Die NATO, Russland und die Europäische Union

 Die Europäische Union sollte gemeinsam mit Russland das Verhältnis einer intensiven, institutionalisierten Partnerschaft entwickeln.
Die Gründung eines neuen NATO-Rates „NATO-Russland“ Ende Mai 2002 sowie eine für den 3. Juni angesetzte Diskussion vom Europa Club Wien zum Verhältnis der Europäischen Union mit Russland, die ich gemeinsam mit dem früheren Vizeaußenminister Andrej Fjodorow und der Diplomatin Jutta Stefan-Bastl geführt habe, war Anlass, mir einige Gedanken über Europa und Russland bzw. über das Verhältnis Europas zur NATO zu machen.

Institutionalisierte Partnerschaft

Ich bin der festen Überzeugung, dass die Europäische Union gemeinsam mit Russland ein neues Verhältnis entwickeln soll: das Verhältnis einer intensiven, institutionalisierten Partnerschaft, die theoretisch auch einmal in eine EU-Mitgliedschaft Russlands münden kann. Wobei ich allerdings – zumindest aus heutiger Sicht – meine, dass diese Partnerschaft eine Alternative zur Mitgliedschaft Russlands in der Europäischen Union darstellen sollte. Wir wollen einen gemeinsamen Raum der Sicherheit sowie einen gemeinsamen Wirtschaftsraum schaffen und einen gemeinsamen Lebensraum gestalten. Dazu bedarf es, wie ich es auch in meinem aktuellen Buch formuliert habe, einer europäischen Assoziation mit Russland und vielleicht auch der Ukraine sowie anderen Ländern, etwa der Türkei, aber jedenfalls mit dem großen, schwierigen, aber wichtigen Partner Russland.

Für die Schaffung eines gemeinsamen Raumes der Sicherheit ist ohne Zweifel der Einschluss Russlands in den neuen gemeinsamen Rat, also die Umwandlung des bisherigen 19+1-Rates in einen Rat der 20 – der gegenwärtigen 19 Mitglieder plus Russland – ein ganz wesentlicher Schritt gewesen. Es ist offensichtlich, dass die Attentate vom September 2001 in New York von Präsident Putin sofort aufgegriffen worden sind, um sich in ein neues Verhältnis zu Amerika und damit indirekt zur NATO zu begeben – sicherlich nicht zuletzt aber auch, um freie Hand in der Auseinandersetzung bezüglich Tschetschenien zu bekommen.

Hintergründen des Terrors aufspüren

Der Terror ist in der Tat eine Bedrohung, die man nicht unterschätzen sollte. Einige tat- und schlagkräftige Organisationen verwenden die Religion und das Versagen des Westens, insbesondere der Amerikaner im Nahen Osten, um terroristische Aktivitäten zu entfalten und zu rechtfertigen. Dennoch muss festgehalten werden, dass die Konzeptionen, die hinter der Terrorbekämpfung bestehen – zwischen Amerika und Russland einerseits und der Europäischen Union andererseits – unterschiedlich sind und es auch bleiben sollen.

Das bedeutet nicht, dass Europa den Terror geringfügig schätzen kann bzw. sollte. Im Gegenteil: Wir sehen die wirtschaftlichen, sozialen und politischen Hintergründe des Terrors in einem viel größeren Ausmaß. Für uns ist es zu wenig, anzunehmen, dass die Ärmsten immer selbst zur Waffe greifen und terroristische Aktivitäten setzen. Wie auch schon in der Vergangenheit braucht der Terror eine breite Basis. Und genau diese bekommt er durch dir großen politischen, wirtschaftlichen und sozialen ungelösten Probleme und Spannungen, die es auf dieser Welt gibt. Theoretisch sind wir Europäer auch in diesem Punkt in einer leichten Differenz mit den Vereinigten Staaten von Amerika und einer noch größeren Differenz mit Russland. Wir glauben, dass die Wahrung der Menschenrechte bei aller Bekämpfung des Terrors gerade im Interesse ebendieser Bekämpfung ganz zentral ist und nicht abgetrennt von mehr Sicherheit gesehen werden kann.

