Die Konflikte des Nicht-Verstehens

In emotionalisierten Situationen, in denen es um das Recht auf Grund und Boden geht, ist es immer äußerst schwierig, zu rationalen und vernünftigen Lösungen zu kommen.
In Wien ging es Freitagabend um ein ähnliches Thema wie schon zuvor in Brüssel. Gemeinsam mit Wolf Werdigier, den ich schon aus meiner Zeit als Stadtrat kenne, hatte ich zu einer Diskussion in seinem Atelier eingeladen.

Naher Osten und Balkan

Werdigier hat sich zuletzt künstlerisch mit Fragen der Konflikte des Nicht-Verstehens, insbesondere zwischen Israelis und Palästinensern, auseinandergesetzt und versucht, die tieferen psychoanalytisch zu erfassenden Einstellungen, Haltungen und Empfindungen auch bildnerisch darzustellen.
An der Veranstaltung nahmen auch der Psychoanalytiker Vamik Volkan und der Politologe Vedran Dzihic, der selbst aus der Balkanregion stammt, teil. In unserer Diskussion ging es um Konflikte, schwerpunktmäßig im Nahen Osten und am Balkan. Ich selbst habe aber auch auf den Konflikt um Nagorno Karabach hingewiesen, über den ich in meinen Tagebuchaufzeichnungen über meine Besuche in Aserbaidschan und Armenien bereits ausführlich berichtet habe.

Emotionalisierte Situationen

In emotionalisierten Situationen, in denen es um das Recht auf Grund und Boden geht, ist es immer äußerst schwierig, zu rationalen und vernünftigen Lösungen zu kommen. In Israel und Palästina geht es darum, wem das Land gehört und wer das Recht hat, sich dort aufzuhalten und sein Leben zu entfalten. Das gleich galt bzw. gilt für den Balkan. Steht das Land den Serben, den Kroaten, den Bosniaken, zu? Wer ist eine Mehrheit, wer eine Minderheit? Und welche Rechte hat die Minderheit? Diese Fragen kommen auch im Kaukasusbereich zum Tragen. Gehört Nagorno Karabach den Aserbaidschanern, denen es bei der Gründung der Sowjetunion zugesprochen wurde? Gehört es den Armeniern, die es schon lange besetzt haben? Oder sollte es unabhängig sein?
Diese Fragen sind alles andere als leicht zu beantworten. Im Falle Europas ist man daran gegangen, nach zwei unvorstellbaren Weltkriegen ein neues, gemeinsames Europa aufzubauen und die Fragen nach dem Recht auf Grund und Boden haben sich in dieser Form nicht gestellt. Angesichts der Globalisierung und der heutigen Mobilität darf man trotzdem nie vergessen, dass es sich hier um immer noch tief verwurzelte Fragen handelt. Und selbst im Europa der Europäischen Union gibt es nach wie vor Streit- und Konfliktpunkte, wenn man etwa an Nordirland oder das Baskenland denkt – auch wenn sie im Vergleich zu anderen Regionen relativ marginal erscheinen mögen.

Groteske Vergleiche

Ich erwähnte bei unserer Diskussion, dass ich in Wien erst vor kurzem an einer Veranstaltung teilgenommen hatte, bei der es um die Rechte der Palästinenser gegangen ist. Jene, die seit langem bei uns in der Diaspora leben, berichteten, dass sie noch immer den Schlüssel des Hauses besitzen, aus dem sie selbst oder ihre Eltern und Großeltern vertrieben worden sind. Sie geben diese Erkenntnis an ihre Kinder weiter und werden nie auf das Recht auf Rückkehr verzichten – und sollte es 1000 Jahre dauern. Ich wies darauf hin, dass solche Einstellungen irreal seien. Ein Palästinenser antwortete mir, dass die Franzosen auch aus Algerien verschwunden, wenn es auch lange gedauert habe.
Das ist allerdings ein grotesker Vergleich. Die Franzosen haben ein großes, europäisches Land, in das sie gehen konnten. Sie haben eine Kolonie besetzt, die nie zu Frankreich gehört hat. Die Juden in Israel hingegen können darauf verweisen, dass sie schon vor Jahrtausenden in dieser Region waren, vertrieben worden sind und kein anderes, eigenes Land besitzen. Die Palästinenser können allerdings ihrerseits mit Recht fragen, was sie dafür können, dass die Juden aus Europa vertrieben worden sind und warum sie aufgrund des Holocaust kein Recht auf ihre Rückkehr haben. Es handelt sich also um äußerst tief verwurzelte Emotionen und Haltungen, die zu überwinden extrem schwierig ist.

