Durch das wilde Kurdistan

 Viele Kurden, die in dieser Region ein karges Leben verbringen, aber durchaus durch die Landwirtschaft ein Auskommen haben können, wollen nichts anderes als vermehrte kulturelle Rechte.
Schon seit langem beschäftige ich mich mit der Situation der Kurden in der Türkei. Ich will und kann einfach nicht verstehen, dass es nicht möglich ist, dieser großen Bevölkerungsgruppe jene Rechte und Möglichkeiten zu geben, die notwendig sind, damit sie sich auch in der Türkei integrieren und zugleich eine zumindest kulturelle Autonomie ihr Eigen nennen kann. Die kurdische Problematik interessiert mich auch deshalb, weil die Auseinandersetzungen zwischen den Kurden und dem türkischen Bevölkerungsteil, insbesondere zwischen den politischen Vertretern und dem türkischen Militär immer wieder auch in die Situation in Europa hineinspielen, da in vielen Ländern, so auch in Österreich, Türken türkischen und kurdischen Ursprungs leben.

Anlass meines jüngsten Besuches war das drohende Verbot der HADEP, jener kurdischen Partei, die allerdings keine rein kurdische Partei sein möchte, da dies schon aufgrund der türkischen Verfassung nicht möglich ist. Das drohende Verbot der HADEP wurde deshalb in die Diskussion gebracht, weil man dieser Partei vorwirft, nicht unmaßgebliche Kontakte zur PKK zu haben und dadurch eine terroristische Organisation zu unterstützen bzw. bzw. ihr einen politische Legitimität zu geben.

Diyarbakir ist die Hauptstadt dieses kurdischen Gebietes. Wir haben dort mit verschiedenen Vertretern des öffentlichen nationalen Lebens – dem Militär- sowie dem zivilen Gouverneur, dem von der HADEP gestellten Bürgermeister sowie mit Vertretern von Menschenrechtsorganisationen und des zivilen Lebens – gesprochen.

Der Schein trügt

Wir wollten allerdings neben Diyarbakir auch eine andere Stadt besuchen, und so kamen wir – auch aus logistischen Gründen – in das relativ nahe gelegene Bingöl, das wir nach einer frühmorgendlichen Autobusfahrt in etwa drei Stunden erreichten. Die Fahrt nach und von Bingöl war landschaftlich äußerst reizvoll. Mohnfelder wechselten sich mit zum Teil schneebedeckten Gebirgszügen ab. Kleine Ansiedlungen zogen an uns vorüber und verdeckten oft dahinter liegende zerstörte Häuser. Wenn man nicht wusste, dass es hier einmal kriegerische Auseinandersetzungen gegeben hat, hätte man fast glauben können, man fahre durch eine fruchtbare und friedliche, wenngleich arme Gebirgslandschaft. Verschiedene Straßensperren und Kontrollen durch das türkische Militär haben uns allerdings deutlich daran erinnert, dass es hier Krieg gab und man auch dem Frieden noch nicht traut. Die Straßensperren haben uns selbst nicht viel ausgemacht. Ich kann mir aber sehr gut vorstellen, dass viele Kurden sie als eine Schande und Provokation empfinden.

Während der Fahrt habe ich darüber nachgedacht, wie viel kurdische Freischärler, Rebellen bzw. Terroristen – wie immer man es bezeichnen will – sich noch in den Bergen befinden, wie viele in den Orten, getarnt, aber durchaus in einem „normalen“ Leben, aktiv sind, und wie viele von ihnen von hier geflohen sind, um ihre Aktivitäten in den irakischen Teilen Kurdistans zu entfalten. Einige Vertreter aus dem kurdischen Teil des Irak haben mir jedenfalls ziemlich deutlich signalisiert, dass sie nicht sehr glücklich über die PKK in den kurdischen Gebieten sind, weil sie neue Unruhen in dieses Gebiet hineinträgt.

