Die Türkei im Jahr 2008

Die Türkei soll sich nur als Partner der EU in ihrer bzw. unserer Nachbarschaft profilieren und unentbehrlich machen. Allerdings ersetzt dies nicht die notwendigen Reformen im Inneren.
Während in Wien die neuen/alten Koalitionsparteien ihre Vereinbarung verkündigten, machte ich mich auf den Weg nach Ankara.

Geringe Fortschritte

Ich sollte in der türkischen Hauptstadt eine Delegation des Außenpolitischen Ausschusses des Europäischen Parlaments leiten, die die neuesten Entwicklungen des Beitrittskandidaten Türkei erkunden und bewerten sollte. Dieser Delegation gehörten unter anderem der frühere französische Premierminister Michel Rocard, die Berichterstatterin für die Türkei, Oomen Ruiten sowie der Vorsitzende der Türkeidelegation, Jost Lagendijk an. Es war also eine hochrangige, für die Türkei wichtige Delegation nach Ankara gekommen.
Der erste Tag galt mehreren Treffen mit verschiedenen Mitgliedern des türkischen Parlaments sowie mit den hohen Vertretern der Beamtenschaft, insbesondere aus dem Außenministerium. Viele von ihnen kenne ich schon etliche Jahre und ich schätze sie ob ihres Engagements für Europa, aber auch für die Reformen in der Türkei. Nur mühsam konnten sie selbst ihre Enttäuschung über die geringen Fortschritte in der Türkei verbergen. In der Tat: Die verschiedenen innenpolitischen Quereleien haben den Reformprozess stark verlangsamt, und nur ein Teil der Versprechen gegenüber der EU, aber, was noch wichtiger ist, gegenüber der eigenen Bevölkerung wurde eingehalten.

Kein Datum in Sicht

Naturgemäß stand am Beginn jeder Diskussion die Enttäuschung über die mangelnde Bereitschaft der EU, mehrere Verhandlungskapitel zu „eröffnen.“ Ein Teil wird von Frankreich blockiert und mehrere von Zypern bzw. Griechenland. Hinzu kommt die Enttäuschung, dass die EU kein Zieldatum für den Beitritt der Türkei zur EU nennt. Und man fühlt sich Kroatien gegenüber benachteiligt, weil man zwar die Verhandlungen seitens der EU mit beiden Ländern gleichzeitig begonnen hat, aber nun Kroatien weit vorne liegt. Als Berichterstatter für Kroatien habe ich auf die großen Unterschiede zwischen Kroatien und der Türkei, die von Anfang an gegeben waren, hingewiesen – ganz hat das unsere Gesprächspartner jedoch nicht überzeugt.
Was nun das Zieldatum für einen Beitritt betrifft, so ist es unsinnig, dieses von der EU in einem so frühen Stadium zu verlangen. Man muss ehrlich sein: Bei Kroatien stand der Beitritt im Prinzip fest, offen war nur das Beitrittsdatum, bei der Türkei hingegen steht die Grundsatzentscheidung noch aus und nicht nur das Beitrittsdatum. In Wirklichkeit ist auf beiden Seiten mit viel Unsicherheit zu rechnen und ein komplizierter Reform- bzw. Entscheidungsprozess muss erst abgewartet werden.

Aktive Außenpolitik

Mit Recht hat die Türkei in der Zwischenzeit eine aktive Außenpolitik entwickelt – im Nahen Osten, insbesondere im Dialog mit Israel und Palästina, im Bereich des Kaukasus, etc. Zuletzt hat es auch einige mutige Schritte zur Verbesserung der Beziehungen zu Armenien gegeben und wir haben unsere Gesprächspartner zu weiteren Schritten ermutigt. Ich sehe in der Betonung und Aktivierung der türkischen Außenpolitik keinen Gegensatz zu den europäischen Bestrebungen der Türkei. Eine solche Außenpolitik liegt im Interesse der europäischen Sicherheit und Stabilität.
Die Türkei soll sich nur als Partner der EU in ihrer bzw. unserer Nachbarschaft profilieren und unentbehrlich machen. Allerdings ersetzt dies nicht die notwendigen Reformen im Inneren. Eine aktive stabilitätsorientierte Außenpolitik ist eine notwendige, aber keineswegs hinreichende Vorraussetzung für einen etwaigen Beitritt der Türkei zur EU.

Kurdenfrage muss gelöst werden

Natürlich haben wir in unseren Gesprächen immer wieder die notwendigen Reformen, wie den Kampf gegen die Korruption, die Justizreform, mehr Rechte für die Gewerkschaften, die Einführung eines Ombudsmanns, eine neue Verfassung, etc. eingemahnt. Nicht zuletzt haben wir auch weitere mutige Schritte zur Lösung der Kurdenfrage angesprochen. Darüber haben wir auch mit einigen VertreterInnenn der Kurden selbst gesprochen.
Leider findet noch immer kein wirklicher Dialog der Regierung mit den politisch aktiven KurdInnen statt. Auch wenn die Mehrheit der kurdischen Bevölkerung keine großen Ambitionen hegt, ohne eine aktive Unterstützung der wirtschaftlichen und sozialen Interessen und der kulturellen Identität (Sprache, Medien, Kunst etc.) wird es immer wieder zu Unruhen kommen.

Entscheidungen treffen, wenn sie reif sind

Wenn ich meine früheren Besuche mit dem heutigen Besuchstag und den Gesprächen vergleiche, so sind die Themen leider die gleichen geblieben. Allerdings kann man heute viel leichter und mit weniger Emotionen darüber sprechen. Aber es bleibt mein Eindruck, dass wir beide – Europa und die Türkei – noch viel Zeit und Überlegungen brauchen, um uns über unser genaues Verhältnis klar zu werden. Wir sollten aber heute nichts ausschließen. Denn eine Entscheidung können wir erst dann treffen, wenn die EU und noch mehr die Türkei anders aussehen.
Weder kann heute oder in absehbarer Zeit die EU ein derart großes Land wie die Türkei aufnehmen noch könnte die heutige Türkei in die EU aufgenommen werden. Aber wir müssen unsere Kooperation von Jahr zu Jahr enger gestalten und dazu dienen jedenfalls auch die Beitrittsverhandlungen. Und wir müssen dann Entscheidungen treffen, wenn sie reif sind.

Ankara, 25.11.2008