Ein Gespenst geistert durch Europa

Auf unserem Kontinent zeichnen sich immer stärkere populistische Tendenzen zum Rückschritt durch politische Bewegungen auf der rechten Seite ab. 
In den letzten Tagen haben wir uns in besonderem Ausmaß mit Fragen der Kultur und der Wertegemeinschaft beschäftigt. Es war spannend, sich jenseits der aktuellen tagespolitischen Diskussionen wieder einmal mit so genannten ideologischen Fragen auseinander zu setzen. Und damit meine ich nicht Ideologie in einem engstirnigen, dogmatischen Sinn, sondern Ideologie als eine Grundlage für die Interpretation, aber auch für die Beeinflussung und Veränderung der gesellschaftspolitischen Verhältnisse.

Kultur als Gegenmittel zu rechten Ideologien

Gerade Kultur wird in diesen Tagen in verstärktem Ausmaß wieder zu einem Mittel, um den Ideologien von rechts einen Kulturbegriff der Vielfältigkeit, der Offenheit, des Diskurses, der Suche nach Neuem, der Neugierde entgegenzuhalten. Denn auf der anderen Seite stehen Engstirnigkeit, Angst – Angst haben und Angst machen. Und genau diese Elemente führen zum Rückzug, letztendlich zu einer wirtschaftlichen und sozialen Schwächung.
Natürlich besteht die Frage, wieweit wir in der kapitalistischen Gesellschaft, in der wir leben und in der die Marktorientierung immer stärker in den Vordergrund rückt, eigenständige und kritische Kultur überhaupt noch betreiben können. Die Frage ist, ob diese nicht selbst letztendlich dem Marktprinzip so unterworfen wird, dass das Spannungsverhältnis, das die Kultur in die Gesellschaft einbringen könnte, immer mehr reduziert und zunichte gemacht wird.
Die Diskussion über Werte und Kultur spielte natürlich auch in Zusammenhang mit der Grundrechtscharta, die vor wenigen Tagen der Öffentlichkeit in ihrer Endform präsentiert worden ist, eine Rolle. Diese Grundrechtscharta hat nach langen Diskussionen zu Fragen der Kultur und zum Respekt vor der Vielfältigkeit von Kultur Aussagen gemacht. Für mich sind diese Hinweise und Erwähnungen zur Kultur sehr schwach ausgefallen. Sie sind aus meiner Sicht eher konservierend und am Status quo orientiert und definieren Kultur kaum als vorwärtstreibendes, dynamisches Element. Und es haben auch viele Angst vor Kultur als Sprengstoff für die politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse.

Neues Selbstverständnis europäischer Politik

Dennoch betrachte ich die Grundrechtscharta als einen Fortschritt in der gesellschaftlichen Entwicklung und als ein Element der Veränderung und eines neuen Selbstverständnisses der europäischen Politik. Die Herstellung eines gemeinsamen Markts und die Verhinderung von Kriegen zwischen einzelnen Staaten sind jetzt nicht mehr die alleinigen und wesentlichen Merkmale europäischer Politik. Denn es geht heute angesichts wiederkehrender nationalistischer Bewegungen in Form von rechtspopulistischen Parteien und/oder lebensbedrohender Attacken gegenüber Fremden, Ausländern, Schwarzen auch darum, die Wurzeln gesellschaftspolitischer Zerstörungsprozesse im Inneren einzelner Mitgliedsländer und damit im Inneren der Europäischen Union zu verhindern.

Verlust des politischen Gestaltungswillens

Natürlich kann man mit Recht sagen, dass auch die Gründung der Europäischen Union politische Zielsetzungen hatte. Denn die Überwindung des Faschismus und des Nationalsozialismus, später auch die Schaffung eines attraktiven Gegenkonzeptes zum Kommunismus, waren primär keine wirtschaftspolitischen Zielsetzungen – auch wenn die Instrumente ökonomische waren. Man muss sich in diesem Kontext auch darüber klar sein, dass der Zweite wie der Erste Weltkrieg ihre Wurzeln nicht allein in imperialistischen Überlegungen hatten, sondern in politischen Philosophien, die von erzwungener Einförmigkeit, rassistischen Vorurteilen, diskriminierenden Tendenzen verbunden mit der Suche und Selektion der Besten und Wahren, der Vernünftigen und Tüchtigen, der Patriotischen und Nationalistischen charakterisiert waren.
Dieser ursprüngliche politische Gestaltungswillen in Europa ist im Laufe der europäischen Entwicklung allerdings wieder verloren gegangen. Die Herstellung der formalen Demokratie, Wirtschaftswachstum und die Entwicklung starker sozialer Elemente, vor allem auch der Sozialversicherung, sollten Garantien dafür sein, dass diese Tendenzen nicht wieder entstehen würden. Die Bedeutung von sozialer Sicherheit in Form staatlicher Sicherheit (von Sozialversicherung etc.) wurde in den letzten Jahren stark reduziert, die Nationalökonomien wurden immer stärker globalen Veränderungen und Zusammenhängen unterworfen.

