Die Zukunft des Kosovo

Wir müssen beim Kosovo in erster Linie argumentieren, dass es in Richtung Unabhängigkeit geht. Alles andere würde nur eine Reihe von weiteren Konflikten beherbergen.
Soeben bin ich aus dem sommerlich warmen Sofia in das extrem kalte Brüssel zurückgekehrt. Die Europäische Sozialdemokratie unter dem Vorsitz von Poul Nyrup Rasmussen, dem früheren dänischen Premierminister, hatte in der Hauptstadt Bulgariens eine Balkankonferenz organisiert, an der ich als Vertreter unserer Fraktion im Europäischen Parlament teilgenommen habe.

Das who is who der süd-osteuropäischen Linken

Bei der Konferenz waren auch viele VertreterInnen aus der Region anwesend. Der bulgarische Ministerpräsident, der mit eingeladen hatte, gehörte ebenso dazu wie der Vorsitzende der rumänischen Sozialdemokratie, der ehemalige Außenminister Mircea Geoana, der Präsident Serbiens, der Ministerpräsident der Republika Srpska, der Präsident und der Parlamentspräsident aus Montenegro und der ehemalige Ministerpräsident Mazedoniens und jetzige Parteivorsitzende Ivica Racan. Aus Albanien waren der frühere Premierminister Meta und der jetzige Parteivorsitzende Edi Rama, der Bürgermeister von Tirana, gekommen. Und der Kosovo war durch Hashim Thaci vertreten, der Anführer der damaligen UCK, die die Veränderung im Kosovo herbeigeführt hat.
Es fehlte kaum jemand aus dem linken Lager, wenngleich man erwähnen muss, dass Thaci nicht dem linken Lager angehört. Wir haben im Kosovo keine Partner im eigentlichen Sinn. Im Laufe der Zeit hat sich aber eine Annäherung mit Thaci entwickelt, sodass er nun zu den jeweiligen Konferenzen eingeladen wird. Auch der Präsident der Sozialistischen Internationale, der ehemalige Außenminister Griechenlands Giorgos Papandreou, hatte bei der Konferenz vorbeigeschaut, genauso wie der Außenminister von Luxemburg, Jean Asselborn, der den Vorsitz im informellen Rat der sozialdemokratischen Außenminister Europas innehat.

Versprechen von Saloniki werden eingehalten

Wir diskutierten generell über die Entwicklungen im Annäherungsprozess und der zukünftigen Mitgliedschaft der Länder des Balkans. Es gab dabei klare Signale von Poul Nyrup Rasmussen und von mir namens der Fraktion, dass wir die Versprechungen der Europäischen Union von Thessaloniki weiter verfolgen werden.
Parallel dazu fanden verschiedene fachorientierte Diskussionsforen statt. Ich selbst war, gemeinsam mit Thaci und einigen anderen, zu einem Podium über den Kosovo eingeteilt. Der Kosovo ist ein besonders heikles Thema, vor allem angesichts der schwierigen Lage von Präsident Tadic aus Serbien nach dem Referendum von Montenegro. In meinem Diskussionsbeitrag zum Thema Kosovo habe ich fünf Punkt angeschnitten.

Keine regionalen Implikationen

1. Es wird immer wieder darüber diskutiert, dass eine Lösung der Kosovofrage regionale Implikationen hat, vor allem dann, wenn sie in Richtung Unabhängigkeit geht. Meine bisherigen Gespräche in Serbien, aber auch in Bosnien-Herzegowina, haben aber ziemlich eindeutig ergeben, dass Bosnien-Herzegowina heute soweit stabilisiert ist, dass es keine effektiven Kräfte gibt, die die Einheit des Landes zerstören könnten. Es mag zweifellos Kräfte geben, die die Situation, dass ein weiteres Land unabhängig wird, ausnützen. Aber das wird sich in Grenzen halten.
Innerhalb Serbiens mag es beispielsweise in der Vojvodina so manche ungarische Nationalisten geben, die jetzt munter werden. Aber es hängt sehr stark davon ab, ob Serbien begreift, dass es im Land selbst eine multiethnische Struktur herstellen muss, um dem Land eine entsprechende Zukunft zu ermöglichen.

