Die Notbremse gezogen

Bei der Debatte um die EU-Kommission ging es weder um einen Glaubenskampf noch um Intoleranz gegenüber gewissen Ansichten, sondern um den politischen Ausdruck einer Mehrheit im Europäischen Parlament.
In der letzten Woche haben wir im Europäischen Parlament Geschichte geschrieben. Zum ersten Mal seit seinem Bestehen hat das Europaparlament den Vorschlag einer neuen Kommission abgelehnt bzw. hat der Kommissionspräsident in letzter Minute seinen Vorschlag zurückgezogen, weil er gemerkt hat, dass es andernfalls zu einem negativen Votum kommt.

Klare Absage an Buttiglione

Ausgangspunkt war zweifellos das Hearing mit Rocco Buttiglione, dem italienischen Kandidaten. Ihm hatte der zuständige Ausschuss ein negatives Votum ausgestellt. Seine Äußerungen waren für jemanden, der die Aufgabe hat, gegen jegliche Art der Diskriminierung in Europa zu kämpfen und die Rolle der Frau zu stärken sowie für Gleichberechtigung zu sorgen, eine Provokation. Seine Bezeichnung der Homosexualität als Sünde und seine Philosophie, die Frau zurück ins Haus zu drängen und den Mann als den Beschützer der Frau zu sehen, konnten nicht unwidersprochen bleiben.
Viele von uns hätten sich zwar mit einer Umbesetzung in den Ressorts zufrieden gegeben, hätte Barroso rasch reagiert. Das hat er aber nicht getan, er kam zu spät mit einem Vorschlag, der sich nur mit kleinen Korrekturen im Geschäftsbereich Buttigliones zufrieden gegeben hat.

Schwache Performance

Es gab aber auch noch andere Kritikpunkte. Etwa an Neelie Kroes, die es schwer haben wird, in ihrem Bereich der Wettbewerbspolitik tätig zu sein, da sie zu unzähligen großen Firmen enge berufliche Kontakte hatte. Auch Frau Udre aus Lettland stand unter verschiedenen Korruptionsvorwürfen. Und einige KandidatInnen waren in ihrer Präsentation schwach, nicht zuletzt László Kovác, der sich auf sein Ressort Energie nur sehr rudimentär vorbereitet und das Hearing im Europäischen Parlament auf Grund der innenpolitischen Beschäftigung nicht sehr ernst genommen hat.
Es bleibt also die Tatsache bestehen, dass wir im Europaparlament mit dem Kommissionsvorschlag mehrheitlich unzufrieden waren. Barroso hatte damit gerechnet, die Mehrheit der Liberalen auf seine Seite zu ziehen und dass auch aus unserer der sozialdemokratischen Fraktion jene, die „eigene“ Kommissare aus ihren Heimatländern haben, die Kommission nicht ablehnen oder sich zumindest der Stimme enthalten werden. Nach einer langen Diskussion gab es dennoch ein eindeutiges Votum.

Einheitliche Linie

In unserer Fraktion hatten wir uns entschlossen, weder Enthaltungen noch Gegenstimmen gegen den Vorschlag der Kommission auszusprechen, sondern gegen die Kommission zu stimmen. De facto hätten sich vielleicht einige Wenige der Stimme enthalten, aber die Linie der Fraktion war klar – und 98% hätten diese Linie auch eingehalten.
Nun, Barroso hat sich bis zuletzt dagegen gewehrt, seinen Vorschlag zurückzuziehen, aber wir waren durchaus auf eine entsprechende Niederlage für seinen Vorschlag vorbereitet. Am Morgen der Abstimmung hat er dann allerdings doch noch erkannt, dass es das Schlimmste für ihn gewesen wäre, hätte er eine Niederlage zugefügt bekommen. Barroso hat also seinen Vorschlag zurückgezogen, und daher kam es zu keiner Abstimmung.

Richtige Entscheidung

Ich glaube, dass das letztendlich eine richtige Entscheidung war. In diesen Tagen haben mich auch sehr viele Menschen angesprochen, vor allem in Österreich – auf der Straße oder in der U-Bahn – die hundertprozentig mit unserer Haltung einverstanden waren. Mag sein, dass darunter auch einige waren, die im Prinzip ohnehin gegen die Europäische Union sind, aber viele haben diesen wichtigen demokratischen Schritt anerkannt und gemeint, jetzt wüssten sie, warum sie zur Wahl gegangen sind.
Genau das scheint mir das Entscheidende zu sein. Zum Einen geht es zweifellos um die Frage, ob wir Haltungen, wie sie Buttiglione vertreten hat, in diesem Amt akzeptieren können. Es handelt sich dabei um keinen Glaubenskampf oder eine Diskriminierung von Menschen, die – aus meiner Sicht – extrem konservative Anschauungen vertreten.

