Die Zukunft des Balkans

Es ist nicht nur im Interesse Österreichs wichtig, dass es Frieden, Stabilität und eine generell positive Entwicklung am Balkan gibt, sondern für die Europäische Union insgesamt.
Die vergangenen Wochen waren durch verschiedene Aktivitäten im Zusammenhang mit der Entwicklung am Balkan oder, wie es in der formellen Europasprache heißt, am Westbalkan, gekennzeichnet.

10 Jahre Abkommen von Dayton

Einerseits hatte Ende Oktober anlässlich des vor 10 Jahren verabschiedeten Abkommens von Dayton, das den Frieden nach Bosnien gebracht hat, eine Veranstaltung in Genf stattgefunden. Wolfgang Petritsch, der ehemalige Hohe Repräsentant der Internationalen Gemeinschaft in Bosnien-Herzegowina, hatte mich eingeladen, daran teilzunehmen. So diskutierte ich mit anderen in einem Panel über die gesamte Situation am Balkan, aber auch über den Annäherungsprozess der Balkanländer in Richtung EU.
An der Veranstaltung nahm auch Paddy Ashdown, der gegenwärtige Hohe Repräsentant, teil. Er hatte uns vor wenigen Tagen im Europäischen Parlament besucht und eine kleine Gruppe von Abgeordneten zu einem Gespräch eingeladen. Paddy Ashdown wird Ende des Jahres Bosnien-Herzegowina verlassen, er ist der letzte Beauftragte der Internationalen Gemeinschaft.

Auf dem Weg zur Normalität

In Zukunft wird es einen Sonderbeauftragten für die Europäische Union geben. Man geht davon aus, dass es in der Folge – voraussichtlich Ende des kommenden Jahres – zu einer stabilen Situation gekommen sein wird, in der kein "Gouverneur" von Außen mehr notwendig ist. Man hofft auf einen starken EU-Botschafter, der kraft seines Amtes auf die Weiterentwicklung Einfluss nehmen kann.
In Bosnien-Herzegowina geht es in erster Linie darum, die zentralen Kräfte zu stärken. Nur so kann dem Land, das in zwei Einheiten geteilt ist – in die Republik Srpska und in eine moslemisch-kroatische Föderation – ein stärkerer Zusammenhang gegeben werden. Die vielfältigen Institutionen, Kantone, etc. müssten zudem vereinfacht werden. Eine ungeheure Summe des ohnehin schwachen Budgets dieses Landes wird von der Administration, der Entlohnung von Ministern und den sonstigen Verwaltungsstrukturen verschlungen.

Gleiches Recht für alle

Ebenso wichtig ist die Umsetzung der Prinzipien eines Staates, der Recht spricht und etwa Menschen- und Minderheitsrechte durchsetzt, anstatt nach ethnischen Gesichtspunkten zwischen Gut und Böse zu unterscheiden. Alle hier müssen gleichermaßen als Staatsbürger, als BürgerInnen von Bosnien-Herzegowina anerkannt werden. Und es müssen ihnen auch zusätzliche Möglichkeiten gegeben werden, ihre kulturellen Interessen und ihre kulturelle und sprachliche Identität auszuüben – allerdings nicht gegen eine andere ethnische Gruppe.
In der letzten Woche hat die EU-Kommission ihre umfangreichen Berichte und Vorschläge zur aktuellen Situation am Balkan vorgelegt, und wir haben auch im Parlament darüber diskutiert. Dieser Bericht enthält viele gute Elemente und soll die Richtlinie dafür sein, wie wir in den nächsten Jahren im Bereich der Erweiterung, insbesondere beim Balkan, weiter vorgehen.

Präsidentschaftsschwerpunkt

Der Balkan ist auch ein Schwerpunkt der EU-Präsidentschaft Österreichs, die mit 1. Jänner 2006 beginnt. Ich halte das für absolut richtig. Es ist nicht nur in unserem eigenen Interesse wichtig, dass es Frieden, Stabilität und eine generell positive Entwicklung am Balkan gibt, sondern für die Europäische Union insgesamt..
Wir sollten als Österreicher mit einer höheren Sensibilität, mit einer höheren Kenntnis der Region, mit guten Beziehungen zu allen Bevölkerungsgruppen in dieser Region positiv auftreten und auch unsere wirtschaftlichen und politischen Interessen manifestieren. So könnten wir eine Abwanderung aus der Region sowie Konflikte vermeiden, die wieder neue Flüchtlinge bringen würden. Und wir könnten vor allem die wirtschaftliche Entwicklung, die uns selbst sehr zu Gute kommt, fördern.