Internationale Konsequenzen

2. Ich bin gerade von einer Reise in den Südkaukasus zurückgekommen. Wir haben dort unter anderem über Kaukasien und Südosetien, die beiden „abtrünnigen“ Provinzen Georgiens, gesprochen. Ebenso wie über das nahe Transnistrien, das sich von Moldawien abgekapselt hat. Und über Nagorno Karabach, den Streitpunkt zwischen Armenien und Aserbaidschan.
All diese Abtrennungen wurden von Russland unterstützt. Und in all diesen Fällen kann Russland ins Treffen führen, dass eine Unabhängigkeit des Kosovo auch Unterstützung und Rückhalt für die Unabhängigkeit der eigenen Gebiete gibt. Bei Tschetschenien ist die Sache zwar anders gelagert. Hier stellt sich Russland absolut und sehr gewaltsam gegen eine Loslösung. Russland wird aber jedenfalls aus meiner Sicht seine Ziele mit und ohne eine Unabhängigkeit des Kosovo verfolgen.

In Richtung Unabhängigkeit

Es ist generell eine völlig unentschiedene und nicht zu definierende bzw. nicht zu entscheidende Frage, ob dem Prinzip der Selbstbestimmung eines Bevölkerungsteiles der Vorrang gegeben wird oder dem ebenfalls international anerkannten Prinzip der Integrität der Grenzen eines Landes, also der territorialen Integrität. Nicht nur nützen einzelne Großmächte und einige ethnische Gruppen das jeweils für sich selbst aus und definieren jeweils für sich, wann welches Prinzip zum Zuge kommt. Es ist auch objektiv gesehen aufgrund internationaler Rechtsüberlegungen kaum möglich, klare Entscheidungen zu treffen.
Hinsichtlich der praktischen Entwicklung gehe ich aber davon aus, dass eine starke Tendenz besteht, dem Kosovo Unabhängigkeit zu gewähren. Der Ausgangspunkt unserer Überlegungen muss demnach sein, dass die regionalen und internationalen Konsequenzen, Reaktionen und Implikationen nicht gegen die Unabhängigkeit als solches ins Treffen geführt werden können.

Die Minderheitenfrage

3. Soll man den Kosovo in einen serbischen und einen albanischen Teil teilen? Eine solche Teilung würde die Probleme nicht lösen. Die Bevölkerung lebt ja nicht derart klar getrennt. Das mag vielleicht dem Norden Mitrovicas etwas helfen, aber sicher nicht dem Land insgesamt. Die Frage der verschiedenen Minderheiten, insbesondere der serbischen, und die Frage der kulturellen historischen Elemente, beispielsweise der Klöster und anderer Gebäude, die die Präsenz und die starke kulturelle Verankerung Serbiens im Kosovo bewirken, spielt ebenfalls eine zentrale Rolle.
Wenn man über Minderheiten spricht, dann geht es nicht nur um die serbische Minderheit – auch wenn sie zugegebenermaßen ein besonderes Gewicht hat – aus der Sicht der Serben nicht nur ein quantitatives, sondern auch ein qualitatives. Es gibt eine ganze Reihe von Minderheiten, vor allem aus der Roma-Familie, seien es die Roma selbst, die Ägypter, die Aschkali oder andere, auf die ebenfalls entsprechende Rücksicht genommen werden muss.

Enges Zeitkorsett

4. Wir müssen davon ausgehen, dass es ein enges Zeitkorsett gibt. Martti Athisaari möchte mit Ende des Jahres seine Aufgabe zurücklegen und bis dahin zu einem Abschluss kommen. Es gibt zudem Druck der Kosovo-Albaner und der Amerikaner. Das macht die Suche nach einer Lösung nicht unbedingt einfacher. Und es gibt vor allem für die Serben wenige Möglichkeiten, sich an diesen Prozess anzupassen. Es ist aber auch nicht davon auszugehen, dass in drei oder vier Jahren eine wesentlich bessere Lösung gefunden werden kann. Vielleicht ist das in zehn Jahren möglich, wenn sowohl Serbien als auch der Kosovo gleichzeitig in die Europäische Union aufgenommen werden.
Man muss allerdings erwähnen, dass die wirtschaftliche und soziale Entwicklung im Kosovo selbst, aber wahrscheinlich in der gesamten Region, äußerst prekär ist, solange der Status des Kosovo nicht geklärt ist. Die bestehende Unsicherheit, die fehlenden Institutionen, die Parallelität von lokaler Verwaltung einerseits und der UNO-Verwaltung andererseits sind auf lange Sicht nicht durchzuhalten. Das enge Zeitkorsett, das auf den ersten Blick negativ erscheint, kann also durchaus auch Vorteile haben.

