Die Vergangenheit als Basis der Zukunft

Die Sozialdemokratie sollte die widerständische und aufklärerische Funktion der Solidarität aufgreifen und sich einmal mehr als Bewegung verstehen, die für die sozialen Rechte und für Freiheit und Solidarität eintritt.
Am Ende unseres Projekts „Geschichte und Politik“ ging es zu einer Konferenz nach Danzig.

Geburtsstätte von Solidarnosc

Danzig ist eine Stadt mit einer sehr wechselhaften Geschichte. Sie war eine deutsche, eine polnische und eine unabhängige Freistadt. Und mehrmals erlangte sie historische Berühmtheit. Hier begann „offiziell“ der Zweite Weltkrieg, und hier wurde ein wesentlichlicher Grundstein für den Zusammenbruch des kommunistischen Sowjetimperiums gelegt. Also genug Anlässe, um eine Veranstaltung der Fraktion zum Thema „Geschichte und Politik“ durchzuführen.
Ich nahm einen früheren Flug, um noch ein wenig vom historischen Flair dieser Stadt einzuatmen. Ein Mitarbeiter meines Kollegen Jan Marinus Wiersma organisierte ein Treffen mit einem Universitätsprofessor aus Gdansk, der uns durch die Stadt führte. Zuerst ging es zur Gdansker Schiffswerft, von der aus Lech Walesa seinen Widerstand gegen das kommunistische Regime organisiert hat. Hier wurde Solidarnosc aus der Taufe gehoben. Ein Denkmal erinnert an die Getöteten aus dem Jahr 1970. Das war eine Forderung von Solidarnosc im Rahmen der Beratungen am Runden Tisch zehn Jahre nach diesen Ereignissen. Mehrere Gedenktafeln erinnern an die verschiedenen Opfer auch während des von Jaruselski verhängten Ausnahmezustands.

„Memory is a loaded gun“

Dann ging unsere Danzig-„Reise“ mehrere Jahrzehnte „zurück“ an den Beginn des Zweiten Weltkriegs. Er begann mit dem Beschuss der „Westerplatte“, die der Stadt Danzig vorgelagert ist. Besonders berühmt wurde der Widerstand von einigen Dutzend Polen im Postamt gegen die deutschen Truppen. Das Postamt wurde wieder aufgebaut und ein großes Denkmal unmittelbar davor errichtet.
Unterwegs von der Schiffswerft zum historisch gewordenen Postamt sah ich zwei bemerkenswerte Aufschriften. Eine lautete: „memory is a loaded gun“, also „Die Erinnerung ist ein geladenes Gewehr“, was das Motto unseres Projektes sein könnte. Und auf einem der wenigen erhalten gebliebenen Häuser waren noch deutsche Aufschriften zu lesen, was auf die deutsche Vergangenheit von Danzig hinwies.

Danziger Günter Grass

Günter Grass, der ja aus Danzig stammt – und zwar aus einer kaschubischen Familie – schrieb in seinem Roman „Die Blechtrommel“ darüber: „Zuerst kamen die Rugier, dann kamen die Goten und Gepiden, sodann die Kaschuben… Bald darauf schickten die Polen den Adalbert von Prag. Der kam mit dem Kreuz und wurde von Kaschuben oder Pruzzen mit der Axt erschlagen. Das geschah in einem Fischerdorf und das Dorf hieß Gyddanyzc. Aus Gydannyzc machte man Danczik, aus Danczik, das sich später Danzig schrieb, und heute heißt Danzig Gdansk.“
Das ist sicherlich nicht der einzige Ort, dem es so erging. Aber in Verbindung mit der äußerst tragischen Geschichte dieser Stadt ist sie doch ein besonderes Symbol für Europa und seinen schwierigen Weg zu einem friedlichen Kontinent mit offenen Grenzen und einer gemeinsamen Zukunft.

Vorwürfe der Rechten

Im Krieg wurde die Stadt fast völlig zerstört und nach dem Krieg in großen Teilen in altem Stil wieder aufgebaut. Dabei merkt man die geringen Mittel, die man damals hatte, an der Qualität vieler Bauten. Aber auch beim kommunistischen Aufbau einer „neuen Gesellschaft“ griff man auf vergangene städtebauliche und architektonische Strukturen und Formen zurück.
Der eigentliche Grund für unseren Aufenthalt in Danzig war aber ein Seminar über das Thema „Politik und Geschichte“. Vor allem die Rechte im Europäischen Parlament versucht immer wieder, geschichtliche Ereignisse und die Erinnerung daran gegen die Sozialdemokratie zu verwenden. Sie hätte den Kampf gegen den Kommunismus „versäumt“, wäre ihm gegenüber zu sanft aufgetreten und hätte dadurch historische Schuld auf sich geladen.

