Die Schweden sind am Zug

Der schwedischen Präsidentschaft, die im kommenden Halbjahr den Vorsitz der EU innehat, ist zu wünschen, dass sie nicht nur auf europäischer Ebene erfolgreich ist, sondern auch im eigenen Land. 
Auf Einladung des Vorstandes der Sozialdemokratischen Fraktion sind wir nach Stockholm gekommen, um hier mit den führenden VertreterInnen der schwedischen Präsidentschaft einige Fragen zu diskutieren, vor allem jene, die die Präsidentschaft im kommenden halben Jahr behandeln soll. Natürlich sind wir auch hierher gekommen, um unsere Wünsche als sozialdemokratische RepräsentantInnen im Europäischen Parlament zu deponieren und um zu diskutieren, wie der sogenannte Post-Nizza-Prozess, bei dem die Schweden mit ihrer Präsidentschaft eine wichtige Rolle zu spielen haben, ablaufen soll.

Mehr Realitätssinn bei Erweiterung

In der Früh fand ein kurzes Gespräch mit der Aussenministerin Anna Lind, die ich bereits vor kurzem im Rahmen eines Besuches des aussenpolitischen Ausschusses in Stockholm und auch bei früheren Gelegenheiten in Strassburg getroffen habe. Danach trafen wir die mir schon sehr vertraute stellvertretende Ministerpräsidentin und frühere Aussenministerin Lena Hjelm-Wallen. In diesem Gespräch ging es vor allem um die Frage der Erweiterung. Nicht nur ich habe in diesem Zusammenhang gemeint, dass die Erweiterung zwar ein wichtiges Projekt sei, dass aber in Schweden manche Illusionen über die Schwierigkeit der Erweiterung der Europäischen Union bestehen.

Notwendige Übergangsfristen

Insbesondere der Wunsch, es sollten keine bzw. nur möglichst wenige Übergangsfristen vereinbart werden, wird sich nicht halten lassen – sowohl seitens der neu beitretenden Länder als auch seitens der bestehenden Mitgliedsländer der Europäischen Union, wenn ich etwa an die Freizügigkeit des Arbeitsmarktes denke. Für mich bleibt eine indirekte Proportionalität insofern gegeben, als man sagen muss, dass, je weniger Übergangsfristen vereinbart werden sollen, desto später der Beitritt erfolgen kann. Soll der Beitritt aber möglichst rasch erfolgen, dann kann das eben nur mit entsprechenden Übergangsfristen geschehen. Lena Hjelm-Wallen hat mir in dieser Einschätzung prinzipiell zugestimmt.
Mittags fand ein gemeinsames Arbeitsessen mit dem schwedischen Ministerpräsidenten Göran Persson statt. Dieser Politiker beeindruckt mich bei persönlichen Begegnungen immer wieder aufs Neue, weil er sehr klare Zielsetzungen verfolgt. In den vergangenen Jahren hat er sich von einem Euroskeptiker eher in Richtung eines überzeugten Europäers gewandelt und ist dabei Sozialdemokrat geblieben – wenngleich die Sozialdemokratie in Schweden eher eine ist, die im Wirtschaftsbereich sehr viel liberalisiert hat.

Budgetüberschuss

Göran Persson schilderte uns recht eindrucksvoll, dass es die Entwicklung in Schweden mit sich gebracht hat, dass derzeit ein beträchtlicher Überschuss im Budget besteht, d.h. das Nulldefizit ist längst in Richtung eine Überschusses überschritten. Er hat aber genauso klar zum Ausdruck gebracht, dass diese Entwicklung mit einer Verzerrung in der Einkommensverteilung verbunden war und dass es jetzt in erster Linie darum geht, die Einkommensverteilung wieder zu korrigieren und in ein ausbalancierteres Verhältnis zu Gunsten der unteren Einkommensschichten zurückzuführen.
Interessant war in diesem Zusammenhang, dass der Budgetüberschuss mit einer niedrigen Arbeitslosenrate verbunden ist, was eigentlich gegen die orthodoxe sozialdemokratische bzw. keynianische Auffassung verstösst, dass ein Budgetüberschuss mit einer eher niedrigen Arbeitslosenquote nicht vereinbar ist. Die schwedische Wirtschaftspolitik hat jedenfalls durchaus Erfolge zu verzeichnen, wenngleich, wie schon erwähnt, in der Einkommens- bzw. Verteilungspolitik ein Korrekturbedarf besteht.