Kunst als Motor

Politische Führer können sich einigen. Sie wissen, dass es einen Ausweg aus der Situation geben kann. Der eigenen Bevölkerung zu vermitteln, dass es – manchmal schmerzhafte – Kompromisse geben muss und nie alles durchgesetzt werden kann, ist allerdings für viele PolitikerInnen manchmal unmöglich und stellt eines der größten Probleme bei der Überwindung der Konflikte dar vor allem, wenn von den selben PolikerInnen Hass geschürt wird.
Kann Kunst eine Veränderung der politischen Verhältnisse herbeiführen? Auch darüber diskutierten wir an diesem Abend. Ausgangspunkt unserer Diskussion war ein Rundgang durch Wolf Werdigiers Atelier, wo wir seine Bilder – die mir ausgezeichnet gefallen – besichtigten. Aus meiner Sicht ist Kunst kein Instrument zur Veränderung der Gesellschaft. Kunst – sei es darstellende oder bildnerische Kunst – erweitert unseren Horizont. Sie ist aber ein eher unkontrollierbares Element in der Gesellschaft.

Katalysator der Veränderung

Diktaturen versuchen hingegen entweder, die Kunst zu kontrollieren und damit einzuengen, immer am Rande des künstlerischen Selbstverständnisses. Oder sie versuchen, die Künstler zu vertreiben, wie es in den großen Diktaturen der Nazis und des Stalinismus passiert ist, aber auch unter Milosevic am Balkan oder aktuell im Iran. Kunst kann also nicht so nebensächlich und unbedeutend oder einflusslos sein. Andernfalls würden sich Diktatoren und Regime ihr gegenüber viel offener oder einfach nur gleichgültig verhalten.
Der Mangel an Gleichgültigkeit gegenüber der Freiheit der Kunst bei autoritären Charakteren und Systemen zeigt jedenfalls, dass Kunst zwar kein Instrument der Veränderung ist, aber immer wieder einen Spaltpilz und Katalysator in Richtung Veränderung sein kann. Deshalb ist Kunst in Diktaturen und autoritären Regimes stets unwillkommen – soweit sie sich nicht für heroische und nationalistische Aufgabenstellungen instrumentalisieren lässt.

Revolte und Kunst

Bei der Publikumsdiskussion in Wolf Werdigiers Atelier wurde die Frage gestellt, ob es keine Lösungen gibt, um Konflikte, Kriege und Auseinandersetzungen aus unserer Welt verschwinden zu lassen. Ich bin in diesem Punkt nicht besonders optimistisch. Es wird immer wieder Konflikte und Kriege gegen. Zu viele Kompetenten dazu sind in der menschlichen Psyche verankert. Gerade auch Sigmund Freud hat das sehr eindrucksvoll in seinem Werk „Das Unbehagen in der Kultur“ zum Ausdruck gebracht.
Ich war gestern am frühen Abend aus Luxemburg nach Wien geflogen, um an der Diskussion teilnehmen zu können. Während des Fluges habe ich einen Beitrag von Albert Camus gelesen, dessen Werk zurzeit in Frankreich neu herausgegeben wird. Dabei ist mir ein Satz besonders haften geblieben. Camus hält darin fest, dass Leid und Gerechtigkeit immer in dieser Welt sein werden, aber dass Kunst und Revolte erst mit dem letzten Menschen von dieser Welt verschwinden werden. Das ist aus meiner Sicht ein sehr positiver Aspekt. Die Menschen werden Ungerechtigkeit und Leid nicht akzeptieren. Und nicht nur Revolte, sondern auch Kunst gehören zum Menschen.

Wien, 6.5.2006