Gemeinsame Infrastrukturprojekte

Die Sicherheitsaspekte, die im Verhältnis mit Russland in den Vordergrund zu rücken sind, beziehen sich selbstverständlich nicht nur auf das Militärische und die Bekämpfung der grenzüberschreitenden Kriminalität, sondern auch auf einen Aspekt, der gerade für die Gestaltung des gemeinsamen Wirtschaftsraumes sehr wichtig ist: die Energieversorgung. Russland spielt eine überaus wichtige Rolle in der Energieversorgung der industrialisierten Welt, es ist eine Alternative zur Energieversorgung aus dem Nahen Ostens und der islamischen Welt. Und daher geht es nicht darum, eine monolpolartige Situation durch eine andere zu ersetzen, sondern darum, im Sinne der Versorgungssicherheit und einer gebesserten Preisstruktur durchaus eine Diversifikation, eine entsprechende Aufteilung der Bezugsquellen für Erdöl und Gas zu bekommen. Auf diesem Gebiet kann Europa mit Russland sicher gut zusammenarbeiten und sollte das auch tun, gerade im Verhältnis zu verschiedenen kleineren Ländern in der Region, etwa dem Kaukasus und dem Nordkaukasus, Länder, die ebenfalls Interesse an einer engeren Zusammenarbeit mit Europa haben.

Jenseits der Energieversorgungsleitungen gibt es auch andere gemeinsame Infrastrukturprojekte, beispielsweise die Eisenbahnen, die im Bereich des Güterverkehrs ausgebaut werden sollten, und zwar im Interesse eines leistungsfähigen, transkontinentalen und nachhaltigen Güterverkehrsnetzes. Entscheidend für den Ausbau der Beziehungen EU-Russland und den Aufbau eines gemeinsamen Wirtschaftsraumes ist in nicht geringerem Ausmaß die Entwicklung einer Marktwirtschaft in Russland. Eine Marktwirtschaft als solches wird ja nie vollständig hergestellt, weil es immer auch nationale Interessen und Monolpolsituationen gibt. Aber man muss davon ausgehen, dass im Interesse einer gesunden Entwicklung der Wirtschaft in Russland selbst die einzelnen Schritte transparent sind und nicht eine durch einige Oligarchien dominierte Marktwirtschaft erfolgen wird und sich so insgesamt die Kooperationsbasis auf wirtschaftlicher Ebene verbessern wird.

Gemeinsamer Lebensraum

Wir müssen dabei auch darauf achten, dass die Interessen der Bevölkerung in der erweiterten Europäischen Union wie in Russland jene sind, die man unter dem Begriff „gemeinsamer Lebensraum“ und dessen Gestaltung bzw. Verbesserung subsumieren kann. Und dazu gehört der gemeinsame Kampf gegen die grenzüberschreitende Kriminalität genauso wie eine Bewahrung bzw. Verbesserung der Umweltsituation. Wenn wir allein an die Situation mit Atomkraftwerken, Atomunterseebooten und anderen großen Industrieanlagen denken, dann wird schnell deutlich, dass aufgrund der Industrialisierungsprioritäten in Russland in den vergangenen Jahrzehnten unzählige Umweltsünden begangen worden sind. Doch trotz der scharfen Maßnahmen gegenüber Jenen, die diese Sünden aufdecken wollen, gibt es auch in Russland bereits ein verstärktes Interesse, die Umwelt, soweit sie noch intakt ist, zu bewahren und dort, wo Schäden entstanden sind, diese weitestgehend zu beheben.

Ein letzter Punkt, den ich in diesem Zusammenhang besonders erwähnen möchte, ist Kaliningrad. Kaliningrad wird mit dem Beitritt Polens und der baltischen Staaten zur Europäischen Union eine russische Enklave werden. Die Kaliningrader erklären verschiedene Interessen, insbesondere jenes nach einem visafreien Zugang über das Gebiet der Europäischen Union in Form eines Korridors. Solche Forderungen kann man nicht so ohne weiteres gewähren bzw. auf die man gar nicht eingehen kann, ohne das gesamte Visasystem überhaupt in Frage zu stellen. Ausserdem sind gerade die betroffenen Ländern nicht sehr angetan davon, dass ihnen ein solcher Korridor durch Russland aufgezwungen werden könnte.

Sonderfall Kaliningrad

Zweifellos muss die Zugänglichkeit zur Enklave Kaliningrad verbessert werden, etwa durch Tagesvisa oder durch längerfristige Visa für Personen, die regelmäßigen wirtschaftlichen oder sonstigen Verkehr zwischen Russland und Kaliningrad haben. Das sind Punkte, die man pragmatisch lösen kann. Wir in der Europäischen Union sind aber doch sehr enttäuscht darüber, dass Russland auf verschiedene Angebote, eine gemeinsame Politik hinsichtlich Kaliningrads zu entwickeln, kaum eingegangen ist und sich auf die Frage der Visa konzentriert hat. Wir haben im Europäischen Parlament kürzlich auch einen Bericht dazu verfasst. Im Allgemeinen wurde angenommen, dass Kaliningrad geradezu der Prototyp guter Beziehungen zwischen Russland und der Europäischen Union sein könnte. Das ist in der Realität bisher leider nicht umgesetzt worden bzw. gibt es noch zu wenig Bereitschaft dazu.