Die Lösung

5. Wie kann nun eine Lösung im Kosovo aussehen? Ich bin in meinem Diskussionsbeitrag auf der Balkankonferenz in Sofia gar nicht im Detail auf die einzelnen Punkte, die unabhängig von der Statusfrage zu erfüllen sind, eingegangen – etwa die Dezentralisierung und vor allem auch die Möglichkeit für den serbischen Bevölkerungsteil, in seinem eigenen Bereich, also etwa der Gemeindeverwaltung, entsprechend politisch agieren zu können. Genauso müsste man der albanischen Bevölkerung zeigen, was es bedeutet, eine Minderheit zu sein und dass man mit einer Minderheit sorgfältig umgehen muss.
Aus meiner Sicht ist es in erster Linie wichtig zu argumentieren, dass es in Richtung Unabhängigkeit geht. Alles andere würde nur eine Reihe von weiteren Konflikten beherbergen. Ein serbischer Gesprächspartner gab im Anschluss an die Diskussion zu, dass jede Form, in der der Kosovo in Serbien eingebunden ist, Konfliktstoff in sich birgt, weil dies die Albaner nicht akzeptieren würden. In dieser Frage sind die Würfel gefallen.

Drei Partner

Entscheidend ist aber, dass es drei Vertragspartner gibt: Serbien, die kosovo-albanische Mehrheit und die Internationale Gemeinschaft, in erster Linie die Europäische Union. Diese drei Partner müssen sich über eine rechtliche Regelung des künftigen Status einig sein. Und sie müssen sich im Klaren darüber sein, dass jeder von ihnen auch nach Festlegung des Status, also der Unabhängigkeit des Kosovo, eine ganz zentrale Rolle bei der Implementierung und der Durchsetzung der Regeln, die mit dieser Unabhängigkeit verbunden sind, spielen werden. Es geht dabei um den Schutz der Minderheiten, den Schutz der historischen Stätten, die konkrete Ausgestaltung der Beziehungen zwischen Serbien und dem Kosovo und die Einbindung in einen europäischen Rahmen.
Ich habe schon in früheren Debatten darauf hingewiesen, wie wichtig es ist, auf andere Beispiele einzugehen und Lehren zu ziehen. In Südtirol hat Österreich darum gekämpft, eine Schutz“macht“ für die Südtiroler Bevölkerung zu sein und mit den Italienern über die Autonomiefrage zu verhandeln. Dadurch wurde klargestellt, dass es sich nicht um eine rein interne Angelegenheit handelt, sondern um eine internationale Frage, die auch entsprechend behandelt worden ist.

Keine interne Angelegenheit

Auch die Kosovo-Albaner müssen zugestehen, dass eine solche Vorgangsweise wichtig und richtig ist. Sie müssen gemeinsam mit den Serben und der Internationalen Gemeinschaft, vor allem mit der Europäischen Union, den Prozess der Umsetzung nach der Unabhängigkeit beobachten und eine noch genau zu definierende Rolle einnehmen. Das geht umso leichter, als die EU den Rahmen für die Lösung der im Umsetzungsprozess entstehenden Konflikte bilden kann.
Es werden dies keine Konflikte sein, die die gesamte Region destabilisieren können, sondern Konflikte, die am Verhandlungstisch auszutragen sind. Denjenigen, die unwillig sind, sich in ihr Gegenüber hineinzuversetzen und einen Kompromiss einzugehen, kann die EU ein Aussetzen der Annäherung an die Union und einer zukünftigen Mitgliedschaft signalisieren.

Besondere Voraussetzungen

In Sofia entspannte sich im Anschluss an unsere Podiumsdiskussion eine kurze Debatte. Ich habe auf die beiden Beiträge von Hashim Thaci und Oliver Dulic, den ich aus Serbien kenn, zwei Anmerkungen gemacht. Thaci hatte in seinem Statement von der vollen Unabhängigkeit und Souveränität des Kosovo, aber auch von der Interpendenz in der Region gesprochen.
Ich gab in diesem Zusammenhang zu bedenken, dass der Begriff der vollen Souveränität eine Definitionsfrage ist und dass zwischen dem Kosovo und Serbien eine ganz besondere Beziehung besteht, die man nicht so einfach durchtrennen und von heute auf morgen als ungültig erklären kann. Zudem besteht eine besondere Beziehung zur Europäischen Union. Diese Ausgangslage bedingt, dass es sich um einen längeren Prozess handeln wird, der nicht von selbst passiert.