Nicht klein beigegeben

Das entscheidende ist vielmehr, dass das Parlament seine Möglichkeiten und seine Rechte auch wahrnimmt und sich die Erwartung Vieler, etwa zahlreicher JournalistInnen, aber auch vieler BürgerInnen, wir würden klein beigeben, nicht erfüllt haben. Damit haben wir zu einem nicht unwichtigen Schritt in Richtung Demokratie und in Richtung Parlamentarisierung der europäischen Ebene beigetragen.
Wir SozialdemokratInnen haben diesen Prozess auch nie als eine rein politische Sache gesehen, weil wir durchaus auch die Kritik an Kovác anerkannt haben. Es gab bei László Kovác, dem ehemaligen ungarischen Außenminister, zwar keine negative Stellungnahme im eigentlichen Sinn. Aber eine Mehrheit hat doch fast einstimmig gemeint, dass seine Vorbereitung und sein Fachwissen in dem Hearing zu gering waren, um im Ressort Energie zu arbeiten.

Kommission neu

Inzwischen gibt es mehrere Änderungen. Udre wurde von Lettland zurückgezogen, Buttiglione von Italien und statt ihm Außenminister Frattini nominiert. Barroso hat vorgeschlagen, dass Kovác ein anderes Ressort bekommt, und zwar jenes, das für Udre vorgesehen war, und dass der neue lettische Kommissar das Energieressort erhält. Wir müssen selbstverständlich noch weitere Hearings abhalten und prüfen, ob die Neubesetzungen bzw. die Umbesetzung in unserem Sinn sind. Das soll übernächste Woche geschehen. Danach wird sich zeigen, ob wir in der kommenden Straßburgsitzung, nur wenige Tage nach dem Hearing, unsere Zustimmung zur Kommission geben können.
Ich möchte es nochmals deutlich betonen: Wir haben eine gesellschaftspolitische Auseinendersetzung geführt und klar gemacht, dass wir uns mit den Ansichten Buttigliones nicht anfreunden können. Aber es ging dabei weder um einen Glaubenskampf noch um Intoleranz gegenüber diesen Ansichten, sondern vielmehr um den politischen Ausdruck einer Mehrheit im Europäischen Parlament. Entscheidend war und ist, deutlich zu machen, dass die Demokratie auf europäischer Ebene eine Rolle spielt und dass die Vorschläge der Regierung nicht alle automatisch akzeptiert und angenommen werden.

Was hält Europa zusammen?

Dieser Tage fand auch in Österreich eine Veranstaltung über die Frage, was Europa zusammenhält, statt. Dabei gab Noch-Kommissar Pascal Lamy, den ich ungeheuer schätze, eine interessante Stellungnahme ab. Er meinte, für ein Europa, das in den Augen der Bevölkerung Zustimmung erhält, bedürfe es demokratischer Institutionen, eines Europabildes, das den Menschen als positiv vermittelt werden kann und schließlich eines „Unterhaltungseffektes“ – und zwar in dem Sinne, dass die Menschen erkennen können, dass tatsächlich Auseinendersetzungen stattfinden und nicht alles unter der Hand ausgemauschelt wird.
Ich glaube, dass wir in den letzten Tagen sowohl für das demokratische Institutionengefüge der EU als auch für die Frage der Sichtbarkeit von Entscheidungsprozessen einiges getan haben. Und genau das wird, wie gesagt, auch breit anerkannt.

Was bringt Europa den Menschen?

Noch offen ist hingegen die Frage, was Europa den Menschen bringt. Ein damit in Zusammenhang stehendes Problem hat der bekannte Soziologe Claus Offe bei besagter Tagung angeschnitten. Er meinte, dass mehr Vertrauen, Akzeptanz und Zustimmung zur Europäischen Union konsumiert als produziert werrden, dass also die Menschen das Gefühl haben, dass Europa nicht mehr bringt als es ihnen an Möglichkeiten und Chancen nimmt.
Dieses Phänomen hängt zweifellos damit zusammen, dass Europa heute in einer völlig anderen Welt aktiv wird. In einer Welt, in der es zunehmenden Wettbewerb und Konkurrenzsituationen gibt, wo von China, Indien, etc. Arbeitsplätze und Ressourcen abgezogen werden und wir keine dominante Rolle mehr spielen.

