Die nördliche Dimension

Mit der EU-Erweiterung zieht die nördliche Dimension, die Russland, aber auch die baltischen Staaten miteinbezieht, in die europäische Debatte ein. 
Die finnische Präsidentschaft hat mit sehr starkem Nachdruck – und das ist auch jetzt in Nizza bestätigt worden – die nördliche Dimension in die europäische Debatte eingeführt. Mir war nie ganz klar, was damit im einzelnen gemeint ist, und auch heute ist mir das noch nicht ganz klar. Aber dem Grunde nach geht es darum, eine besondere Betrachtungsweise der nördlichen Region in die Debatte hineinzubringen – und das ist ein Ansatz, der Russland, aber auch die baltischen Staaten, miteinbezieht.

Ein russischer Litauer zu Besuch

Wir haben gerade diese Woche einen Initiativbericht des Kollegen Oostlander über Russland besprochen und verabschiedet. Kollege Oostlander ist ein von mir sehr geschätzter niederländischer Abgeordneter der Europäischen Volkspartei. Seine Berichte sind allerdings nie ganz leicht zu lesen und die Linien sind oft nur schwer zu erkennen. Daher haben wir Sozialdemokraten uns im Ausschuss auf meinen Antrag hin zunächst der Stimmen enthalten, noch einige Verbesserungsvorschläge vorgenommen und erst dann dem Antrag im Plenum zugestimmt.
Russland war auch das Thema bei einem Gespräch, das wir gestern Abend in einem kleinen Kreis von sozialdemokratischen Parlamentariern geführt haben. Es war interessant für uns, einen Gast aus Litauen zu haben: Ein litauischer Abgeordneter, der von Fall zu Fall in Zukunft bei den Fraktionssitzungen teilnehmen wird, um sich bereits auf die Erweiterung der Europäischen Union durch sein Land vorzubereiten. So wie viele andere Kolleginnen und Kollegen aus den Erweiterungskandidatenländern sind die Litauer mit Nizza weitaus zufriedener als wir. Sie sehen einen klaren Terminplan, oder wie das heute neutechnisch heißt, eine „Road Map“, und damit sind sie ihrem Ziel näher gerückt. Sie wissen, wie viele Abgeordnete, wie viele Stimmen sie haben werden und sie sind auch hier nicht schlecht behandelt worden – sie können also zufrieden sein. Die Tatsache, dass bei der inneren Entscheidungsfähigkeit der Union nicht viel geleistet, sondern sogar etwas dagegen getan worden ist, berührt sie heute noch nicht so bzw. wird darüber hinweg gesehen.

Eine neue Dimesion

Unser Kollege aus Litauen hat aber gestern Abend eine Reihe interessanter Gedanken und Überlegungen in die Debatte eingebracht. Das zeigt, dass wir sicherlich durch den Beitritt der baltischen Staaten ganz andere Dimensionen in die Europäische Union hineinbekommen. Als einer von uns sehr kritisch über Putin und über die derzeitige russische Führung gesprochen hat, meinte er, er könne dem überhaupt nicht zustimmen. Früher, da gab es eine Diktatur. Aber doch nicht heute! Putin versuche einfach, das Land ein bisschen zusammenzuhalten und Ordnung anstatt Chaos zu schaffen.

Geboren im Straflager

Er selbst, so meinte unser Kollege aus Litauen, ist in Sibirien geboren. Und zwar in einem Straflager, in dem seine Eltern über etwa drei Jahrzehnte verbracht haben. Erst mit acht Jahren kam er nach Litauen. Und deshalb – und man beachte die Logik – fühlt er sehr russisch und ist auch sehr russisch. Er war vor kurzem in seinem Heimatort, in jenem Ort, in dem sich das Lager befand, wo er geboren wurde. Er war entsetzt über die Verhältnisse, über das Chaos, die Unordnung, die dort herrschen. Und daher ist für ihn absolut notwendig, dass es wieder Ordnung gäbe – und Putin ist bis zu einem gewissen Ausmaß die Garantie dafür. Auch in seiner Heimat war er selbst verfolgt und inhaftiert, weil er sich zur Sozialdemokratie bekannt und immer wieder versucht hat, sozialdemokratische Gedanken, die er von seinem Vater vererbt bekam, in die Diskussion zu bringen.
Es ist interessant zu sehen, dass dieser Parlamentarier aus Litauen die Gedanken und Ideen der Sozialdemokratie natürlich unter viel schwierigeren Verhältnissen vertreten hat und mit Gefängnis dafür bestraft wurde. Auch interessant zu sehen ist, dass er, obwohl er unter der Sowjetunion gelitten hat und wieder froh ist, in Litauen in Freiheit zu leben und in die Europäische Union eintreten möchte, eine sehr enge emotionale Verbindung zu Russland, insbesondere zu seiner Heimatregion in Sibirien, aufrecht erhält. Litauen ist ja eines jener Länder, gemeinsam mit Estland, das eine starke russische Minderheit hat und wo auch die Integration dieser russischen Minderheit, die ja vor allem mit der Kolonialisierung und der Herrschaft der Sowjetunion gekommen ist, große Probleme verursacht.

