Die Quadratur des Kreises

Oft steht das Gemeininteresse in krassem Widerspruch zu den Interessen der BürgerInnen, und hier eine Brücke zu schlagen und Kompromisse zu finden ist notwendig, aber nicht immer sehr attraktiv.  
Diese Woche bin ich außergewöhnlich viel unterwegs: Berlin, Brüssel, Wien, Klagenfurt, Athen und schliesslich Krakau sind jene Städte, die ich innerhalb von sieben Tagen besucht habe bzw. noch besuchen werde.
Nach Athen bin ich gekommen, um einerseits gemeinsam mit KollegInnen Gespräche mit Vertretern der griechischen Regierung zu führen und um andererseits an Diskussionen teilzunehmen, die die Zukunft Europas betreffen und auch im griechischen Fernsehen übertragen werden.

Im Athener Freitagnachmittagsstau

Der Flug aus Wien hat sich etwas verspätet. Und in Athen hat es heftig geregnet, was entsprechende Auswirkungen auf den Freitag Nachmittags Verkehr hatte. Die Folge war, dass Enrique Baron und ich, nachdem wir gemeinsam angereist waren, zu spät zum Treffen mit Ministerpräsident Konstantinos Simitis kamen, dem wir gerade noch die Hand schütteln konnten. Zwei andere Kollegen, die bereits im Lande waren, hatten das Gespräch geführt und berichteten uns über ein großes Einvernehmen in den verschiedenen Anschauungen, gerade hinsichtlich des Konvents, der in Laeken beschlossen werden soll und der die Aufgabe hat, die Zukunft der Europäischen Union vorzubereiten.
Im Detail diskutierten wir diese Frage mit dem zuständigen Europaminister. Unter anderem standen dabei auch die gemeinsamen Fragen des Prozesses der Erweiterung und der Vertiefung der Europäischen Union durch den Konvent im Vordergrund. Uns ist nicht ganz klar, ob beide Entwicklungen auch wirklich rechtzeitig abgeschlossen werden können. Aus heutiger Sicht ist es sicherlich nicht leicht, konkrete Terminisierungen zu treffen. Und die jüngste Aussage des französischen Außenministers Vedrin, man solle auch gleich Bulgarien und Rumänien mitaufnehmen, erachten weder die Griechen noch ich persönlich für besonders hilfreich.

Noch nicht europareif

Gerade ich, der sowohl Bulgarien als auch Rumänien schätzt und intensive Kontakte pflegt, meine, dass diese Länder doch noch einige Zeit brauchen, um sich auf den Erweiterungsprozess entsprechend vorzubereiten. Wir würden zudem nicht sehr gerecht verfahren, würden wir Länder in die nächste Erweiterungsrunde aufnehmen, die die eigentliche Europareife noch nicht erreicht haben. Europareife heißt dabei nicht, dass in allem das Niveau der Europäischen Union erreicht werden muss. Aber gewisse Grundkriterien müssen doch erfüllt werden. Und gerade in Bezug auf umwelt- oder sozialpolitische Kriterien bedürfen Bulgarien und Rumänien doch noch vieler unterstützender Maßnahmen und Reformen, bevor sie Mitglieder der Europäischen Union werden können.

