Die Wunden heilen langsam

In einem Land wie Bosnien-Herzegowina dauern die Diskussionen über eine Neustrukturierung bzw. Neuverteilung von Machtverhältnissen länger. Mit ein bisschen Optimismus kann man die Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina trotzdem deutlich wahrnehmen.
Der zweite Tag in Sarajewo war durch viele Treffen mit gekennzeichnet. Ich führte Gespräche mit Handelsdelegierten aus den EU-Mitgliedsländern und aus den Kandidatenländern, mit dem Vertreter des Hohen Beauftragten und der Europäischen Kommission sowie mit dem Ministerpräsidenten von Bosnien-Herzegowina, Adnan Terzic.

Zweites Frühstück beim Botschafter

Am Morgen waren wir zu einem zweiten Frühstück beim österreichischen Botschafter eingeladen. Er legte uns die allgemeine politische Situation im Land dar und zeigte sich optimistisch, dass die derzeit geführten Verfassungs-Gespräche zu einem guten Ende kommen werden. Es werde zwar keine grundsätzliche neue Verfassung geben, die all den Ansprüchen eines modernen Staates entspricht. Die Verhandlungen mit den verschiedenen ethnischen Gruppen und politischen Parteien sollten aber doch einige Fortschritte bringen.
An dem Gespräch mit dem Botschafter nahm auch Josef Pöschl teil, den ich vom WIIW, dem Wiener Institut für Internationale Wirtschaftsvergleiche, gut kenne. Pöschl ist Experte für Ost-Ökonomien und wurde beauftragt, im Rahmen eines EU-Projektes ein Wirtschaftsforschungsinstitut in Sarajewo aufzubauen. Nicht zuletzt daran zeigt sich, dass die Beziehungen zwischen Österreich sowie österreichischen Institutionen und Bosnien sehr vielfältig und durchaus intensiv sind.

Österreichische Wirtschaftsimpulse

Im anschließenden Gespräch mit den Handelsdelegierten, das ebenfalls in der österreichischen Botschaft stattfand, habe ich versucht, die Position des Europäischen Parlaments in bosnischen Fragen darzustellen. Mittags nahmen wir an einem Essen mit VertreterInnen einer österreichischen Wirtschaftsdelegation teil, die auch Vertretern der Europäischen Bank für Wiederaufbau begleitet wurde. Diese Delegation war zuerst nach Belgrad gereist und besuchte jetzt Sarajewo.
Es besteht großes Interesse, dass vor allem auch österreichische Unternehmungen in Bosnien investieren, um der lokalen Wirtschaft entsprechende Impulse zu geben. Das ist ohne jeden Zweifel notwenig. Die offizielle Arbeitslosenrate beträgt in Bosnien-Herzegowina 45%. Man mutmaßt zwar, dass ca. die Hälfte davon auf dem Schwarzarbeitsmarktsmarkt tätig ist oder einer anderen Beschäftigung nachgeht. Aber dabei handelt es sich um äußerst prekäre Beschäftigungsverhältnisse ohne jegliche soziale Absicherung.

Bei den Internationalen Institutionen

Der Nachmittag war den Internationalen Institutionen in Sarajewo gewidmet. Die jeweiligen Leiter befanden sich zu diesem Zeitpunkt im Ausland bzw. in Brüssel. Das hat allerdings den Gesprächen keinen Abbruch getan. Ich habe einige wichtige und interessante Details erfahren.
Insgesamt habe ich einen positiven Eindruck über die Entwicklungen in diesem Land, insbesondere auf politischer Seite, gewonnen – wenngleich man sich in einigen Fragen offensichtlich noch gegenseitig blockiert. Für mich war jedenfalls die folgende Aussage entscheidend: Auch wenn es im Kosovo in Richtung Unabhängigkeit geht und es dazu käme, dass die rechtsextreme radikale Partei in Serbien an die Regierung kommt oder gar die Mehrheit erlangt, wird es zu keinem Auseinanderbrechen von Bosnien-Herzegowina kommen.

