Draussen vor der Tür

In jenem Europa, das nicht von den nächsten Erweiterungsschritten gekennzeichnet ist, sind nach wie vor keine voll ausgebildeten Demokratien vorzufinden und es herrscht da und dort noch hohe Instabilität. 
Der Parteitag der Europäischen Sozialdemokraten in Berlin war durch die Anwesenheit einer Vielzahl an Parteienvertretern aus Süd-Ost-Europa gekennzeichnet.

Im Wartezimmer der EU

Anlass genug für die Friedrich Ebert Stiftung, mit den Vertretern dieser Parteien eine eigene Veranstaltung zu organisieren, um den europäischen Einigungsprozess und die Suche nach Europa auch mit denjenigen Ländern zu diskutieren, die noch nicht Kandidaten sind bzw. sicher nicht in der ersten Runde der Erweiterung drankommen werden, sowie mit der Ukraine und Weißrussland, die derzeit nicht einmal den Kandidatenstatus haben.
An einem Vormittag habe ich die Diskussion geleitet. Es war dabei durchaus spannend mitzuverfolgen, wie sich einerseits jene Debatten abzeichneten, die wir schon seit langem kennen, wie aber andererseits immer wieder neue Argumente und Auseinandersetzungen hinzu kommen.
Interessant war in diesem Zusammenhang, dass sich insbesondere die Vertreter sozialdemokratischer Parteien aus der Ukraine und aus Weißrussland heute in einer Lage befinden, die jener der Sozialdemokraten Serbiens vor einiger Zeit und noch früher jener der Sozialdemokraten in Kroatien, nicht unähnlich war.

Instabile Demokratien

Es kristallisiert sich immer wieder heraus, dass in jenem Europa, das nicht von den nächsten Erweiterungsschritten gekennzeichnet ist, nach wie vor keine voll ausgebildeten Demokratien vorzufinden sind und da und dort noch hohe Instabilität herrscht. Das ist in Weißrussland der Fall, aber auch in der Ukraine oder in Moldawien. Auch in Rumänien und Bulgarien bleibt noch viel zu tun. Und natürlich herrscht auch am Balkan mit den neu aufgeflammten Auseinandersetzungen in Mazedonien, der offenen Front im Kosovo und den aktuellen Auseinandersetzungen in Bosnien anlässlich des Versuches in Banjaluka als der serbischen „Zentrale“, eine im Krieg zerstörte Moschee wieder zu errichten, eine krisenhafte Situation.

Der Zeitfaktor

Bei allen Fortschritten in der Europäischen Union gibt es also gerade in den östlichen Ländern sehr starke Unsicherheitsfaktoren. Und damit komme ich gleich zum ersten Punkt, der bei eingangs erwähnten Seminar diskutiert wurde: der Zeitfaktor. Europa ist gewohnt, die Dinge im Osten des Kontinents so rasch entwickelt zu sehen, wie sie im Westen gelaufen sind. Eine diesbezügliche Diskussion gab es am 51. Jahrestag der Erklärung von Robert Schumann, mit der der Europäische Einigungsprozess eigentlich begonnen hat. In diesen 51 Jahre sind dennoch viele Fragen offen geblieben und es gibt nach wie vor viele Probleme.
Seit dem Fall des Eisernen Vorhanges sind 12 Jahre vergangen. Das ist ein viel kürzerer Zeitraum, und man durfte sich keine Wunder erwarten.

Stoplerstein ethnische Frage

Ich verstehe die Ungeduld vieler, und klare Antworten würden vielen Ländern bei der Weiterentwicklung helfen. Aber diese Antworten können heute nicht gegeben werden. Man müsste deshalb Alternativen aus dem Neuen entwickeln, aber das alleine ist schon sehr schwierig. Ein immer wieder auftauchender Stolperstein ist etwa die ethnische Frage. Sind ethnische Auseinandersetzungen vorprogrammiert? Und inwieweit könnten sie durch eine bessere wirtschaftliche und soziale Entwicklung zum Verschwinden gebracht werden?
Die aktuellen Entwicklungen zeigen, dass die ethnische Frage bei Arbeitslosigkeit, bei schlechten wirtschaftlichen Perspektiven und sozialen Problemen stärker und offensichtlicher in den Vordergrund tritt. Das Beispiel Baskenland zeigt aber auch, dass die ethnische Frage als solches nie ganz verschwindet. Und es zeigt, dass es ungeheuer schwierig ist, sie so in einen europäischen Einigungsprozess einzubetten, dass sie irrelevant wird. Manchmal gelingt es, zum Beispiel in Südtirol, und manchmal ist es unmöglich – das zeigt das Baskenland.
Es wäre jedenfalls ein fataler Fehler, die ethnische Frage zu leugnen und sie nur auf wirtschaftliche und soziale Probleme zurückzuführen. Einen vernünftigen, rationalen Prozess zu entwickeln, mit eindeutiger Haltung gegen den Extremismus und Terrorismus, aber mit Verständnis für sinnvolle Belange von ethnischen Gruppen – vor allem dann, wenn sie sich in einer Minderheitsposition befinden -, ist sicher eine der entscheidenden Herausforderungen im Europa von heute.