Zum Abschluss meiner kurzen Bemerkungen zum Thema EU-Russland möchte ich nochmals kurz auf die weitere Entwicklung der NATO zurückkommen. Wie schon erwähnt: Für mich ist der Einschluss Russlands in den neuen NATO-Rat ein positives Signal für die Sicherheit in Europa. Ich will aber auch nicht verschweigen, dass ich einige Bedenken habe, wenn diese starke Anbindung Russlands an die NATO nicht von einer Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungskomponente begleitet wird.

NATO neu

Amerika und Russland haben als grosse Mächte, die ganz anders als die Europäische Union aufgebaut sind, den Vorteil der leichteren und schnelleren Entscheidungsfähigkeit. Aber auch in der Bekämpfung des Terrors gehen sie andere, autoritärere Wege als wir es in der Europäischen Union gewohnt sind. Wenn nun nach den Äußerungen von Bush und dem amerikanischen Verteidigungsminister Rumsfeld Toni Blair und der spanische Premierminister Aznar einen Brief an den NATO-Generalsekretär Robertson geschrieben haben, indem sie meinen, dass die NATO sich stärker dem Kampf gegen den Terrorismus verpflichten sollte, dann wird das unter diesem Aspekt problematisch. Der Kampf gegen den Terror kann zum Einen nicht rein militärisch gesehen werden. Und zum Anderen muss es eine Zusammenarbeit mit möglichst vielen Ländern geben, gerade auch mit jenen, die nicht in der NATO vertreten sind. Wenn zudem die europäisch eigenständige Komponente nicht stark genug entwickelt ist, wird eine solche Orientierung äußerst problematisch.

Hinzu kommt die wachsende Bereitschaft, eine begrenzte Zahl von ehemaligen Ostblockmitgliedern aufzunehmen. Dies kann von Seiten der Amerikaner auch als eine Art Verbeugung vor der amerikanischen Dominanz in der NATO interpretiert werden, wie es sich ja gerade auch beim Einsatz in Afghanistan abgezeichnet hat. Das bereitet mir einiges Kopfzerbrechen – wenngleich es kaum aufzuhalten sein wird. Schon gar nicht durch ein kleines Land wie Österreich oder einige Vertreter der österreichischen Neutralität. Mir geht es dabei aber gar nicht um die Frage der Neutralität, sondern vielmehr um die Frage, wieweit Europa innerhalb und ausserhalb der NATO ein starkes eigenes Gewicht einbringt und den etwas simplizistischen sicherheitspolitischen Vorstellungen der Amerikaner und Russen etwas entgegenzuhalten hat.

Sicherheitspolitisches Konzept fehlt

Die Europäische Union sollte aus meiner Sicht weniger Geld für Verteidigung und Rüstung ausgeben – auch wenn das in den nächsten Jahren gerade in diesen Bereichen notwendig sein sollte. Ich weiß, dass auf rüstungspolitischem Gebiet vor allem eine verstärkte Zusammenarbeit notwendig wäre, um das Geld effizienter einzusetzen. Und ich weiß auch, dass wir für zivile Ausgaben im Rahmen der Sicherheit bei weitem mehr Geld zur Verfügung stellen als die Amerikaner. Aus meiner Sicht ist es allerdings nicht möglich zu argumentieren, dass wir militärisch genauso viel wie die Amerikaner ausgeben und darüber hinaus auch auf zivilem Gebiet weit mehr investieren.

Leider wird über die Frage der Sicherheitskonzeption und der Relevanz der militärischen Komponente in der Sicherheitspolitik viel zu wenig diskutiert. Allzu Viele gehen davon aus, mehr Rüstung bedeute mehr Sicherheit und wer Sicherheit will, müsse viel mehr für Rüstung ausgeben. Und fast Alle gehen davon aus, dass der Terrorismus militärisch zu bekämpfen ist. Das alles sind Schlussfolgerungen, die ich in dieser Einfachheit nicht teilen kann. Gerade für diese Fragen bedarf es einer Debatte in Europa und der Entwicklung eines entsprechenden sicherheitspolitischen Konzeptes. In genau diesem Punkt scheint mir Europa nicht weit genug entwickelt zu sein und NATO-Generalsekretär Robertson aus seiner Funktion heraus viel zu einfach und zu militärisch zu denken.

Die neue NATO-Strategie der Terrorbekämpfung ist auch insofern problematisch, als in Amerika eine Art von Erstschlag-Philosophie entwickelt bzw. stärker in den Vordergrund gerückt worden ist.

