Die Herbstarbeit beginnt!

Wie können wir Europa sozialer gestalten? Das ist eine der Hauptfragen, mit der wir uns jetzt und in unmittelbarer Zukunft intensiv auseinandersetzen müssen.
Das Europäische Parlament hat nach der Sommerpause seine Arbeit wieder aufgenommen. Die ersten Fraktionssitzungen haben bereits in dieser Woche stattgefunden, und kommende Woche tagen wir im Plenum in Straßburg.

Positive Entwicklung in der Türkei

Der Sommer hat einige positive Entwicklungen gebracht, und vor allem die Wahlen in der Türkei und zuletzt die Wahl des neuen Staatspräsidenten Abdullah Gül haben sich in einer ruhigen Atmosphäre abgespielt. Das Militär ist zwar im Moment mit der Entscheidung nicht zufrieden, akzeptiert sie aber – und ich hoffe, dass sich daran nichts ändern wird. Genauso hoffe ich, dass der neue Präsident Gül den Laizismus, also die Trennung von Staat und Religion, akzeptiert. Nur so kann es zu einer Entwicklung in der Türkei kommen, die einerseits einen liberalen Islam zum Ausdruck bringt und die andererseits den Laizismus nicht durch das Militär schützen muss, sondern durch die üblichen zivilen und demokratischen Institutionen.
Genau das ist ausschlaggebend. Wir brauchen eine demokratische Türkei als unseren Nachbarn. Die Frage der Mitgliedschaft der Türkei stellt sich zweifellos umso stärker, je mehr das Land den richtigen demokratischen Weg einschlägt. Trotzdem, ohne die Möglichkeit, einmal selbst Mitglied der Gemeinschaft der europäischen Länder zu werden, würde sich die Türkei nicht zu einer substantiellen demokratischen Republik entwickeln. Aber genau das ist wichtig, um den islamischen Kräften, aber auch unseren BürgerInnen zu demonstrieren, dass der Islam mit der Demokratie und einer modernen, liberalen Rechtsstaatlichkeit sehr wohl vereinbar ist.

Mehr Sensibilität

Die Debatten, die wir derzeit in Europa führen, etwa über die Frage, ob es bei uns Moscheen geben darf, sind alles andere als hilfreich. Ich habe selbst in einem meiner Weblogs festgestellt, dass die Erbauer von Moscheen bzw. die islamischen Religionsgemeinschaften Rücksicht auf die bestehende Sensibilität nehmen sollten.
In der heutigen Zeit müssen weder Moscheen noch Kirchen als Triumphgebilde gebaut werden und mit einem hohen Zeigefinger oder einem Phallussymbol versehen sein. Aus meiner Sicht brauchen weder die Religionen noch Gott derartige auftrumpfende, in die Höhe gestreckte Symbole. Und es entspricht auch in keinem Sinn unserer Zeit. Vor diesem Hintergrund sollten wir aber auch selbst mehr Sensibilität an den Tag legen, als das derzeit in manchen Fällen getan wird.

Wachsam bleiben!

Darüber hinaus gab es in diesem Sommer auch negative Entwicklungen. Polen ist ein Paradebeispiel eines Landes im Übergang, das mit seiner eigenen Geschichte noch immer nicht zu Recht kommt und das vor etliche Probleme gestellt ist. Ich bedauere das sehr – nicht nur, dass es Probleme gibt, sondern auch die Art und Weise, wie sie bewältigt werden. Der erst vor kurzem zurückgetretene Innenminister wurde beispielsweise unter Anwesenheit von Journalisten und Fotografen frühmorgens aus dem Bett geholt und mit Handschellen abgeführt. Derartige Vorfälle werden von den Kaczynski-Brüdern organisiert und inszeniert, um ihre Machtfülle unter Beweis zu stellen. Für ein Mitgliedsland der Europäischen Union ist eine derartige Vorgangsweise allerdings mehr als traurig.
In Ungarn, ebenfalls einem EU-Mitgliedsland, wurde hingegen eine Garde gebildet, die nach dem Vorbild der faschistischen Organisation „Eiserne Garde“ agiert. Eine ähnliche Garde soll in Bulgarien für die „Verteidigung des Vaterlandes“ sorgen. Vielleicht sollte man derartige Entwicklungen nicht überschätzen, es mag sich um pubertäre Tendenzen in den Übergangsgesellschaften handeln. Aber man sollte auch keinesfalls die Gefahren, die aus solchen Entwicklungen entstehen können, unterschätzen. Wir müssen in diesem Zusammenhang äußerst wachsam bleiben und sollten nicht so ohne weiteres zur Tagesordnung übergehen.