Mehr regionale Kooperation

Andiskutiert wurde beim Friedrich-Ebert-Seminar ausserdem die Frage der regionalen Kooperation, insbesondere Süd-Ost-Europas. Wie kann die Idee des Einigungsprozesses in Europa auch heute transportiert und transferiert werden? Die geniale Erfindung von Schumann war ja, durch das Zusammenlegen von Kohle und Stahl hinsichtlich Produktion und Distribution auf den Märkten zu einer gemeinsamen Struktur mit einer gemeinsamen Behörde zu gelangen.
Ein solches Vorhaben kann nicht einfach auf diese Region übertragen werden. Immer wieder kommt man aber zu dem Schluss, so auch kürzlich in einer kritischen Studie zum Stabilitätspakt, die regionale Zusammenarbeit als das Bindende bzw. Vereinigende in der Entwicklung Süd-Ost-Europas zu sehen. Selbst bei einem Rückgang der Schwerindustrie ist die Energie im Wirtschafts-, aber auch im Konsumbereich, nach wie vor ein sehr entscheidender Faktor. Und hier eine gemeinsame südosteuropäische Energiepolitik zu betreiben sowie eine gemeinsame Produktionsstruktur und ebensolches Verteilernetz zu entwickeln wäre sicherlich ein entscheidender Beitrag zur regionalen Stabilität.

Gemeinsame Migrations- und Visapolitik

Ein zweiter, ebenfalls bindender und zugleich perspektivischer Faktor könnte die Frage der gesamten Migrations- und Visapolitik sein. Schritte Einzelner zur Aufhebung der Visaverpflichtungen auf Grund von Vereinbarungen mit der Europäischen Union könnten dazu führen, dass Andere plötzlich in Visaverpflichtungen eingebunden werden. Das ist ja nicht der Sinn, dass sich Einzelne Visafreiheit holen und damit die Verbindungen zu ihren Nachbarn, die noch keine Visafreiheit haben, gestört und erschwert werden.
Es kann auch der Kampf gegen die Korruption ein wesentlicher gemeinsamer Faktor sein. Dabei bedarf es vernünftiger Grenzkontrollen, die, auch wenn das nicht so leicht zu bewerkstelligen ist, für die Gutwilligen durchlässig und für die Böswilligen nicht durchlässig sind. Wir träumen von einem Europa ohne Grenzen. Aber gerade in diesen ernsten Zeiten wird es Grenzen geben müssen, um gemeinsame Grenzkontrollen aufzubauen, um nicht zuletzt Zölle einzuheben.

Die Problemkinder unter der Lupe

Am Rande dieser Tagung, aber auch schon während des Parteikongresses, gab es verschiedene Möglichkeiten, ganz konkret über einzelne Länder zu sprechen.
In Mazedonien gibt es noch keine Ruhe, die UCK ist weiterhin aktiv. Die Regierung wollte den Kriegszustand ausrufen, was aber dank der Europäischen Union verhindert werden konnte – es hätte die Situation nur noch weiter verschlimmert. Man hat sich mittlerweile grundsätzlich auf eine gemeinsame Regierung mit allen größeren mazedonischen und albanischen Parteien geeinigt. Allerdings steht diese Regierung noch nicht, weil vor allem die Sozialdemokratische Union, aber auch albanische Parteien sich noch immer nicht ganz sicher sind, ob sie in die gemeinsame Regierung eintreten sollen.
In Montenegro wurde durch das Ergebnis der Wahl ein bisschen Zeit gewonnen. Ich hatte ein langes Gespräch mit dem Vorsitzenden der Sozialdemokraten, Bursan, ein sehr sympathischer Mensch. Aus seiner Sicht ist beim Schritt in die Unabhängigkeit nicht auf Zeit zu pochen und auf Geschwindigkeit zu drängen, sondern die gesamte Entwicklung in einem überlegten Dialog voranzutreiben.