Bei Ministerpräsident Terzic

Diese Meinung vertrat auch der Ministerpräsident des Landes, Adnan Terzic. Wir besuchten ihn in seinen Amtsräumen, die im gemeinsamen Gebäude der Regierung und des Parlaments untergebracht sind. Er nahm sich für unser Treffen sehr viel Zeit und versuchte, ein optimistisches Bild zu zeichnen. Aus meiner Sicht ist es gut, dass es an der Spitze der Regierung jemanden gibt, der seinen Gesprächspartnern eine positive Ausstrahlung über die Zukunft seines Landes vermittelt.
Auch Terzic zeigte sich überzeugt, dass die Grundexistenz Bosnien-Herzegowinas zumindest in den inneren Strukturen nicht gefährdet ist. Es bedürfe zwar noch der Militärs, um die Sicherheit nach außen hin zu gewährleisten. Gegenüber Kroatien hätten sich die Probleme aber weitgehend aufgelöst und es würden keinerlei Gebietsansprüche gestellt. Bei Serbien war sich Terzic dessen nicht ganz so sicher.

Die Kriegsverbrecherfrage

Hier zeigte sich ein kleiner Widerspruch zwischen seinem Optimismus für die Zukunft des Landes und seiner Skepsis gegenüber Serbien. Das liegt aber zweifellos in der Geschichte des Landes begründet. Noch vor wenigen Jahren herrschte hier Krieg und die serbische Aggression war Realität. Das zu vergessen, ist nicht gerade einfach.
Wir sprachen vor allem auch über das Verhältnis zwischen der Europäischen Union und Bosnien-Herzegowina. Terzic wandte sich strikt dagegen, die bosnischen Autoritäten für die Nichtauslieferung von Karadcic zur Verantwortung zu ziehen. Sowohl für Mladic als auch Karadcic sei ganz eindeutig Serbien-Montenegro verantwortlich. Keiner der beiden befinde sich zudem in Bosnien. Man sollte daher auf keinen Fall argumentieren, dass es für Serbien wichtig sein, Mladic auszuliefern und für Bosnien-Herzegowina die Auslieferung von Karadcic eine zentrale Rolle spiele. Da Bosnien-Herzegowina keinen Zugriff auf Karadcic habe, könne es ihn auch gar nicht ausliefern.

Druck auf Bosnien könnte steigen

Ich betonte meinerseits, dass es in erster Linie um die volle Kooperation mit Den Haag geht. Nicht die Auslieferung als solches steht dabei im Mittelpunkt, sondern das Bemühen, alles zu tun, um eine Auslieferung zu erreichen. Diese Schwerpunktsetzung hat sich in den vergangenen Monaten etwas verschoben. Carla del Ponte möchte in kürzester Frist alle – zumindest alle prominenten – Kriegsverbrecher in Den Haag sehen. Vom psychologischen Aspekt ist das nachvollziehbar.
Nach der Auslieferung von Gotovina und einer eventuellen Auslieferung von Mladic könnte der Druck auf Bosnien-Herzegowina vor diesem Hintergrund sehr groß werden. Es gilt aber im Detail zu überprüfen, ob die Verantwortung und die Zugriffsmöglichkeiten der Autoritäten in Bosnien-Herzegowina, insbesondere in der Republika Srpska, gegeben sind oder ob diese letztendlich den serbischen Autoritäten zugerechnet werden müssen. Soweit ich informiert bin, hat vor allem Frankreich in der letzten Sitzung des Außenministerrates im Interesse Serbiens eine Aufteilung der Verantwortung auf Serbien einerseits und Bosnien-Herzegowina andererseits bewirkt. Es wird sich zeigen, wie diese Entwicklung in den nächsten Wochen voranschreitet.