Nagelprobe

Es hängt aber auch damit zusammen, dass es uns nicht gelungen ist, die von uns angestrebte Wettbewerbsfähigkeit gegenüber den USA in den Vordergrund zu rücken und eine Art Überholprozess einzuleiten.
Daran werden wir noch sehr viel arbeiten müssen, und auch das wird ein Punkt der Auseinandersetzung mit der künftigen Kommission sein, wenn sie einmal installiert ist. Wird diese Kommission bereit sein, auf dem Gebiet der Wirtschaftlichkeit und der sozialen Probleme mehr Kapazität zu zeigen und den Menschen das Gefühl zu geben, dass sie für sie arbeitet? Oder wird sie eine Kommission sein, die stur ihren Weg der Liberalisierung, der Durchsetzung bürokratisch vorgeformter Meinungen gehen wird und nicht bereit ist, jene Probleme, die die Menschen bewegen – insbesondere bei der Beschäftigung und der Sicherheit – anzugehen?

Europa muss für alle da sein

Das alles ist keine leichte Aufgabe bei 25 Mitgliedsländern, aber es ist die entscheidende Herausforderung, der wir uns zu stellen haben. Wir müssen dazu eine entsprechende öffentliche Auseinandersetzungen initiieren: Über den richtigen Weg und die dringendsten Probleme, die wir in Europa zu lösen haben, im Bewusstsein, dass einfache Lösungen nicht am Tisch liegen und dass wir in neuen Wettbewerbsverhältnissen einer globalen Welt leben, die nicht die Welt von gestern ist, und im Bewusstsein, dass wir den Menschen nur dann Vertrauen in dieses Europa einflößen können, wenn sie das Gefühl haben, dass Europa für sie da ist und nicht nur für eine kleine Elite.
Selbst wenn wir also der neuen Kommission zustimmen, sind die Diskussionen über gesellschaftliche Probleme, die wir zu lösen haben und die gesellschaftspolitischen Auseinandersetzungen noch keineswegs vorüber. Sie werden wahrscheinlich sogar noch stärker werden.

Kreuzzug der Rechten

Von rechter – konservativer, insbesondere konservativ-katholisch-fundamentalistischer – Seite wird die Abstimmungsniederlage in Straßburg bzw. die Ablehnung von Buttiglione zum Anlaß genommen, eine Kampagne, fast möchte ich sagen einen kleinen Kreuzzug zu beginnen. Sie sehen sich als Opfer einer Unterdrückung. Jüngste Beispiele dafür gab es auf der bereits erwähnten Tagung in Wien, die vom Institut für die Wissenschaft vom Menschen organisiert wurde.
József Szájer, ein Vertreter der ungarischen Partei FIDES, der auch stellvertretender Fraktionsvorsitzender der Europäischen Volkspartei im Europäischen Parlament ist und Lech Kaczynski, der Bürgermeister von Warschau und aussichtsreichste Kandidat für das Amt des polnischen Staatspräsidenten, haben deutlich gemacht, dass sie die Ablehnung von Buttiglione nicht stillschweigend übergehen werden.
Kaczynski ist ein Anhänger der Todesstrafe, und Szájer vertritt die Meinung, dass Toleranz ein mehr oder weniger ausschließlich christlicher Begriff und Wert ist. Und beide haben auf der Tagung zutiefst bedauert, dass das Christentum im Entwurf der europäischen Verfassung nicht stärker verankert ist. Es gibt hier also eine sehr aggressive, fundamentalistische Haltung, die zweifellos auch noch in den nächsten Jahren zum Ausdruck kommen wird.