Interessen Serbiens wahren

Das wird im Kosovo noch viel stärker zum Tragen kommen als bei Montenegro, wo ja erst vor kurzem ein Referendum stattgefunden hat. Montenegro war einer der ältesten unabhängigen Staaten, die später in einen Staatenbund – zunächst in das alte Jugoslawien und später in Serbien-Montenegro – eingebunden worden sind. Ob es klug war, die Unabhängigkeit mit aller Macht anzustreben, sei dahingestellt.
Trotzdem besteht ein Unterschied gegenüber dem Kosovo. Die Europäische Union, die mitgeholfen hat, dass Serbien vom Kosovo losgelassen hat, muss jedenfalls als Vertreterin der Internationalen Gemeinschaft auch dafür Sorge tragen, dass die berechtigten Interessen Serbiens auch weiterhin vertreten sind.

Rückkehrmöglichkeit

Oliver Dulic wiederum meinte in seinem Beitrag, dass jede aufgezwungene Lösung, die nicht auf dem Verhandlungsweg erreicht wird, eine Nichtrückkehr vieler Serben, ja sogar einen Massenexodus der Serben aus dem Kosovo, bedeuten würde. Er stellte diese Bemerkung als eine Art Drohung in den Raum. Aus meiner Sicht hat es allerdings jeder der einzelnen Partner in der Hand, die Dinge so zu arrangieren, dass es zu gar keiner Verhandlungslösung kommen kann.
Der Sinn muss aber doch letztendlich sein, dass jeder Kosovo-Albaner, jeder Serbe, jeder Roma, etc. die Möglichkeit erhält, nach Hause zurück zu kehren und dort in Sicherheit und mit Anstand und Respekt leben zu können. Aus diesem Grund sollten die Beteiligten nicht die nationalen Ziele an oberste Stelle stellen, sondern die Lebensbedingungen jener Menschen, die im Kosovo ihre Heimat haben – und das sind sowohl Albaner als auch Serben.

Eine Definitionsfrage

Schon am Tag zuvor und auch bei dieser Diskussion gab es immer wieder den Hinweis, dass es keine Verlierer geben sollte, sondern nur Gewinner. Auch das ist eine Definitionsfrage. Definiert man Gewinn als das Erreichen von nationalen Zielen und Verlust als eine Änderung in der territorialen Zusammensetzung eines Landes, dann wird es immer Verlierer geben. Und dann ist in diesem Fall Serbien der Verlierer.
Definiert man aber Gewinn damit, dass die Serben in ihre Heimat zurückkehren und dort in Frieden leben können, dass die historischen kulturellen Stätten der Serben jederzeit frei zugänglich und geschützt sind, und dass das auch für alle Minderheiten gilt und damit ein neues Kapitel in den Beziehungen Serbiens zum Kosovo und den Kosovo-Albanern aufgeschlagen werden kann und letztendlich beiden der Weg in die Europäische Union offen steht, dann handelt es sich tatsächlich um einen Gewinn. Nur durch einen solchen Gewinn kann sich Serbien auf seine inneren Reformen konzentrieren und sich von der Last befreien, dass es aufgrund der Aktivitäten von Milosevic fast unmöglich geworden war, in einem gemeinsamen Staat zu leben. Insofern kann es eine Win-win-Situation geben, die allerdings nicht möglich ist, wenn man lediglich das enge nationale Ziel vor Augen hat.

Die Weichen sind gestellt

Das gleiche gilt für die Albaner im Kosovo. Auch sie müssen den Gewinn darin sehen, dass sie eine Unabhängigkeit bekommen, die an ganz bestimmte Bedingungen geknüpft ist und dass diese Unabhängigkeit und deren Umsetzung ganz genau beobachtet werden. Sie müssen akzeptieren, dass andere Einfluss darauf haben, dass sie ihre Aufgaben ernst und wahrnehmen.
Vor diesem Hintergrund habe ich persönlich keinen negativen Schluss gezogen. Wenn die Internationale Gemeinschaft bereit ist, mit Geist und gutem Willen an die Sache heranzugehen und wenn man den bestehenden Zeitdruck nützt, um zu einer guten Lösung zu kommen, könnten die Weichen gestellt sein.

Brüssel, 30.5.2006