Das Kosovo-Problem

In Serbien herrscht derzeit Ruhe, allerdings spitzt sich die Situation zwischen Djindjic und Kostunica in manchen Fragen immer mehr zu. Soweit ich den Überblick habe, ist auch in der Frage der Dezentralisierung Serbiens noch nicht sehr viel getan worden. Auch wenn den einzelnen Kommunen mehrere Möglichkeiten, gerade auch hinsichtlich der Finanzierung von eigenen Leistungen, gegeben worden sind, so ist die albanische Frage nach wie vor offen.
Vor diesem Hintergrund kann es aus meiner Sicht so lange nicht zu einer Debatte über die Unabhängigkeit kommen, solange die Albaner nicht sicherstellen, dass all diejenigen, die nicht Albaner sind – ob Serben, Bosnier oder Bosniaken, ob Roma und Sinti etc. – in Ruhe und Freiheit leben können und die gleichen Chancen haben, wie alle anderen.
Im Herbst sollen im Kosovo Wahlen zu zentralen Aktivitäten stattfinden, über deren Kompetenzen man im Detail noch reden muss. Aber auch bei diesen Wahlen müsste garantiert werden, dass alle Kosovo-Bewohner, inklusive jener, die nach dem Sieg der Kosovo-Albaner mit Hilfe der NATO fliehen mussten, auch tatsächlich wählen und ihre Meinung frei äussern können.

Groteske um Dayton

In Bosnien-Herzegowina gibt es nach wie vor extrem kroatische Nationalisten, die nicht bereit sind, das Übereinkommen von Dayton anzuerkennen. Auf der anderen Seite ist es kürzlich anlässlich der Grundsteinlegung für den Wiederaufbau einer großen Moschee in Banjaluka zu furchtbaren Szenen gegenüber den Bosniaken, aber auch den ausländischen Gästen gekommen.
Wir stehen ein bisschen vor der grotesken Situation, dass wir einerseits Dayton gegen die Nationalisten verteidigen müssen und andererseits Dayton in Richtung eines gemeinsamen Staates ändern sollten, was aber für die Nationalisten noch viel weniger in Frage kommt.

Der Balkan bleibt ein Pulverfass

Der Balkan bleibt also eine sehr unruhige Zone mit vielen unterschiedlichen Elementen. Viele haben noch nicht begriffen, was es heißt, europäisch zu denken und europäisch zu handeln. Aber das ist ja zum Teil auch im Westen so. Man wird sehen, wie die Wahlen in Italien und im Baskenland ausgehen und wie weit sich dort der Nationalismus durchsetzen kann oder besiegt wird.
Was nun Bulgarien betrifft, so stehen wir dort kurz vor einer Wahl. Interessanterweise tritt dabei in den letzten Tagen und Wochen der Nachfolger des früheren Königs unübersehbar hervor und spuckt große Töne, ohne wirklich konkrete Versprechungen zu machen. Und er trifft dabei auf eine grotesk hohe Zustimmung. Der Populismus, wie er sich in verschiedenen Ländern aufspielt, ist also auch dort zu bemerken.
Hinzu kommt, dass – wie ein Kollege berichtete – die nationale, ethnische Frage von den Rechten, die in der Regierung sind, hochgespielt wird. Angesichts der Möglichkeit, dass die türkisch-nationale Partei mit den Sozialisten oder Sozialdemokraten eine Koalition bilden, wurde wieder ausgegraben, was die Kommunisten als Vorgänger der Sozialisten gegen die türkische Bevölkerung in Bulgarien unternommen haben: der Zwang zur Änderung der Namen, Umsiedlungen etc.

„Europäisch“ zu sein bedeutet, nicht nationalistisch zu sein

Und so spielen in fast allen diesen Ländern die ethnischen Fragen eine besondere Rolle – nicht zuletzt auch im Zusammenhang mit einer sehr starken Roma und Sinti-Bevölkerung. Dass in diesem Zusammenhang in Hinblick auf einen möglichen Wahlsieg für Berlusconi in Italien und die Nationalisten im Baskenland, die Überzeugungskraft der Europäischen Union gegen den Nationalismus und vor allem gegen die Ethnisierung in der Gesellschaft und damit eine weitere Spaltung in der Gesellschaft erleiden würde, kann man sich leicht vorstellen.
Aber man muss ja nicht immer das Schlimmste befürchten. Und wenn es tatsächlich zu einem Wahlsieg kommt, muss man sich um so mehr anstrengen, im Bereich der Europäischen Union eine überzeugendere Argumentationskraft zu entwickeln, dass „europäisch“ zu sein bedeutet, nicht nationalistisch zu sein. Dass „europäisch“ bedeutet, sich primär um die Grund und Freiheitsrechte jedes Einzelnen zu bemühen – unabhängig von seiner ethnischen Herkunft und seiner Religion. Und dass „europäisch“ bedeutet, eine Vielfalt von Sprachen und Kulturen zu haben und zu pflegen – allerdings nicht mit dem Ziel, besser bzw. übergeordnet gegenüber anderen Kulturen und Regionen zu sein, sondern mit Respekt für sich und die anderen die eigenen Werte zu vertreten – ohne Arroganz und Überheblichkeit.  
Berlin, 9.5.2001