Erzielten Fortschritt bewahren

Ein sehr wohlmeinender Österreicher, der auf internationaler und europäischer Ebene tätig ist, hat in einer Tagungspause zu mir gemeint, wir sollten vorsichtig sein, dass diese fundamentalistischen Strömungen nicht zu stark werden und uns mit unserer Kritik zurückhalten. Ich verstehe das durchaus als einen positiven wohlmeinenden Ratschlag.
Aber wir haben immer ganz klar und deutlich gemacht, dass es uns nicht um die Verhinderung von Meinungen geht, sondern dass wir den bereits erzielten Fortschritt – etwa in der Frage der Nichtdiskriminierung der Homosexualität, in der Frage der Rolle der Frau, aber auch in der Frage der Vielfältigkeit der Kulturen und Religionen sowie der Ablehnung jeglichen Monopolanspruchs einer Religion – nicht wieder gefährden wollen. Genau darum geht es aus meiner Sicht heute sehr stark in der politischen Auseinandersetzung auf europäischer Ebene: Stehen wir zu diesem Fortschritt, zu dieser Offenheit und Toleranz allen Formen des familiären Zusammenlebens, der geschlechtlichen Orientierung, allen Religionen gegenüber oder sollen diese im Namen der sogenannten christlichen Werte in der europäischen Kultur wieder eingeschränkt werden?

Europäische Werte bewahren

Bei der IWM-Tagung in Wien hat der Soziologe Claus Offe eine weitere interessante These in den Raum gestellt. Er meinte, Europa sei durch die furchtbarsten Katastrophen gekennzeichnet, denkt man besonders an das vorige Jahrhundert mit dem 1. und 2. Weltkrieg, den Terrorismus im Sinne der furchtbaren Entwicklungen in Deutschland und Österreich mit dem Nationalsozialismus oder der Entwicklung durch den Kommunismus, also die totalitären Systeme.
Europa zeichnet sich aber laut Offe auch durch die Kriterien, die Möglichkeiten und die Geisteshaltung aus, mit der die Totalitarismen bekämpft werden können. Und gerade in der jetzigen Phase, in der die Werte der Aufklärung, der Demokratie, der Toleranz, der Kooperation und der Nichtunterdrückung im Vordergrund der Europäischen Einigung stehen, sei es wichtig, diesen Teil Europas und die Tendenzen unserer Entwicklung, entsprechend zu fördern und zu unterstützten.

Wirkliche gesellschaftspolitische Auseinandersetzung

Damit ist die Auseinandersetzung in den nächsten Jahren bereits ein wenig vorgezeichnet. Positiv wäre es, würde diese Auseinandersetzung verstärkt gesellschaftspolitisch geführt werden und nicht so wie zwischen Polen und Frankreich, Frankreich und Deutschland oder Großbritannien und Deutschland. Es sollte dabei quer durch die nationalen Ebenen um die Interessen und die Zukunft der Gesellschaft sowie des Wirtschafssystems auf der europäischen Ebene gehen. Was die Frage der Gesellschafspolitik, des Freiheitsbegriffs, der Toleranz und der Nichtdiskriminierung betrifft, sind wir als SozialdemokratInnen sicher auch in einem Boot mit vielen VertreterInnen der liberalen Kräfte.
Auf der anderen Seite allerdings sind wir, was die Frage der sozialen Absicherung der Marktwirtschaft, also der sozialen Sicherheit, die wir den Menschen trotz oder gerade wegen der Schwierigkeiten globaler Entwicklungen, geben wollen, Gegner der Wirtschaftsliberalen und Konservativen – allerdings gibt es sogar bei manchen Teilen der Konservativen Verbündete!

Bündnispartner suchen

So scheint mir für die europäische Sozialdemokratie nur ein Weg möglich: Wir müssen uns – je nach Anlass – Bündnispartner suchen. Genau das haben wir in der letzten Wochen im Europäischen Parlament sehr pragmatisch und sehr gezielt versucht. Bündnispartner sind deshalb wichtig, weil es einerseits um die gesellschaftspolitische und andererseits um die wirtschafts- und sozialpolitischen Vorstellungen geht, die wir in Europa durchsetzen wollen.
Im ersten Fall ist es noch leichter, Mehrheiten auf europäischer Ebene zu finden. Im zweiten Fall ist es weitaus schwieriger. Aber klar ist auch hier: Wenn es um wirtschafts- und sozialpolitische und nicht sosehr um nationale Interessen und Auseinandersetzungen geht, gibt es kein einfaches Rechts-Links Schema. Wir müssen aus Sicht der Sozialdemokratie versuchen, mit unterschiedlichen Bündnispartnern verschiedene Interessen durchzusetzen. Das macht die Dinge vielleicht weniger übersichtlich oder transparent, aber es wird auch an uns liegen, in welche Richtung wir zu gehen haben.
Straßburg, 28.10.2004