Katastrophen-Sommer

Leider hat es in diesem Sommer auch Naturkatastrophen gegeben, wie zuletzt die verheerenden Waldbrände in Griechenland mit unzähligen Toten. Griechenland verdient unsere Sympathie, unsere Hilfe und unsere Solidarität. Parallel dazu müssen wir aber auch generell vermitteln, dass eine verstärkte Vorbeugung, die Pflege des Waldes und entsprechende Schutzmaßnahmen unumgänglich sind, um derartige Brände zumindest zu lokalisieren und zu begrenzen, wenn man sie schon nicht verhindern kann. Nur nach Hilfe zu schreien, ohne vorher alles denkbar Mögliche unternommen zu haben, um die Ausbreitung von Waldbränden zu verhindern, kann nicht zur Regel werden.
Es gab auch Katastrophe anderer Art, wenn ich etwa an die Finanzkrisen denke. Sie haben gezeigt, dass die totale Regellosigkeit bzw. das Herunterschrauben von Regulierungen nicht nur positive Wirkung zeitigt. Wir bräuchten ein vermehrtes Ausmaß von Rahmenregelungen – und zwar auf globaler Ebene. Auf nationaler Ebene würde das wenig bringen, es zeigt ja schon auf europäischer Ebene wenig Erfolg. Wenn vor allem alle großen Länder dabei mitziehen würden, könnte hingegen auf globaler Ebene doch einiges in Bewegung kommen. Allerdings ist eine solche Teilnahme bei den USA, ja schon bei Großbritannien manchmal zu bezweifeln.

Krisenmanagement ausbauen

Wir werden uns mit diesen Krisensituationen auf europäischer Ebene intensiv beschäftigen. Gerade aus sozialdemokratischer Sicht müssen wir uns ernsthaft überlegen, welche Möglichkeiten es gibt, um Rahmenbedingungen zu schaffen, die derartige Krisen in ihren Auswirkungen beschränken können – ohne dabei einem überholten Dirigismus das Wort zu reden. Wenn man bedenkt, in wie vielen Fällen genaue Detailregelungen beschlossen werden, bevor Banken Kredite bewilligen, und wie viele Kredite trotz massiven Risikos dann tatsächlich vergeben worden sind, wird das nur allzu deutlich.
Im konkreten Fall waren es weniger die so genannten Hedge Fonds, also die quasi frei schwebenden, spekulativen Fonds, sondern traditionelle Banken, die das mögliche Risiko nicht oder zu wenig beachtet haben.

Der Reformvertrag

Einen weiteren Schwerpunkt unserer unmittelbaren Arbeit liegt auf dem Reformvertrag der Europäischen Union. Wir müssen auf parlamentarischer Ebene beispielsweise über die Anzahl der Parlamentssitze für die Mitgliedsländer beraten und darauf pochen, dass wir die Regierungskonferenz mit VertreterInnen beschicken können. Zudem steht noch immer nicht fest, in welchen Mitgliedsländern es Referenden geben wird.
Auch in Österreich werden die Stimmen lauter, die eine Abstimmung über den Reformvertrag fordern. Wir sollten uns jedoch in Erinnerung rufen, dass der ursprüngliche Verfassungsvertrag bereits durch das österreichische Parlament genehmigt worden ist und es in der damaligen Auseinandersetzung keine Rolle gespielt hat, dass es kein Referendum gegeben hat. Den neuen Vertragsentwurf, der nicht so weit geht wie der ursprüngliche Text, nun einem anderen Prozedere zu unterziehen, wäre aus meiner Sicht ein Widerspruch.