Überholte „Erstschlag“-Theorie

Ich erinnere mich noch gut an die so genannte Erstschlag-Theorie, die in früheren Zeiten mit der nuklearen Verteidigung bzw. Offensive verbunden war. Amerika und die NATO haben damals gemeint, sie müssten sich das Recht vorbehalten, bei drohenden Gefahren den ersten atomaren Schlag vorzunehmen, selbst wenn dadurch ein neuer Atomkrieg initiiert werden würde. Die Zeiten haben sich inzwischen geändert – das geben auch die Amerikaner und die NATO zu. Es geht nicht mehr um die Gefahr eines atomaren oder sonstigen Schlages aus dem Reich des Bösen, der Sowjetunion bzw. Russland. Heute geht es vielmehr um so genanntes terroristisches Potential aus den Bereichen kleiner nicht-staatlicher Organisationen oder gar von einzelnen Personen.

David Rumsfeld hat kürzlich in der Zeitschrift „Foreign Affairs“ klargestellt, dass es zu einer grundlegenden Veränderung der Verteidigungsstrategie kommen muss. Er meinte: „Wir müssen nicht nur unsere Armee, sondern auch das Verteidigungsministerium verändern, indem wir zu einer Kultur der Kreativität und des intelligenten Risikos ermuntern. Wir müssen einen stärker unternehmerischen Ansatz fördern: einen, der die Menschen motiviert, mehr aktiv als reaktiv zu sein und weniger bürokratisch, sondern mehr wie ein mutiger Unternehmer zu handeln; einer, der nicht darauf wartet, dass Gefahren entstehen, sondern diese eher voraussieht, bevor sie erscheinen und neue Fähigkeiten, sie abzuhalten, sie zu verhindern, entwickelt.“

Gefährliches Amalgan

Diese „intelligente Risiko“, Rumsfeld nennt es wörtlich „intelligent risk taking“, kann äußerst problematisch und gefährlich sein, da es von den Amerikanern einseitig definiert und bestimmt wird. Jener Satz, den man ebenfalls in besagtem Artikel findet: „Die beste – und in einigen Fällen die einzige – Verteidigung ist eine gute Offensive“ stimmt als solches und kann nicht negiert werden. Aber auch hier geht es um die Frage, wer bestimmt, gegen wen die Offensive vorzunehmen ist – ist es der amerikanische Geheimdienst bzw. das amerikanische Militär?

Wenn nun das Militärbündnis der NATO als das Bündnis schlechthin zur Bekämpfung des Terrors gesehen wird, dann wird allenfalls Russland miteinbezogen werden, aber andere Partner sicher nicht. Letztendlich mutieren diese vielmehr zu Objekten im Kampf gegen den Terror. Wenn man weiß, dass innerhalb der NATO vor allem die Amerikaner mit einigen wenigen Alliierten, beispielsweise mit Großbritannien, und auch das nur auf einer niedrigen und abhängigkeitsdominierten Ebene, entscheiden, was Terror ist und was nicht, und schliesslich noch die Erstschlag-Philosophie hinzukommt, dann ist dies aus meiner Sicht ein brandgefährliches Amalgam.

Europa sollte dieser simplen Konzeption nicht nachlaufen, sondern verstärkt die Ansicht vertreten, dass nur eine Mischung militärischer und sicherheitspolitischer Vorgangsweisen in Kombination mit einer Verbesserung der wirtschaftlichen Ungleichgewichte in unserer Welt und dem Versuch, Verhandlungsergebnisse zu erzielen, zu einem wirklich durchgreifenden Kampf gegen den Terrorismus führen kann.

Die Lehren vom 11.9.2002

Simple Militärstrategien, wie sie von einigen führenden Köpfen der jetzigen NATO-Administration konzipiert werden, sind jedenfalls nicht zielführend. Gerade solche Strategien laufen Gefahr, durch Mängel im Geheimdienst sowie in der Informationsweitergabe und -aufnahme zerstört zu werden. Das haben jüngst auch die Ergebnisse der Diskussion im US-Kongress bezüglich der Fehler vom 11. September gezeigt. Man sollte nicht nur daraus die kurzfristigen Lehren ziehen und die Zusammenarbeit und Informationsdienste für Geheimdienste verbessern, was zweifellos sehr wichtig ist – insbesondere auf internationaler Ebene.

Man sollte vor allem auch die Lehren ziehen, dass nur ein sehr breiter Ansatz es ermöglichen wird, nachhaltig gegen den Terrorismus vorzugehen. Es geht nicht darum, dem Terrorismus die Gefährlichkeit abzusprechen, sondern darum, die effizienteste Form der Terrorismusbekämpfung zu finden und nicht jene Form, die in erster Linie den Militärs und der Rüstungsindustrie dient. 
Wien, 9.6.2002