Ein Hauch von Revolution

Die europäische Sozialdemokratie bringt großes Verständnis und große Sympathie für die neuen sozialen Veränderungen in Lateinamerika auf.
In Wien fand vergangene Woche der Lateinamerikagipfel der Europäischen Union statt. Es war ein Großereignis mit unzähligen Staats- und Ministerpräsidenden – zumeist sind gemäß dem lateinamerikanischen Muster Präsidenten, die beide Funktionen ausfüllen, aufgetreten und haben auch ihre Differenzen deutlich gemacht.

Absage der Stars

Vom neuen chilenischen Präsidenten über den nicht mehr kandidierenden mexikanischen Präsidenten, von Brasiliens Präsident Lula bis zu den beiden schillernden Stars, Venezuelas Hugo Chavez und Boliviens Evo Morales, waren alle nach Wien gereist, um an etlichen Gesprächen, Konferenzen und Veranstaltungen teilzunehmen. Auch die Österreichische Gesellschaft für Kulturpolitik hatte eine Diskussion anlässlich des Lateinamerikagipfels veranstaltet, die ich geleitet habe. Und auch Chavez und Morales waren eingeladen worden, allerdings haben sie nie eine fixe Zusage gegeben.
Vor allem hinsichtlich der Teilnahme von Evo Morales gab es bis zuletzt ein Auf und Ab von Zu- und Absagen. Noch kurz vor Beginn der Veranstaltung am Samstagvormittag hieß es, dass er kommen wird – es hatte sich auch schon ein entsprechendes Polizeiaufgebot rund um die Kunsthalle am Karlsplatz, wo das Gespräch stattfand, postiert. In letzter Sekunde sagte Evo Morales aber doch alles ab. Er war bei einem Gespräch mit dem Bundespräsidenten und musste anschließend am letzten Gipfeltreffen teilnehmen. So haben wir die Diskussion ohne die beiden „Stars“ durchgeführt.

Kontroverse

Das Gespräch verlief aus meiner Sicht dennoch spannend. Es entwickelte sich eine Kontroverse zwischen Gerald Matt, dem Direktor der Kunsthalle und den übrigen DiskussionsteilnehmerInnen. Matt meinte, dass die Globalisierung auch für die Kulturentwicklung durchaus Positives bringe und es in den verschiedenen Kontinenten zu keiner Verflachung oder einem totalen Abbau von jeglichen differenzierten individuellen kulturellen Äußerungen komme. Stattdessen entstünden Austausch und grenzüberschreitendes Kennen lernen, es gelte nur, die entsprechenden Ansätze und Begabungen zu fördern. Matt sprach sich gegen Quotenregelungen für nationale Kulturen aus.
Auf der anderen Seite stand Gabriele Eschig, die Generalsekretärin der UNESCO-Kommission in Österreich, die die multilaterale Politik der UNESCO bis hin zur Forderung nach Quoten für nationale Kulturen und nationale Medien, etc. unterstrich. Sie meinte, dass es insbesondere in Ländern, die im Nahbereich der dominierenden Kulturen wie der amerikanischen Kultur liegen oder auch bei den nationalen Kulturen im Film, im Fernsehen, in der Literatur, notwendig ist, einen gewissen Rückhalt zu geben.

Chancen durch Globalisierung eröffnen

Nun spricht für beide Positionen etwas. Aus meiner Sicht können Quoten- bzw. Schutzregelungen immer nur eine vorübergehende bzw. sehr begrenzte Funktion haben. Im Wesentlichen muss die Politik danach trachten, die nationale Kultur durch eine positive Diskriminierung finanziell zu fördern. Und sie muss das Klima durch die Heranziehung kultureller Äußerungen von Kulturschaffenden für größere nationale Aufgaben fördern. Aber die Kulturschaffenden müssen sich letztendlich auch dem Wettbewerb stellen. Man kann den KonsumentInnen nichts vorschreiben. Man kann anregen oder Hinweise geben und Chancen eröffnen.
Das ist in der Kulturpolitik genau so wie in der internationalen Handelspolitik. Denn auch in der Entwicklungspolitik kann die Globalisierung gewisse Chancen eröffnen, wenn sie von den nationalen Staaten genutzt wird und ein Austauschsystem entsteht, das nicht nur die Quantität belohnt, indem sie in der Menge und den niedrigen Kosten die Qualität, den Schutz der Natur, der Umwelt, den Schutz der gewerkschaftlichen Rechte, etc. vernachlässigt. In beiden Fällen – sowohl im Kultur- als auch im Handelsbereich – geht es also nicht darum, gegen die Globalisierung zu kämpfen, sondern darum, die Chancen der Globalisierung zu nützen und den Menschen, insbesondere in den weniger entwickelten Regionen, neue Chancen zu eröffnen, am internationalen Wettbewerb in einer fairen und gerechten Weise teilzunehmen.