Türkisch-griechische Zypernverhandlungen

Ausserdem befürchte ich, dass hinter Aussagen wie jener von Vedrine eine Strategie stehen könnte, die – bewusst oder unbewusst – in die Richtung geht, alle Kandidatenländer mit Ausnahme der Türkei aufzunehmen und die Türkei in den Rang eines Kandidaten, mit dem verhandelt wird, zu positionieren, also de facto die Verhandlungen mit der Türkei aufzunehmen. Das gilt umso mehr, wenn die Türkei in Zypern entsprechende Maßnahmen setzt, um gerade auch den türkisch-zypriotoschen Teil entsprechend dazu zu bewegen, eine gemeinsame Lösung auf Zypern zu erzielen.
Gerade gestern wurde eine diesbezügliche geheime Sitzung des türkischen Parlaments anberaumt, aber wir wissen natürlich nicht, was bei diesem Treffen passiert ist. Das Ergebnis wird auch in absehbarer Zukunft nicht veröffentlicht werden. Aber ich kann mir durchaus vorstellen, dass es mit dem zypriotischen Präsidenten Klerides Anfang Dezember Weichenstellungen in diese Richtung geben wird. Ich finde es jedenfalls ganz ausgezeichnet, dass Klerides das Angebot von Denktasch für ein Treffen angenommen hat, nachdem Denktasch ja bisher die Treffen unter der Ägide der Vereinten Nationen abgelehnt hat. Dadurch signalisiert die griechisch-zypriotische Seite, dass sie sehr wohl ohne Vorbedingungen für den Dialog offen und an einer gemeinsamen Lösung mit der türkisch-zypriotischen Seite für den Beitritt interessiert ist.

Messlatte: Kopenhagener Kriterien

Dieses Treffen wird zwar nicht unmittelbar den Durchbruch bringen, aber es gibt durchaus positive Anzeichen. Trotzdem sollten wir in der Europäischen Union eine klare Haltung haben. Aufgenommen werden können nur jene Länder, die die Kriterien von Kopenhagen erfüllen. Und das können aus meiner Sicht derzeit nicht Bulgarien und Rumänien zu sein. Zu verhandeln haben wir nur mit jenen Ländern, die die politischen Kriterien – also die Frage der Rechtsstaatlichkeit, der Demokratie und des Minderheitenschutzes – erfüllen. Und auch das scheint mir bei der Türkei, trotz der Erfüllung mancher Punkte in den vergangenen Wochen,derzeit nicht gegeben zu sein.
Einer dieser bereits vollzogenen Schritte ist die Änderungen im zivilen Strafgesetzbuch hinsichtlich der Gleichstellung von Mann und Frau. Das ist sehr positiv zu werten und ich weiß, dass dieser Punkt für den Justizminister der Türkei, Sami Türk, eine prioritäre Angelegenheit war, weil wir schon vor längerer Zeit darüber gesprochen haben. In manchen Fragen allerdings wird er von der Politik und zum Teil auch vom Militär daran gehindert, die Dinge auch so umzusetzen, wie er sie als richtig ansieht.

Diskrepanzen

Nach diesen Gesprächen ging es zu einem Fernsehstudio, wo wir die verschiedenen Fragen der Europäischen Union diskutierten: Was ist die EU? Wie soll sie sich weiter entwickeln? Ein Thema dieser Diskussionsrunde war ausserdem die Landwirtschaft. Es war spannend zu sehen, dass es hier vor allem um die Frage des Tabakanbaus in Griechenland ging. Die Griechen haben im Parlament eine sehr kritische Einstellung zur Reform des Tabakanbaus. Eine Einschränkung zur Förderung des Tabakanbaus erscheint vielen Parlamentariern notwendig, weil keine optimale Qualität erzeugt wird und nur mit Subventionen und Unterstützung seitens der EU die Produktion überhaupt abgesetzt werden kann. Und zum Teil auch aus dem Widerspruch heraus, dass von der EU, insbesondere vom EU-Parlament, einerseits eine sehr starke Anti-Raucherpolitik betrieben wird, andererseits durch finanzielle Mittel der EU dazu beigetragen wird, den Tabakanbau in einem EU-Land zu unterstützen.
Während der letzten Budgetsitzung haben wir im Europaparlament einen entsprechenden Abänderungsantrag eingebracht und einen gleitenden Übergang zur Nichtförderung angeregt. Das ist auf herben Widerstand gestoßen. In Griechenland wurde protestiert, weil das EU-Parlament wieder einmal einen Vorstoß unternommen hat, und es war für den Landwirtschaftsminister nicht ganz einfach, einerseits ein gewisses Verständnis für die EU-Parlamentarier aufzubringen, aber dieses Anliegen im Interesse der Tabakanbauer zurückzuweisen.