Gewerkschaften einbeziehen

Göran Persson hat auch klar festgehalten, dass aus seiner Sicht die Vertreter der Gewerkschaften auf europäischer Ebene viel zu wenig in den Entscheidungsprozess eingebunden sind, was sicher Schuld der europäischen Politik, aber auch der europäischen Gewerkschaften selbst darstellt, die nur sehr ungenügend und peripher in Erscheinung treten. So sehr Gewerkschaften manchmal auch strukturkonservierend und bremsend agieren, so sehr ist es absolut notwendig, sie verstärkt in den gesamten Entscheidungsprozess einzubeziehen. Denn es ist völlig inakzeptabel, dass Unternehmensverbände und -vertreter durch sehr vehementes Lobbyieren auf europäische Entscheidungen Einfluss nehmen, dass das aber bei den Gewerkschaften in einem viel geringerem Ausmass der Fall ist.
In diesem Zusammenhang würde ich mir natürlich wünschen, dass die Gewerkschaften auch klare Reformperspektiven in die Debatte einbringen – allerdings Reformperspektiven, die die Arbeitnehmerinteressen und sozialen Rahmenbedingungen der Entwicklung in Europa unmissverständlich definieren bzw. vertreten und auch eine entsprechend progressive Rolle bei der Gestaltung des europäischen Binnenmarktes, bei der Gestaltung dessen, was ich unter „europäischem Kapitalismus“ verstehe, spielen.
Nach dem Arbeitsessen mit Göran Persson standen verschiedene Detailprobleme auf der Tagesordnung, die wir in Gesprächen mit den jeweiligen Staatssekretären erörterten. Diese vertreten einerseits Persson selbst bei den verschiedenen Debatten im Europäischen Parlament und sind andererseits für unterschiedliche Fachbereiche zuständig, von der Aussen- über die Sozial- bis zur Umweltpolitik. Insgesamt habe ich den Eindruck gewonnen, dass Schweden von sehr profilierten Persönlichkeiten vertreten wird, die ganz klare politische Zielsetzungen haben.

Euroskeptiker

Der schwedischen Präsidentschaft ist jedenfalls zu wünschen, dass sie nicht nur auf europäischer Ebene erfolgreich ist, sondern auch im eigenen Land – denn dort wird ja bekanntlich der Prophet immer am wenigsten gehört. Es ist nicht nur uns aufgefallen, sondern auch von den Schweden selbst als Tatsache bestätigt, dass in der schwedischen Bevölkerung gegenüber der Europäischen Union eine sehr grosse Skepsis herrscht. Es mag grotesk sein, ist aber eine Tatsache: Genau jene Bevölkerung, die der EU-Mitgliedschaft des eigenen Landes am skeptischsten gegenübersteht, steht der Aufnahme neuer EU-Mitglieder am positivsten gegenüber. Dieses Verhalten mag einfach aus einer gewissen Toleranz heraus entstehen. Im Hintergrund mag auch die Tatsache eine gewisse Rolle spielen, dass man sich in Schweden vielfach, je mehr Mitglieder die Europäische Union hat, eine aufgelockertere Form der EU erwartet. Wie auch immer: Ich kann diese Einstellung nicht im Einzelnen beurteilen, ich wünsche mir aber einerseits mehr Realitätssinn in der Frage der Erweiterung und andererseits mehr Engagement des EU-Mitglieds Schwedens für die europäische Sache. 
Stockholm, 19.12.2000