Es liegt mir fern, die PKK zu heroisieren. Öcalan war bzw. ist ein sehr autoritärer, um es gelinde auszudrücken, Führer der Kurden, was sich in allen Rebellenbewegungen fast von selbst ergibt. Es ist schwer, eine Bewegung zu beurteilen, die sich vorgenommen hat, die Unterdrückung des eigenen Volkes zu rächen bzw. abzuschütteln. Viele Menschen, die in dieser Region ein karges Leben verbringen, aber durchaus durch die Landwirtschaft ein Auskommen haben können, wollen nichts anderes als vermehrte kulturelle Rechte, das Erlernen ihrer Sprache etc. Für andere Kurden gibt es wahrscheinlich wichtigeres, als die kurdische Sprache in der Schule zu lernen. Sie wollen generell gute Schulen, ebenso ist es für sie wichtig, reines Wasser zu haben und die landwirtschaftlichen Produkte verkaufen zu können.

Selbstfindung

Die Realität unzähliger Kämpfe und Auseinandersetzungen zeigt jedoch, dass man die Menschen nicht auf die rein wirtschaftlichen, vernünftig argumentierbaren Interessen festlegen kann. Zur Frage der Selbstfindung und Selbstbestimmung sind stets emotionale und kulturelle Wünsche und Vorstellungen ganz entscheidend. So sehr die Türkei und die offiziellen Vertreter Recht haben, wenn sie meinen, die Kurden als solches seien nicht unterdrückt – es gibt Kurden, die Richter sind und sogar Präsidenten des Landes waren -, so sehr stimmt auch das gegenteilige Argument, dass die politische Aktivität der Kurden, die Rechte und Möglichkeiten der Bevölkerung zu stärken und zu erhöhen, sehr wohl bestraft werden – und zwar vielfach in einer geradezu brutalen Art und Weise.

Wir von der Europäischen Union können nicht für die Türkei oder für die Kurden Politik in diesem Land machen. Wir können nur darauf aufmerksam machen, dass wir uns massiv gegen den Terrorismus wenden, dass wir andererseits aber auch massiv für die Stärkung der kulturellen Rechte der Kurden eintreten. Die Demokratie erfordert dies – was immer die nationalistischen Konzeptionen eines Landes dazu sagen.

Auf der „schwarzen Liste“

Wenige Tage, bevor wir in die Türkei gefahren sind, haben die Vertreter der 15 Mitgliedsländer der Europäischen Union entschieden, die PKK auf die Liste der terroristischen Organisationen zu setzen. Man kann zu dieser Entscheidung unterschiedliche Meinungen haben. Man kann von der Sache her argumentieren und dieses Vorgehen als gerechtfertigt sehen. Man kann sich fragen, warum diese Entscheidung gerade jetzt getroffen wurde, da die PKK der Gewalt – zumindest offiziell – abgeschworen hat. Und man kann sich fragen, was dieses Entgegenkommen gegenüber der türkischen Regierung bedeutet.

Die Reaktionen aus der HADEP und verschiedener Menschenrechtsorganisationen, die mit der kurdischen Frage beschäftigt sind, sind jedenfalls sehr negativ. Man hat sogar in manchen Außenministerien überlegt, die Reise unserer Delegation in dieses Gebiet nicht abgesagt werden sollte, weil man von vornherein mit negativen Reaktionen gerechnet hat. Die Reaktionen waren in der Tat negativ, allerdings nur verbal. Es bestand keinerlei Gefahr für uns – weder in Diyarbakir noch auf unserer Reise durch das wilde bzw. in diesem Fall friedliche Kurdistan.

Wie immer man es beurteilen will, so hoffe ich, dass die Tatsache, dass man die PKK auf diese Liste gesetzt hat, zum Frieden und nicht zu neuerlichen gewaltsamen Auseinandersetzungen beitragen wird. Dass diese Liste von vielen willkürlichen Begleiterscheinungen betroffen ist, zeigt allerdings die Tatsache, dass beispielsweise die algerischen fundamentalistisch islamistischen Bewegungen nicht auf diese Liste gesetzt worden sind, was die Algerier – zu Recht – sehr konsterniert hat.

Ich weiß nicht, wie lange ich mich noch derart intensiv mit der Türkei und der kurdischen Frage beschäftigen werde. Ich würde jedenfalls gerne noch einmal in dieses schöne ost-anatolische Land fahren, um mit etwas mehr Ruhe ein friedliches „Kurdistan“ zu erleben. Ich hoffe, dass seine Schönheit so wild bleibt, wie sie es jetzt ist, aber dass zunehmend dauerhafter Frieden ohne militärische Präsenz in dieser Region der Türkei herrschen wird. 
Diyarbakir, 9.5.2002