Elitenselektion statt Gleichheit

Aus meiner Sicht gibt es drei Gefahren bzw. Tendenzen, die einen stärkeren europäischen Gestaltungswillen notwendiger denn je machen. Erstens sehen wir, dass dem Streben nach sozialer Sicherheit, nach Gleichheit und Gerechtigkeit immer mehr die Tendenzen der Auswahl, der Selektion und der Diskriminierung gegenübergestellt werden. Auf der einen Seite sind es die Starken, die Gesunden, die Tüchtigen, die Anständigen, die Österreicher, die Deutschen, also die jeweils klar national und nationalistisch zu Definierenden. Auf der anderen Seite sind es die Sozialschmarotzer, die Ausländer, die Drogenhändler, die Schwarzen, die Drückeberger, die dem „Volk“ und seinen Interessen entgegenstehen.

Der gläserne Mensch

Zweitens ist nicht nur der Versuch, immer stärker zu differenzieren, die Leistungsorientierten und Tüchtigen zu fördern und den anderen gerade ein Minimum zu bieten, stärker geworden, sondern auch die Möglichkeit der Selektion und Diskriminierung, insbesondere in Zusammenhang mit der genetischen Gestaltungsmöglichkeit. Die neuen Technologien und mit ihnen die Entzifferung des genetischen Codes schaffen die Möglichkeit, den Menschen zu verbessern und sein Leben zu verlängern. Sie schaffen aber auch die Möglichkeit, von vornherein – bei entsprechender finanzieller Basis – zu erkennen, wer gut und wer ein Risikofaktor ist. Wenn genetische Informationen an Versicherungsinstitutionen und Arbeitgeber weitergegeben werden, könnten diese entscheiden, wer künftig versichert wird bzw. die Prämien nach dem jeweiligen Risiko gestalten und als Arbeitgeber entscheiden, eine Beschäftigung anzubieten bzw. zu verweigern.
Eine der bekanntesten und erfolgreichsten Forscher, Creg Venter, hat vor kurzem einen Artikel folgendermaßen übertitelt: „Man wird sein Leben in der Hand haben“. Die Frage ist nur, wer dieser „man“ ist. Ist man es selbst? Sind es die Eltern? Ist es der Arbeitgeber? Sind es die Versicherungsinstitutionen? Ich möchte keinen Horrorstaat heraufbeschwören, obwohl die Erfahrungen des Nationalsozialismus zeigen, dass solche Horrorstaaten durchaus reale Existenz annehmen können. Aber allein die Frage, ob und wann genetische und medizinische Informationen in Zukunft weitergegeben werden sollen, zeigt klar, welchen Gefahren wir in unserer Gesellschaft gegenüberstehen.

Trügerische Vernebelungen

Drittens bestehen starke gesellschaftspolitische Tendenzen, in einer offenen liberalisierten Wirtschaft den Menschen durch eine autoritäre politische Struktur ein Gefühl der Sicherheit und Geborgenheit zu vermitteln und auch nationalistische staatliche Kontrolle auszuüben. Es zeigt sich, dass in vielen Fällen sogar globale wirtschaftliche Verhältnisse durch derart nationalistische Verhältnisse begünstigt werden. Haider und viele andere rechtspopulistische Führer und Bewegungen versprechen ja den Menschen Schutz und Abhilfe gegen die globalen wirtschaftlichen Entwicklungen. Sie bieten aber weder wirtschaftliche noch soziale Sicherheit, sondern lediglich eine nationalistische Ideologie, die Schutz vortäuscht. Dadurch entsteht auch der Verrat: Um den Interessen und Bedürfnissen der Menschen zu entsprechen, kommt es zu einer Vernebelung, einer Vermischung von Wirtschafts-, Sozial- und ideologisierender Gesellschaftspolitik.
Gerade in einer solchen Situation kann eine Europäische Union, die den Eindruck erweckt, in erster Linie eine wirtschaftliche Organisation zu sein, den Rahmen für die Gestaltung eines europäischen Marktes zu bilden, keine Antwort geben. Wenn wir auf europäischer Ebene nicht die politische Gestaltungskraft zur Anwendung bringen, um einerseits Engstirnigkeit und Nationalismus zu überwinden und andererseits globale Verhältnisse zu beeinflussen, dann besteht durchaus die Gefahr, dass diese Europäische Union scheitert. Und zwar weil sie dann nicht weit genug in ihrem Gestaltungswillen geht, weil sie die politische Dimension der demokratiegefährdenden Bewegungen auf europäischem Boden nicht erkennt.

Eine neue Heimat schaffen

Dabei geht es nicht primär um mehr Zentralismus, sondern vielmehr um eine politische Dimension, die sich über eine aktive Wirtschafts-, Kultur- und Gesellschaftspolitik definiert. Wir müssen versuchen ein Europa aufzubauen, das den Ängsten und Befürchtungen, die mit der Globalisierung der Wirtschaft verbunden sind, überzeugende Gegenkonzepte anbieten kann und den Sorgen und Nöten mit verständnisvollen Lösungsvorschlägen, begleitet von Elementen emotionaler Unterstützung, begegnet.
Sachliche, rationale und bürokratische Lösungen sind gerade in grossen Organisationen wie der EU notwendig. Wenn es aber nicht gelingt, dieses Europa als eine neue Heimat zu vermitteln, die Respekt für nationale, regionale und lokale Heimaten hat, aber diese durch eine zusätzliche neue Dimension ergänzt, dann befürchte ich, dass auch der technokratische Fortschritt, den es in der EU zweifelsohne gibt, leiden wird. Denn dann wird es starke populistische Tendenzen zum Rückschritt geben und selbst dieser „technokratische“ Fortschritt wird durch politische Bewegungen auf der rechten Seite gefährdet werden.  
Wien, 22.10.2000