Der gläserne Este

Apropos Estland: Estland ist ein weiteres spannendes Land in dieser Region. Denn Estland hat dieser Tage auf parlamentarischer Ebene beschlossen, nach langen Debatten und Untersuchungen ein großes genetisches Projekt in Gang zu setzen. Das Ziel dieses Projektes ist es, dass etwa eine Million Esten ihr Erbgut in einer Gendatenbank deponieren und für wissenschaftliche Forschungen zur Verfügung stellen sollen. Ein kompliziertes Sicherungssystem soll gewährleisten, dass die Anonymität der Daten gesichert ist und dass es keinen Missbrauch geben darf, inklusive die Weitergabe dieser Daten an Sozialversicherungen, Unternehmen etc. Es ist ein sehr großes wissenschaftliches Projekt, das natürlich auch Geld bringen soll. Und dieses Geld soll dem Gesundheitssystem in Estland zur Verfügung gestellt werden.

Ethik versus Wissenschaft

Es ist schwer, ein derartiges Projekt zu beurteilen. Es ist von der wissenschaftlichen Seite ein großartiges Unternehmen und kann auch bedeutende wissenschaftliche Erkenntnisse bringen. Das Projekt kann, und das beabsichtigen die Esten, natürlich auch viel Forschungskapazität nach Estland bringen. Estland könnte ein internationales Zentrum für Genforschung werden, natürlich auch für die Entwicklung von Gentechnologie.
Und so haben wir in dieser nördlichen Dimension auf der einen Seite ein kleines baltisches Land, das eine Art Silicon Valley auf dem Gebiet der Gentechnologie werden und einen Sprung in die neuesten psychologischen und medizinischen Entwicklungen machen möchte. Auf der anderen Seite steht das große russische Reich, das dieser Tage beschlossen hat, die alte Sowjethymne, die unter Stalin eingeführt wurde, wieder zur Hymne des russischen Reiches zu machen, wenngleich mit einem adaptierten Text. Das große Russland träumt von manch „großer“, aber oftmals furchtbaren, schrecklichen Vergangenheit. Das kleine Estland hingegen möchte die Vergangenheit lieber so schnell wie möglich vergessen und träumt von einer lichten, gentechnologischen und medizinischen Zukunft.

Zwischen den Welten

Das sind die Spannungen zwischen den Welten auf unserem Kontinent. Damit fertig zu werden, ist eine große gesellschaftliche Aufgabe. Und sicherlich, ich hoffe die Esten haben sich das alles gut überlegt, ist es für dieses Land, aber wahrscheinlich auch für Europa insgesamt, schwierig, den richtigen Weg zu finden, um das Spannungsverhältnis zwischen wissenschaftlichen Erkenntnissen und gesundheitspolitischen Überlegungen auf der einen Seite und der Wahrung der Menschenwürde und der Grundwerte auf der anderen Seite zu wahren. Und genau das macht ja die Grundwertecharta, die in Nizza zwar beschlossen, wenngleich noch nicht zu einem tragenden Element der europäischen Verfassung gemacht worden ist, so wichtig. Wissenschaftliche, technologische Möglichkeiten dürfen niemals die Grundwerte und die Humanität zur Seite schieben. Hier die Grenzen zu ziehen, ist eine wichtige gesellschaftspolitische Aufgabe in Europa. 
Strassburg, 15.12.2000