischen und auch der europäischen Öffentlichkeit zu zeigen, dass es nach wie vor des Militärs bedarf, um wirtschaftliche und gesellschaftliche Reformen in Richtung Sauberkeit, Transparenz und Demokratie zu setzen. Nicht die Politik ist fähig, diese Reformen durchzuführen, sondern nur das Militär und Persönlichkeiten wie der Präsident, der nicht aus der Politik kommt, sondern aus dem Rechtssystem.
Gerade jetzt, da das Militär weiß, dass es mittel- bis langfristig eine dominante Stellung schon aus demokratiepolitischen Gründen nicht möglich ist und vor allem von Europa nicht akzeptiert werden kann, gerade jetzt müsste das Militär sagen: Mag sein, dass dem so sein wird, aber jetzt, jetzt braucht ihr uns. Gerade, wenn ihr Reformen von der Türkei verlangt, dann müssen wir diesen Druck ausüben. Von sich aus ist die Politik nicht fähig, das zu tun.

Die Zeit drängt

Um diese Themenkreise bewegten sich also unsere Debatten und Presseerklärungen auf Zypern. Und der Umstand, dass ich vor einigen Wochen in der Türkei gewesen war und vor kurzem meinen Bericht über die Türkei im Europäischen Parlament durchbringen konnte, hat mir die Chance zu einem sehr intensiven Dialog mit den griechisch-zypriotischen Vertretern gegeben. Auch sie sind natürlich sehr national und nationalistisch eingestellt, aber ich glaube, sie sind bereit, eine Lösung in Zypern selbst zu erringen.
Diese Lösung muss allerdings auch machbar sein. Und sie muss zum Ausdruck bringen, dass diese Insel als Ganzes in die Europäische Union möchte. Die Griechen haben auch angekündigt, Zypern müsse in der ersten Runde der Erweiterung sein. Diese Forderung ist bis zu einem gewissen Grad verständlich, denn ein Hinausschieben würde nichts bringen. Allerdings, die Zeit wird knapp. Denn bis zum Ende des Jahres 2002 sollten die Verhandlungen abgeschlossen sein. Und in Zypern sollten die Verhandlungen zwischen den griechischen und den türkischen Vertretern ebenfalls zu diesem Zeitpunkt abgeschlossen sein, zumindest die wesentlichen Elemente.

Zwei „harte Knochen“

Wir sollten jedenfalls in einem konstruktiven Dialog mit der Türkei bleiben und hoffen, dass die derzeitigen wirtschaftlichen Schwierigkeiten nicht zu noch mehr Abschottung und Nationalismus in der Türkei führen. Ich glaube, es ist noch viel zu tun in dieser kurzen Zeit. Ob es gelingen wird, ist eine offene Frage. Es hängt von den ganzen Rahmenbedingungen ab. Und es hängt von den handelten Personen ab, wobei interessant ist, dass Präsident Glavkos Klerides und sein türkisch-zypriotischer Kontrapart Rauf Denktas in die gleiche Schule gegangen sind. Ob das hilft oder vielleicht sogar verstärkte Probleme schafft, weiß ich nicht. Aber es sind sicherlich zwei „harte Knochen“, die da aufeinander treffen.
Das gilt nicht nur für diese beiden Persönlichkeiten, sondern auch für die beiden nationalen Gruppen insgesamt. Dennoch sollte eine Lösung nicht unmöglich sein. Alle müssten daran interessiert sein, keine Krise zu schaffen. Auch die griechischen Zyprioten, denn sonst könnte die Bereitschaft, Zypern in die Union aufzunehmen, in manchen Ländern der EU wieder sinken. Niemand hat gerne Krisen an den gemeinsamen Grenzen Europas. Daher müssen wir alles unternehmen, um diese Krisen zu vermeiden. Nur dann besteht auch für Zypern und für die Erweiterung insgesamt eine große Chance. 
Nicosia, 23.2.2001