Die USA, Europa und Afghanistan

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New York

In verschiedenen Diskussionen und Gesprächen über das nun verbesserte Verhältnis zwischen den USA und Europa wird immer wieder im Zusammenhang mit dem militärischen Einsatz in Afghanistan warnend auf mögliche Turbulenzen für diese Beziehungen hingewiesen. Seien die „Europäer“ nämlich nicht bereit, dem amerikanischen Wunsch nach mehr Truppen in Afghanistan zu entsprechen, könnte dies das erst jüngst erwärmte Beziehungsklima wieder deutlich abkühlen.

Strategie in Frage gestellt

Dabei wird übersehen, dass über die Forderung nach mehr Truppen in den USA selbst eine heftige Debatte entflammt ist und zumindest zum jetzigen Zeitpunkt noch keine Entscheidung seitens Präsident Obama getroffen wurde. Aber unabhängig davon ist die gesamte Strategie, die der „Westen“ in Afghanistan und in Pakistan verfolgen soll, völlig in Frage gestellt.
Im Unterschied zum Einsatz im Irak liegen die Dinge hier auch viel schwieriger. Dieser Einsatz steht in direktem Zusammenhang mit dem Versuch, die Terrororganisation Al Qaida und deren führende Köpfe zu vernichten. In diesem Sinne ist er auch durch eine Entscheidung des UN-Sicherheitsrates gedeckt. Und das furchtbare Talibanregime hat nun ja wirklich keine Sympathie wecken können. Vor allem die erniedrigende Behandlung der Frauen und die Missachtung vieler Menschenrechte schlechthin hat viel Verständnis für ein militärisches Eingreifen geweckt. Und dennoch, unklar bleiben die konkreten Ziele des Einsatzes, aber auch, ob die vage definierten Ziele überhaupt erfüllt werden können.

Umfassender militärischer und ziviler Ansatzes fehlt

Im Rahmen einer Tagung, organisiert durch das Transatlantic Policy Network (TPN) und einen amerikanischen Think Tank, wurde ich gebeten, einige Kommentare zu einem Arbeitspapier zu Sicherheitsfragen zu geben, das sich schwerpunktmäßig mit Afghanistan beschäftigt. Nun habe ich mehr Erfahrung mit europäischer Sicherheitspolitik und insbesondere mit entsprechenden Einsätzen auf dem Balkan. Aber Afghanistan ist ein zu wichtiges Thema, als dass man sich als Sicherheits- und Außenpolitiker nicht damit beschäftigen könnte.
1) Was wir bisher noch nicht geschafft haben, weder die USA noch die EU, ist die Definition und Umsetzung eines umfassenden militärischen und zivilen Ansatzes für den Einsatz in Afghanistan. Natürlich gibt es bereits Schritte in dieser Richtung, so z.B. die Ausbildung der Polizei, Infrastrukturausbau etc. Aber sowohl in Afghanistan als auch in Pakistan konzentrieren sich die Einsätze und die Hilfen auf das Militärische. Wirtschaftliche und soziale Maßnahmen und Hilfen kommen zu kurz.

Ziele neu überdenken und diskutieren

2) Bevor daher weitere Truppen nach Afghanistan gesendet erden sollten, müssten die Ziele des Einsatzes und die Gesamtkonzeption neu überlegt und diskutiert werden: Geht es nur um die Verhinderung einer Machtübernahme durch die der Al Qaida nahe stehenden Talibans? Soll man mit den anderen Talibans versuchen, eine Machtteilung zu vereinbaren? Soll man dabei auch auf die menschen- und vor allem frauenrechtlichen Forderungen verzichten?
Ein Verzicht auf die weitergehenden Forderungen nach einer grundsätzlichen Umgestaltung der afghanischen Gesellschaft ist wahrscheinlich realistischer, entzieht aber dem Einsatz eine über die „Militärschädel“ hinausgehende Unterstützung in Teilen der amerikanischen und europäischen Bevölkerung.

Keyplayer Pakistan

3) Pakistan spielt in der Lösung der Afghanistan-Situation eine entscheidende Rolle. Aber wer gibt in Pakistan den Ton an? Welche Kräfte haben dort ein Interesse an einer friedlichen Lösung und welche wollen den Konflikt weiter schüren? Und wer sympathisiert mit den Talibans? Bezeichnend ist auch, dass die US-Hilfe an Pakistan überwiegend militärischer Natur ist und kaum der armen Bevölkerung zu Gute kommt. Und das hilft wieder den Taliban.

Was passiert nach einem Rückzug?

4) In vielen Debatten werden heute Parallelen zwischen Vietnam und Afghanistan gezogen. Allerdings stimmte damals keineswegs die Dominotheorie, dass mit der Aufgabe Südvietnams ein Staat nach dem anderen in dieser Region kommunistisch werden würde. Was passiert nach einem Rückzug der Truppen aus Afghanistan? Im Land selbst und in der Region? Niemand kann es mit Sicherheit sagen, aber eine Diskussion darüber ist unvermeidlich.

Viele ungelöste Fragen

5) Am Beispiel Afghanistan zeigen sich jedenfalls die nach wie vor ungelösten Fragen solcher militärischen Einsätze. Weder werden klare und realistische Ziele formuliert. Noch werden die regionalen Mächte genügend miteinbezogen, um auch eine regionale Stabilisierung zu erreichen. Auch die Abstimmung zwischen militärischen und zivilen Kräften und Einsätzen stimmt nicht und wird oft erst während der Einsätze und damit zu spät definiert. Es ist also noch viel zu lernen, um in späteren Fällen solche sicherheitspolitischen Einsätze besser zu gestalten. Allerdings geht dieser Lernprozess mit unheimlichen menschlichen Opfern einher, und das ist nicht zu akzeptieren.

Übergangsstrategie

6) Das Afghanistanproblem sollte keinen Störfaktor in die Beziehungen zwischen der Obama-Regierung und den Europäern einbringen. Aber die Europäer dürfen sich bei aller Liebe zum neuen Präsidenten nicht zu einer blinden Gefolgschaft für Obama hergeben. Und Obama sollte bedenken, dass er den Friedensnobelpreis als Vorschusslorbeer bekommen hat und dies nun auch rechtfertigen muss. Sicher wäre jetzt ein überstürzter Abzug der Truppen aus Afghanistan problematisch. Aber eine genauere Definition der Einsatzziele, verbunden mit einer Übergangs- und Exit-Strategie, wäre absolut notwendig. Und all das müssten die USA gemeinsam mit den Europäern leisten. Denn es handelt sich um unsere gemeinsame Sicherheit. Dazu gehört vor allem auch eine deutliche Schwächung von Al Qaida und, soweit möglich, eine Stärkung der moderaten Kräfte in der Region. Und das ist mit weiteren militärischen Kräften nur schwer zu leisten.
Zu einer solchen Übergangstrategie zählt vor allem auch eine schrittweise Umstrukturierung der Landwirtschaft weg vom Anbau von Pflanzen zur Herstellung von Rauschgiften hin zu alternativen Agrarprodukten. Nur dadurch kann den Al Qaida-Truppen die Finanzierungsbasis entzogen werden. Und zuletzt: Es müsste möglich sein, all jene islamischen Kräfte in der Region, ob sunnitischer oder schiitischer Richtung, zu einem gemeinsamen Vorgehen zu bewegen. Und wenn es dann noch Fortschritte in der Kashmirfrage zwischen Indien und Pakistan gebe, könnte ein wesentlicher Beitrag zur globalen Sicherheit geleistet werden. Angesichts der atomaren Bewaffnung in dieser Region wäre genau das dringend notwendig.

Wien, 11.10.2009