Aus der Sicht des Bauern

Jener Bauer aus dem Nordosten Griechenlands, der an der TV-Diskussionsrunde teilgenommen hat, argumentierte, dass er auch bereit wäre, auf ein anderes Produkt umzusteigen. Allerdings wisse er kein anderes, und für die Böden, die er zur Verfügung habe, gäbe es auch kaum andere entsprechende Produktionen. Das zeigt einmal mehr, dass in den Ländern der Europäischen Union – in Zukunft auch in jenen, die beitreten werden – die Frage der Reform der Landwirtschaft und der Einschränkung der Subventionen eine wichtige und ganz entscheidende sein wird
Insgesamt wurde sehr deutlich, dass wir zwar auf der einen Seite über die Identität und die Zukunft Europas nachdenken, es auf der anderen Seite aber sehr konkrete Bedürfnisse der Menschen gibt – so wie hier in Griechenland die Frage eines Bauern, was er statt Tabak anbauen soll, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen. Es zeigt sich, dass sich diese beiden Faktoren nicht verknüpfen lassen, dass wir zu wenig vermitteln können, was die Europäische Union für das Leben des einzelnen Bürgers tun kann.
Meldungen über konkrete Aspekte, wo die Europäische Union nicht helfen kann, wo sie vielleicht sogar ohne gute Begründungen einzelnen BürgerInnen Schwierigkeiten macht zeigen uns im gesamten Ausmaß die Schwierigkeit, für dieses Europa effektiv zu werben. Für dieses Europa, und davon bin ich überzeugt, das es insgesamt einen großen Gewinn darstellt. Die Sicherung des Friedens, die Verhinderung von Kriegen und Konflikten, der Kampf gegen Entwicklungen, die uns die Globalisierung auf den Kopf fallen lässt – all das bedingt ein starkes, geeintes Europa. Aber wir dürfen die konkreten Interessen, nämlich einen Job und soziale Absicherung zu haben, nicht vergessen. Und es ist davon auszugehen, dass die Interessen aller BewohnerInnen dieses Kontinentes, aller BürgerInnen Europas, die gleichen sind.

Brücke schlagen

Nun, oft steht das Gemeininteresse in krassem Widerspruch zu den Interessen der BürgerInnen, und hier eine Brücke zu schlagen und Kompromisse zu finden ist notwendig, aber nicht immer sehr attraktiv. Die diesbezügliche Diskussion, die wir im griechischen Fernsehen immerhin unter Teilnahme von zwei Ministern – der Ministerin für Umwelt und Regionalpolitik und dem früheren, mir gut bekannten Verteidigungsminister und jetzigen Minister für die Entwicklung des Landes – geführt haben, war durchaus interessant. Die griechischen Repräsentanten haben stark pro-europäische Strukturen erkennen lassen, was in einem Land, das nach wie vor finanzielle Mittel aus dem gemeinsamen Topf erhält, auch nachvollziehbar ist.

Infrastrukturmaßnahmen dringend notwendig

Eine dringend notwendige Maßnahme, die Griechenland selbst unternehmen muss, wäre gerade auch in Anbetracht der Olympischen Spiele die Verbesserung der Infrastruktur. Und zwar dahingehend, dass man vom neuen Flughafen, der mit EU-Mitteln gefördert wurde, nicht nur unter größten Schwierigkeiten in die Stadt gelangt, weil es ein viel zu kurzes Stück Autobahn und anschliessend eine heillos überlastete Straße gibt, die es, wie eingangs geschildert, mitverursacht hat, dass wir nicht rechtzeitig zum Premierminister gekommen sind. Das wirklich Entscheidende ist aber, dass es für die Entwicklung der Region, der Stadt und der Umweltsituation auch eine öffentliche Verkehrsinfrastruktur gibt, wo derartige Verkehrsüberlastungen gar nicht mehr vorkommen, sondern die ganz große Ausnahmesituation darstellen.  
Athen, 24.11.2001