PolikerInnen müssen Entscheidungen treffen

Aber auch inhaltlich hat sich gezeigt, dass es keineswegs den Tatsachen entspricht, dass sich Volksabstimmungen bzw. Volksbefragungen auf Fragen der Europäischen Union oder des Verfassungsvertrages konzentrieren. Vielmehr stehen dabei ganz andere Themen, negative Emotionen und Unsicherheiten in Zusammenhang mit der EU – vom Euro bis zur Erweiterung – im Mittelpunkt. Darüber hinaus spielt auch das Thema der Zufriedenheit mit den nationalen Regierungen hinein.
Es ist eine Illusion zu glauben, dass bei einem Referendum ausschließlich über den konkreten Verfassungsentwurf abgestimmt wird. Das würde zunächst monatelanger Aufklärung und Information bedürfen, und selbst dann wäre noch nicht sichergestellt, dass es tatsächlich zu einer auf die Sachfrage konzentrierte Abstimmung kommt. Die Bedeutung des Reformvertrages ist aus meiner Sicht nicht derart zentral wie der Beitritt zur Europäischen Union als solches. Daher ist es durchaus angebracht, dass die MandatarInnen, die gewählt werden, um politische Entscheidungen zu treffen, auch über den Reformvertrag der Europäischen Union entscheiden.

Die richtigen Fragen stellen

Man kann letztendlich zu allen politischen Fragen Volksabstimmungen oder Volksbefragungen durchführen: zum Pensionsalter, zum Rauchverbot und etlichen anderen Themenbereichen. Das würde allerdings ein Ende der indirekten Demokratie und einen Beginn der direkten Demokratie bedeuten und es käme zudem voraussichtlich zu einem äußerst wechselhaften Abstimmungsverhalten. Auch die Grundeinstellung zur EU in der Bevölkerung ändert sich ständig. Dabei kommen nicht zuletzt aus der Tagesdynamik entstehende Meinungen zum Ausdruck.
Nochmals, ich bin fest davon überzeugt, dass PolitikerInnen aus dem Grund gewählt werden, um entsprechende Entscheidungen zu treffen, sie zu präsentieren und zu begründen. Für mich gibt es angesichts der internationalen Verhältnisse keine Rückkehr auf die nationale Ebene – und das wäre die eigentliche Konsequenz. Es gäbe nur die Alternative zu fragen, ob die Bevölkerung aus der EU austreten möchte oder ob sie möchte, dass die EU durch den Reformvertrag gestärkt wird. Zu fragen, ob die Menschen diesen Reformvertrag wollen oder nicht, führt hingegen in die Irre.

Nicht auf pseudodemokratische Spielereien einlassen

Der Delegationsleiter der Franzosen im Europäischen Parlament, ein äußerst kluger und moderater Kollege, hat richtig festgestellt: „Wir haben den ersten Vertrag in Frankreich abgelehnt, weil viele – gerade auf der linken Seite – gedacht haben, dass wir einen besseren Vertrag bekommen. Statt eines besseren Vertrages liegt aber jetzt – aus der Sicht der Linken – ein schlechterer Vertrag auf dem Tisch. Wenn wir auch diesen ablehnen, wird sich die Situation noch mehr verschlimmern. Und das kann nicht der Sinn unserer Debatten und Entscheidungen sein.“
Das bestätigt meine These: Die Politik muss sich für diesen Vertrag aussprechen, wenn sie ein Europa will, dass handlungsfähiger ist. Und die Politik muss ihre Entscheidung entsprechend vertreten und darf sich nicht auf pseudodemokratische Spielereien einlassen. Denn diese stellen letztendlich eine Flucht vor der Verantwortung dar.

