Ein besonderer Teil Russlands: Kaliningrad

Die sozialdemokratische Fraktion hat für StudentInnen des Europalehrganges der Universität Kaliningrad „Willy Brandt-Stipendien“ gestiftet. Diesmal wurde ich gebeten, diese Stipendien an die drei Besten des laufenden Jahrgangs zu übergeben.

Beschäftigung mit der Vergangenheit

Ich bin noch nie in Kaliningrad, dieser russischen Enklave innerhalb des EU-Gebiets, gewesen. Ich hatte schon viel über diese Stadt – das ehemalige Königsberg – gehört, meist allerdings in Verbindung mit der Zerstörung der Stadt durch britische Geschwader während des Weltkriegs im Jahre 1944, der Übergabe an die Sowjetunion und dem mangelhaften Aufbau nach dem Zweiten Weltkrieg. In der Tat: Fast alle EinwohnerInnen von Königsberg mussten die Stadt räumen und Menschen aus verschiedenen Regionen der Sowjetunion, vor allem, aber nicht nur Russen Platz machen. Ein fast totaler Bevölkerungsaustausch fand statt.

Dadurch wurde auch die Erinnerung an die Söhne und Töchter der Stadt wie Immanuel Kant und Käthe Kollwitz ausgelöscht. Allerdings blieb etwa das Grabmahl Kants erhalten. Einiges, so auch der Dom, an dessen Seite sich sein Grabmahl befindet, wurde wieder aufgebaut. Heute, in der dritten Generation, wird die Vergangenheit einer Stadt, die nach König Ottokar benannt wurde und in der Friederich der Erste zum König von Preußen gekrönt wurde, allerdings wieder lebendig. Man fürchtet keinen deutschen Revisionismus und kann sich ohne Tabubruch mit der eigenen Vergangenheit beschäftigen.

Die Kurische Nehrung

Ich hatte einen sehr guten Eindruck von der Stadt, der im Gegensatz zu den Medienberichten steht, die ich in den letzten Jahren gelesen habe. Allerdings genoss ich traumhaftes Herbstwetter, und ein Ausflug in die „Kurische Nehrung“ zwischen Ostsee und der sich erweiternden Pregel, einem herrlichen Naturschutzpark, hat diesen Eindruck noch unterstrichen. So meinte Alexander von Humboldt: „Die Kurische Nehrung ist so merkwürdig, dass man sie eigentlich ebenso gut als Spanien und Italien gesehen haben muss, wenn einem nicht ein wunderbares Bild in der Seele fehlen soll.“

Nur die extrem langsame und bürokratische Prozedur bei der Ausreise hat mich wieder daran erinnert, dass die Zeiten der Sowjetunion noch nicht lange vergangen sind. Und einige Randzonen des Kaliningrader Gebiets sind für AusländerInnen praktisch noch immer gesperrt.

Verhältnis EU-Russland

Aber zurück zum eigentlich Anlass meiner Reise nach Kaliningrad, der Preisverleihung in der Aula der Technischen Universität. Ich wurde gebeten, vor der Verleihung der Urkunden der „Willy Brandt-Preise“ eine kurze Rede über das Verhältnis EU-Russland zu halten. Dieser Bitte kam ich gerne nach, gab sie mir doch die Gelegenheit, meine Gedanken dazu zusammenzufassen.

Ich meine, dass es höchste Zeit ist, im Verhältnis EU-Russland einen Neustart zu versuchen. In der Vergangenheit war das Verhältnis oft getrübt. Die Erweiterung der EU, aber insbesondere der Nato, zuletzt auch der Versuch, die Ukraine und Georgien an die Nato heranzuführen, haben Russland verstimmt. Es gab den Gaskonflikt Russland-Ukraine, der BürgerInnen der EU zweimal frieren hat lassen. Und der Georgien Konflikt hat ebenfalls für Verstimmung gesorgt.

Konfliktfreie Zeit nutzen

Inzwischen hat sich jedoch einiges ereignet. Die USA und Russland haben erfolgreich Abrüstungsverhandlungen geführt. Die Nato-Erweiterung wurde auf Eis gelegt. Das Verhältnis zu Polen hat sich nach den tragischen Ereignissen in Smolensk, bei denen der polnische Präsident den Tod gefunden hat, stark verbessert. Die Wahlen in der Ukraine haben eine Russland gegenüber freundlichere Regierung gebracht. Und die kommenden Wahlen könnten eine Regierung mit sich bringen, an der die „russische“ Harmonie Partei beteiligt sein würde. Zuletzt ist der Konflikt in Georgien wieder eingefroren, obwohl Russland sich nicht an die Friedensvereinbarungen hält.
Diese relativ konfliktfreie Zeit sollten beide Seiten nutzen, um das Verhältnis neu zu gestalten. Auch die neuen, besseren Beziehungen zwischen Russland und China sind kein Grund, auf Russland „böse“ zu sein, sondern sie sollen die Notwendigkeit, die Beziehungen mit Russland (und auch mit China) zu verbessern, unterstreichen.