Partnerschaftliches Heranführen

Das heißt nicht, dass man die bestehenden Probleme von heute auf morgen lösen oder die weiteren Schritte zur Erweiterung unmittelbar vornehmen kann. Es heißt aber sehr wohl, dass wir eine spätere Mitgliedschaft schrittweise vorbereiten können – auf unserer Seite, aber auch auf Seite der potenziellen zukünftigen Mitglieder.
Parallel dazu sind wir gefordert, vor allem die Europäische Union als solches zu stärken, ihr eine Verfassung oder zumindest wesentliche Elemente einer Verfassung zu geben und die notwendigen finanziellen Voraussetzungen zu schaffen. Und wir müssen seitens der Europäischen Union Hilfestellungen bieten bzw. Angebote machen. Es gilt, eine Vision zu entwickeln, damit auch diese Länder einmal zur Europäischen Union gehören können. Hand in Hand müssen wir allerdings darauf drängen, dass die eigentliche Arbeit von den wirtschaftlichen und politischen Instanzen in den betroffenen Ländern des Balkans zu leisten ist.

Arbeitsgruppe Balkan

In diesem Zusammenhang haben wir im Europäischen Parlament bzw. im außenpolitischen Ausschuss eine Arbeitsgruppe Balkan gegründet. Diese Arbeitsgruppe Balkan bzw. Südost-Europa wird vom Vorsitzenden des außenpolitischen Ausschusses, Elmar Brok, geleitet, der mich gebeten hat, die Leitung der Gruppe im Falle seiner Verhinderung zu übernehmen.
Brok ist Mitglied der Europäischen Volkspartei und ist etwas skeptisch, was die Anfangsschritte betrifft. Prinzipiell verstehe ich mich aber sehr gut mit ihm und es freut mich, dass er mich gebeten hat, sein Stellvertreter zu sein.

Musterbeispiel Mazedonien

Am vergangenen Wochenende fand in Wien ein vom Renner-Institut organisiertes Seminar statt, an dem hochrangige Experten aus der Region, aber auch von der London School of Economics teilnahmen. Wir haben bei dieser Gelegenheit die verschiedenen Aspekte der Entwicklung der Region beleuchtet, auch die unterschiedlichen Aspekte der einzelnen Länder.
Ein Ergebnis war die Erkenntnis, dass die Entwicklung Mazedoniens einen sehr positiven Impuls nicht nur für das Land selbst, sondern auch für die gesamte Region darstellt. Mazedonien zeigt, wie man mit ethnischen Konflikten umgehen kann. Und es zeigt, wie man deutliche Schritte setzen kann, das Problem der Dezentralisierung in einer vernünftigen Form zu lösen, ohne den Gesamtstaat zu gefährden. Den einzelnen Gemeinden und Städten wird die Möglichkeit gegeben, ihre eigenen Probleme zu lösen.

Mehrheit oder Minderheit

Die Minderheiten, die etwa 10% bis 20% ausmachen, können sich in Mazedonien in jenen Regionen und Gemeinden, wo sie selbst die Mehrheit haben, entsprechend stark präsentieren. Allerdings müssen sie dabei jene Minderheiten in den betroffenen Gemeinden, die auf nationaler Ebene ja die große Mehrheit vertreten, entsprechend berücksichtigen.
Jeder ist in Mazedonien irgendwo Mehrheit oder Minderheit. Jede Volksgruppe hat Mehrheits- oder Minderheitspositionen und muss daher immer auch als Mehrheit die Minderheit berücksichtigen. Im Wechselspiel des Schaffens von Möglichkeiten, von Verantwortung und Verpflichtungen entsteht in dieser multiethnischen Welt einen Zusammenhalt.

Schlüssel Dezentralisierung

Beim Seminar in Wien war es ein Kosovoalbaner, der darauf hingewiesen hat, dass der Lösungsansatz Mazedoniens – der nur mit starker Unterstützung der EU zustande kam – mit einer sehr starken Dezentralisierung ohne Aufteilung des Landes in ethnische Einheiten besser funktioniert als jener in Bosnien-Herzegowina, wo zwei ethnische Gliedstaaten geschaffen wurden. Denn auch diese ethnischen Gliedstaaten verhindern nicht, dass es Minderheitssituationen gibt.
In der Republik Srpska wohnen Kroaten und Bosniaken, und in der kroatisch-serbischen Föderation wohnen bosnische Serben. Zusätzlich gibt es das Problem der Roma und anderer Minderheitsgruppen, die in allen diesen Ländern vertreten sind und die keiner ethnischen Gruppierung angehören. Auch sie dürfen auf keinen Fall unter den Tisch fallen, im Gegenteil: Es müssen entsprechende Aktivitäten gesetzt werden, um sie zu integrieren und ihre Rechte zu garantieren.

Großes Interesse

Am Abend des Seminars fand eine öffentliche Veranstaltung in englischer Sprache im Hochholzerhof der BAWAG statt. Interessant war, dass an einem Freitagabend der Saal vollbesetzt war, viele BesucherInnen mussten stehen. Besonders junge Menschen waren gekommen. Ein Beleg mehr für das große Interesse an der Zukunft des Balkans in Österreich.

Wien, 19.11.2005