Aufklärerische Funktion der Solidarität aufgreifen

Nun, es ist richtig, dass der Kampf gegen den Faschismus und die Auseinandersetzung mit postfaschistischen Bewegungen im Mittelpunkt der gesellschaftspolitischen Debatten der Sozialdemokratie gestanden sind. Aber niemals hat sich die europäische Sozialdemokratie mit Diktaturen ins Bett gelegt oder war sogar direkt an ihnen beteiligt. Das lässt sich von verschiedenen Gruppierungen der Rechten – so auch in Österreich, wenn man an den Austrofaschismus denkt – nicht behaupten. Es besteht also durchaus kein Anlass zu zerknirschtem Verhalten, wenngleich die Bedeutung mancher Bewegungen wie etwa der polnischen Solidarität seitens der Sozialdemokratie und der westlichen Gewerkschaften erst spät erkannt wurde. Das sollte man auch zugeben. Es gibt Erklärungen dafür, aber keine Rechtfertigungen.
Einerseits bestand eine Skepsis gegenüber christlich-konservativen, nicht-sozialdemokratischen Gewerkschafstbewegungen und anderseits lag der Schlüssel für die Entspannungspolitik und insbesondere für die Lösung der deutschen Frage in Moskau, das man nicht verärgern wollte. Dennoch hätte man sich früher mit dem Widerstand in Polen identifizieren sollen. Heute allerdings hat die Rechte in Polen, insbesondere jene der Kaczynski-Brüder, führende Vertreter der Solidarität wie Lech Walesa verunglimpft. Sie sind wahrhaft keine Vertreter einer liberalen, aufgeklärten Gesellschaft und man kann mit Fug und Recht behaupten, dass sie die Solidarität und ihre Ziele fallen gelassen und zum Teil verraten haben. Aus diesem Grund sollte die Sozialdemokratie die widerständische und aufklärerische Funktion der Solidarität aufgreifen und sich einmal mehr als Bewegung verstehen, die für die sozialen Rechte und für Freiheit und Solidarität eintritt.

„Ein Europa ohne Utopien“

Am 1. September 1939 begann mit dem Beschuss der Westerplatte vor Danzig der Zweite Weltkrieg, und 1989 war auf Grund des Widerstands der Solidarität in Danzig und des daraufhin gegründeten Runden Tisches ein Wendejahr nicht nur für Polen, sondern läutete die grossen Veränderungen in ganz Osteuropa ein. Grund genug, um in Danzig im Jahre 2009 über die Vergangenheit als Basis der Zukunft zu diskutieren. In einem Artikel der Zeitung „Die Zeit“ zeigte sich einer der Mitbegründer der Solidarität, Adam Michnik, über manche Entwicklungen der letzten 20 Jahre enttäuscht.
„Nach 20 Jahren lohnt es sich, Europa als neues ganzes zu betrachten, ein Europa ohne Utopien. Es pflegt politische und kulturelle Pluralität. Gleichzeitig fehlt ihm ein starker Wertekanon. Die Stärken der Demokratie beruhten stets auf einer Tradition des Nationalstaates, der die Erklärung der Menschenrechte sowie das Prinzip der Toleranz respektierte. Wo es aber nicht mehr als diese Tradition gibt, sehen wir ein Europa des Berlusconismus, in dem nur Geld zählt -eine Koalition zwischen Geschäftswelt, Politik, Medien und Mafia. Zweifellos ist die kommunistische Gefahr verschwunden. Allerdings wächst in Europa ein Geist des Egoismus und des Nihilismus.“ Und angesichts der tristen Wirtschaftslage fügt er hinzu: „Solche Zeiten sind ein hervorragender Nährboden für populistische Demagogen und politische Raufbolde“

Mentalitäten bleiben länger als die Wirklichkeit

Einer der Diskutanten bei unserem Seminar stellte die Frage in den Raum: „Können wir lernen ohne Katastrophen?“ Manchmalhabe ich den Eindruck, dass wir nicht einmal aus all den Katastrophen des letzten Jahrhunderts gelernt haben. Das gilt sicherlich sowohl für den Ersten und Zweiten Weltkrieg als auch für die jeweilige Nachkriegszeit. Das gilt für die Diktaturen und totalitären Regimes, und es gilt auch für die Wirtschaftskrise.
Zwar hat die Europäische Integration ihre Wurzeln im Versagen all der europäischen Nationalstaaten – manche versagten dabei in einer dramatischen und katastrophalen Art. Aber gleichzeitig sehen wir, dass Mentalitäten länger bleiben als die Wirklichkeit, die sie produzierten. Mentalitäten können nicht wie ein Lichtschalter umgedreht werden, wie ein Konferenzteilnehmer meinte. Und dennoch ist es erstaunlich, dass sich die wahren Feinde über die Gräben hinweg die Hände reichen konnten, aber heute ihre Kinder oder ihre Enkel sich manchmal schwer damit tun, wie ein anderer Diskussionsteilnehmer es ausdrückte.

Den Populisten nicht nachgeben

Dennoch dürfen wir den Populisten und jenen, die das Rad der Geschichte wieder zurückdrehen wollen, nicht nachgeben. Es stimmt, nach dem Ersten und auch noch nach dem Zeiten Weltkrieg versuchte man, ethnisch „reine“ Nationalstaaten herzustellen, um zukünftige Kriege zu vermeiden. „Bevölkerungstausch“ und Vertreibung waren angesagt und von der Internationalen Gemeinschaft unterstützt.
Europa im Sinne der EU versucht das Gegenteil: Es geht um das friedliche Zusammenleben innerhalb der und zwischen den Mitgliedstaaten. Das setzt allerdings voraus, dass Europa als ein soziales und solidarisches Projekt wahrgenommen wird. Und dass es fähig ist mitzuhelfen, die gegenwärtige Wirtschaftskrise zu überwinden.

Danzig, 6.3.2009