Das soziale Europa

Auch die Fragen der Energie- und Klimaschutzpolitik stehen auf unserer politischen Agenda ganz oben. Ebenso wie die soziale Frage, über die wir gerade in den vergangenen Tagen in unserer Fraktion und mit den der Sozialdemokratie nahestehenden KommissarInnen diskutiert haben. Für mich steht außer Streit, dass wir ein soziales Europa wollen. Ebenso klar ist aber auch, und das wurde vor allem von EU-Kommissar Spidla auf den Punkt gebracht, dass das Soziale jenes Element ist, das als stärkste Kompetenz auf der nationalen Ebene verbleibt.
So gesehen ist es ein Widerspruch, auf der einen Seite ein soziales Europa zu fordern, das sich entsprechend sozial gestaltet, und auf der anderen Seite darauf zu beharren, dass die Sozialversicherungssysteme und andere konkrete soziale Ausgestaltungen auf der nationalen Ebene verbleiben. Einige Schritte wären dennoch möglich. Eine einheitliche Arbeitszeitregelung wäre notwendig, wird allerdings von einigen Ländern blockiert. Auch ein System des Mindestlohnes in Europa müsste vorangetrieben werden, selbst wenn der jeweilige Mindestlohn unterschiedlich hoch sein wird. Denn es wäre irreal und undurchführbar, in Deutschland, Portugal, Österreich und Rumänien den jeweils gleichen Mindestlohn einzuführen. Nicht zuletzt über das Konzept der Flexicurity, also die Verbindung von Flexibilität und Sicherheit, sollte und müsste diskutiert werden. Wie allerdings die jeweilige Regelung in den einzelnen Ländern erfolgen soll, ist wiederum den Nationalstaaten überlassen.

Keine leeren Versprechungen machen

Vielleicht führt ja die Debatte über die soziale Frage dazu, dass wir uns selbst klarer darüber werden, was genau unter einem sozialen Europa zu verstehen ist. Denn nur dann wird es möglich sein, im kommenden europäischen Wahlkampf im Jahr 2009 den Menschen keine leeren Versprechungen zu machen, sondern ihnen klar zu vermitteln, was geschehen hätte können, was bereits geschehen ist, in welchen Bereiche man weiterarbeiten muss und was auch weiterhin auf nationaler Ebene geregelt werden soll.
Sämtliche Debatten, die mit Schlagworten wie „starkes Europa“, „schwaches Europa“ oder „mehr Subsidiarität“ versehen sind, helfen jedenfalls wenig. Stattdessen sollten wir ganz konkret formulieren, wo die Europäische Union stärker oder weniger stark eingreifen soll und wo wir bei der Subsidiarität bleiben sollen und wo nicht. Das sind keine leichten Fragen, und sie werden aus unterschiedlicher nationaler Sicht jeweils unterschiedlich gesehen – je nachdem, welche Traditionen es in den einzelnen Ländern gibt.

Produktive Arbeitsteilung

Man sollte bedenken, dass beispielsweise der Umweltschutz weit über die nationalen Grenzen hinaus gestaltet werden muss, weil Umweltverschmutzung keine Grenzen kennt. Und die jüngste Finanzkrise hat deutlich gezeigt, dass wir global in eine Situation geraten können, in der einzelne Länder nichts bewirken können, sehr wohl aber die Europäische insgesamt. Es gibt also Entwicklungen, die heute ganz einfach nicht mehr auf der nationalen Ebene gelöst werden können.
Wenn man diesen Faktor berücksichtigt, gelangt man zur Überzeugung, dass wir eine stärkere Union brauchen. Trotzdem, viele BürgerInnen identifizieren sich nach wie vor mit der nationalen Ebene. Und genau deshalb macht es wenig Sinn, das eine gegen das andere vom Grundsatz gegeneinander auszuspielen. Vielmehr bedarf es einer effektiven und produktiven Arbeitsteilung.

Brüssel, 30.8.2007