Miteinander kommunizieren

In unserem Gespräch mit dem Ministerpräsidenten sprach ich die Einladung aus, uns im Europäischen Parlament und in der Fraktion zu besuchen. Ich teilte ihm mit, dass wir in jüngster Zeit bereits Präsident Tadic aus Serbien und Kroatiens Präsident Sanader bei uns empfangen haben. Daraufhin beschwerte sich Terzic, dass Präsident Tadic zwar mit uns kommuniziere, aber nicht mit ihm.
Ich werde diesem Vorwurf nachgehen. Denn Gespräche zwischen den Vertretern aller Länder, inklusive Serbiens und Bosnien-Herzegowinas, tragen wesentlich zur Entspannung der Situation bei. Diese Gespräche finden auf verschiedenen Ebenen statt, etwa auf der Ebene der Flüchtlingsminister. Auf diese Weise werden immer wieder Kontakte hergestellt und es kommt in etlichen Detailfragen zu einer produktiven Kooperation zwischen den einzelnen Ländern.

Schlüsselrolle des EU-Parlaments

Ich sprach die Einladung an Terzic, uns in Brüssel zu besuchen, vor allem auch deshalb aus, weil er gleich zu Beginn unseres Treffens angedeutet hatte, dass er seine Kontakte mit dem Europäischen Parlament intensivieren möchte.
Ihm dürfte, wie allen Regierungschefs und Außenministern der Kandidaten und potentiellen Kandidatenländer, bewusst geworden sein, dass das Europäische Parlament für die Stimmung in der Europäischen Union und insbesondere auch in der europäischen Bevölkerung für die kurz- und langfristigen Beitrittsbemühungen der Länder in der Nachbarschaft der EU eine zentrale Schlüsselrolle spielt. Kontakte mit dem Parlament sind keine vergeudete Zeit, sondern können in Vorbereitung eines zukünftigen Beitritts äußerst fruchtbringend eingesetzt werden.

Investitionen gefragt

Am Abend nahmen wir an einem Empfang für die VertreterInnen der österreichischen Wirtschaft in Bosnien-Herzegowina teil, bei dem auch die gestern aus Belgrad angereiste österreichische Wirtschaftsdelegation anwesend war. Die DelegationsteilnehmerInnen nutzten die Gelegenheit, um entsprechende neue Kontakte zu knüpfen und Investitionschancen auszuloten.
Der österreichische Handelsdelegierte Robert Luck, der meinen Besuch in Sarajewo organisiert hatte, bat mich, zur Begrüßung einige Worte zu sagen. Ich versuchte in meiner kurzen Ansprache, die UnternehmensvertreterInnen zu motivieren, in diesem Land zu investieren – mit dem Hinweis, dass ich selbst deutliche Fortschritte wahrgenommen habe. Natürlich könnten diese größer sein. Es ist aber nicht besonders verwunderlich, dass es nicht so ist. Das Land hat einen Bürgerkrieg durchgemacht und wurde nicht durch einen Außenfeind besiegt. Vielmehr sitzen die gegenseitigen Feinde in den Institutionen und können sich nicht auf einen Außenfeind einigen.

Tief sitzende Wunden

In einem Land wie Bosnien-Herzegowina dauern die Diskussionen über eine Neustrukturierung bzw. Neuverteilung von Machtverhältnissen zugegebenermaßen länger. Aber wenn ich bedenke, wie lange derartige Ereignisse in anderen, auch europäischen Ländern – nicht zuletzt in Österreich – nachgewirkt haben, dann wird klar, dass 10-15 Jahre nicht ausreichen können, die tiefen Wunden verheilen zu lassen.
Auch „Grbavica“ hat deutlich vor Augen geführt: Es gibt weder eindeutig Gute noch eindeutig Böse – auch wenn die Aggression klare Verursacher hat. Es sind oft tief sitzende, individuelle Schmerzen, die eigentlich nicht behandelt werden können. In der Phase der Überwindung des Krieges geht es darum, zu überleben, aufzubauen, Neues zu schaffen.

… und trotzdem!

Mit ein bisschen Optimismus kann man die Entwicklungen in Bosnien-Herzegowina trotzdem deutlich wahrnehmen. Es ist möglich und sinnvoll, hier wirtschaftliche Investitionen zu tätigen. Und genau solche Investitionen tragen nicht nur zur wirtschaftlichen, sondern auch zur politischen Stabilität bei.

Sarajewo, 2.3.2006