Top-Thema: Energiefrage

Natürlich sind die Energiefragen von besonderer Bedeutung für die Beziehungen EU zu Russland. Wir werden auch weiterhin von russischen Energielieferungen abhängig sein. Aber wir wollen von Russland nicht bezüglich der Gasressourcen aus den Ländern der ehemaligen Sowjetunion abhängig sein. Jedes Land soll sein Gas direkt nach Europa liefern können, und Europas Staaten bzw. Unternehmungen sollen ohne russische Vermittlung von allen Ländern Gas beziehen können. Daher unterstützte die EU die deutsch-russische Transitroute North Stream, und wir erwarten zumindest keine Sperrfeuer gegen die Nabucco Pipeline, die Gas aus dem kaspischen Raum und aus dem Irak etc. nach Europa transportieren soll.

Grundsätzlich sollte die EU im Schwarzmeer-Raum eine enge Partnerschaft anbieten. Natürlich gemeinsam mit der Türkei, aber auch den anderen Anrainerstaaten wie der Ukraine und Georgien, auch wenn letzteres derzeit schwierig ist. Fragen der Energieversorgung, der Umweltverbesserung und generell der politischen Stabilität sollten von allen Anrainerstaaten gemeinsam angegangen werden. Natürlich sollte eine solche Zusammenarbeit auch im Ostseeraum verstärkt Anwendung finden. Und gerade hier könnte Kaliningrad eine große Rolle spielen. Eine solche Zusammenarbeit mit Russland, die vor allem auch Energiefragen umfasst, würde naturgemäß erleichtert werden, wenn auch die EU selbst ihre Energiezusammenarbeit verstärken würde. Eine Europäische Energiegemeinschaft, wie sie gerade auch der frühere Kommissionspräsident Jaques Delors vorgeschlagen hat, würde das einheitliche Auftreten der EU bzw. „unserer“ Gasunternehmen erleichtern. Und dann könnten wir uns gegenüber Russland oder auch anderen Gasversorgern viel effizienter präsentieren.

Modernisierungspartnerschaft

Im Zusammenhang mit Energiefragen soll hier auch auf die vermehrte Nutzung der Nukleartechnologien für die Energiegewinnung verwiesen werden. Russland ist mit der Versorgung von entsprechenden Brennstoffen besonders aktiv. Umso wichtiger wird es sein, die Nutzung für nicht friedliche Zwecke und in der Folge die Weiterverbreitung von Atomwaffen stärker zu kontrollieren. Das bedeutet die Stärkung der Internationalen Atomenergieorganisation in Wien und die „Multinationalisierung“ der Urananreicherung und der Versorgung mit Brennstoff.

Beim letzten EU Russland Gipfel hat die Russische Seite eine Modernisierungspartnerschaft angeboten. Und in der Tat eine solche Partnerschaft hätte für beide Seiten große Vorteile. Allerdings, wenn Russland vermehrt Investoren aus Europa haben möchte, dann braucht es einen intensiveren Kampf gegen die Korruption, verstärkte Transparenz und Verlässlichkeit. Nur unter diesen Voraussetzungen kann eine solche Partnerschaft funktionieren. Sicher gibt es viele Bereiche, wo eine solche Zusammenarbeit sinnvoll ist, zum Beispiel in der Automobilindustrie inklusive der Entwicklung von Elektroautos.

„Wandel durch Annäherung“

Bei aller Kongruenz der Interessen und Vorstellungen gibt es aber auch Differenzen – so in Fragen des Respekts der Menschenrechte und der Auffassungen zur Demokratie. Hier gibt es zweifelsohne unterschiedliche Einstellungen. Das soll aber nicht verhindern, auch über diese Fragen einen ernsthaften Dialog ohne ständige Belehrungen zu führen. Ich würde mir wünschen, dass sich die klarere Haltung, die Präsident Medvedev zu diesen Fragen hat, auch stärker durchsetzt. Sowohl seine Interventionen im Nordkaukasus, aber auch in Kaliningrad sowie die Absetzung des Moskauer Bürgermeisters scheinen in diese Richtung zu gehen.

Die sozialdemokratische Einstellung zur Überwindung der Spaltung hatte Willy Brandt durch den bekannten Ausspruch „Wandel durch Annäherung“ zum Ausdruck gebracht. Die Geschichte hat ihm Recht gegeben. Auch heute gilt diese Aussage unter anderen Voraussetzungen. Wir brauchen eine Annäherung zwischen der EU und Russland, um die Entspannung fortzusetzen und die derzeit friedlichen Verhältnisse zu stabilisieren.

Großes Potenzial

Die nach der KSZE-Konferenz in Helsinki gegründete OSZE mit Sitz in Wien hat große Fortschritte erzielt. Ohne diese Organisation in den Hintergrund zu drängen, spricht nichts dagegen, die Ideen des russischen Präsidenten für neue Friedensstrukturen in Europa zu überprüfen. Wir brauchen zweifellos mehr Abstimmung und Absprachen, aber sicher keine Vetos.

Aber vor allem hinsichtlich unserer gemeinsamen Nachbarn könnten die EU und Russland vieles erreichen. Das muss allerdings durch Angebote, zwischen denen die Nachbarn wählen können, geschehen und nicht durch eine gemeinsame Oberhoheit über sie. Sie müssen immer die Wahlfreiheit behalten. Einer fairen und vernünftigen Zusammenarbeit zwischen Russland und der EU werden sie sich jedoch nicht verwehren.