Ressourcen zurückerobern

Um dieses Thema ging es auch gestern im Europäischen Parlament, als Evo Morales seine Rede vor dem Plenum hielt und sich einer Diskussion im außenpolitischen Ausschuss stellte. Sein Auftreten war sympathisch. Er hatte klare Vorstellungen und versuchte, im Sinne eines Dialoges und Austausches von Ideen und Meinungen zu argumentieren. Morales vertrat dabei keine radikalen Positionen, sondern begründete, warum gewisse Maßnahmen gesetzt werden.
Er wies in diesem Zusammenhang auf die Priorität hin, die Verfügung über die Ressourcen wieder zu gewinnen und diese Ressourcen für den Nutzen im eigenen Land, für die eigene Bevölkerung, für den Aufbau der Infrastruktur und für die Alphabetisierung einzusetzen. Für Morales ist es nicht akzeptabel, dass Bolivien mit seinen großen Erdöl- und Erdgasressourcen zu den ärmsten Ländern der gesamten Region zählt.

Koka, nicht Kokain

Morales möchte künftig außerdem verhindern, dass die Menschen gezwungen sind, ihr Land zu verlassen, weil es so arm ist, und nach Europa auswandern, um dort in Haushalten oder sonstigen Billigjobs tätig zu sein. Er möchte ihnen stattdessen Arbeit im eigenen Land garantieren.
Im Zusammenhang mit Kokain und dem Drogenhandel hat Evo Morales klargestellt, dass er absolut gegen den Drogenhandel ist, aber nicht akzeptieren kann, dass der Kampf Drogenhandel auch als Instrument des Neokolonialismus verwendet wird. Daher ist er auch für den Anbau von Koka – in jeweils begrenztem Maß pro Bauer – im Sinne eines Genussmittels, das beispielsweise auch in Coca Cola Verwendung findet.

Neue Regelung

Morales will gemäß einem Satz der indogenen Völker – „Man darf nicht faul sein, man darf nicht lügen“ – ehrlich zur eigenen Bevölkerung und zur Außenwelt sein. In diesem Sinn möchte er unmissverständlich klarstellen, dass sein Land den eigenen Reichtum auch für sich selbst nützten will. 180 Tage wurden für die Verhandlungen mit den einzelnen Erdölkonzernen festgelegt, um zu einer neuen Regelung zu kommen.
Morales möchte zudem mit seinen Nachbarn, etwa mit Brasilien, eine strategische Allianz eingehen. Er betont dies deshalb, weil er in Konflikt mit jenen Nachbarländern geraten ist, die ihrerseits mit eigenen Firmen, z. B. der brasilianischen Petrobras, im Erölgeschäft tätig sind bzw. von den Energieflüssen aus Bolivien abhängig sind. Morales erinnerte daran, dass das Land vor 500 Jahren kolonialisiert worden ist. Er verlangt heute keineswegs eine Kompensation für diese Kolonialisierung, fordert aber sehr wohl ein neues Verhältnis zwischen den ehemaligen Kolononialherren und dem eigenen Land bzw. der Mehrheit der indogenen Bevölkerung.

Prägende Erlebnisse

Morales erzählte uns, dass er vor Jahren nach Bilbao eingeladen worden war, um dort an einer Diskussion teilzunehmen. Nach seiner Landung in Madrid war er festgehalten worden und sollte 500 Dollar bezahlen, um weiterreisen zu können. Morales zeigte seine Einladung vor, die bestätigte, dass alle Kosten übernommen wurden. Trotzdem wollten ihn die Grenzpolizisten nicht weiterreisen lassen.
Morales fragte sie daraufhin: „Woher soll ich 500 Dollar nehmen? Sie sind in mein Land gekommen, haben es ausgeraubt und jetzt verlangen sie von mir zusätzlich 500 Dollar? Das ist nicht möglich.“ Letztendlich konnte Morales passieren, aber Erlebnisse wie diese sind zweifellos prägend. Und dass ein Vertreter der indogenen Bevölkerung, die sich in besonderem Maße unterdrückt und ausgeraubt fühlt, jetzt mit einer Gegenbewegung reagiert, ist durchaus verständlich.

Realismus statt revolutionärer Rhetorik

Dennoch halte ich es für richtig darauf hinzuweisen, dass weder Morales noch Chavez den Fehler machen sollten, sich mehr und mehr in eine revolutionäre Rhetorik zu versteigen. Die Erwartungen im eigenen Land bei den Anhängern hochzuschrauben und zu vergessen, dass sie Unternehmungen brauchen, die Arbeitsplätze schaffen, die Bodenschätze gewinnen und auch verwerten können und die schließlich die Produkte auf die internationalen Märkten bringen, wäre fatal. Es sollte tatsächlich niemand vertrieben werden, wie das immer wieder betont wird – weder die internationalen Unternehmen noch die Mittelschicht, die fähig ist, eine neue Wirtschaft aufzubauen und Arbeitsplätze zu schaffen.
Es ist nachvollziehbar und richtig, dass die Sozialdemokratie in Lateinamerika in einer Situation der Unterentwicklung und der extremen Armut radikaler und bestimmter vorgeht. Und die Tatsache, dass jetzt mehrere linke Präsidenten in diesem Kontinent an die Macht gekommen sind, erleichtert dieses Vorhaben. Genauso nachvollziehbar und richtig ist aber, dass gerade wir als europäische SozialdemokratInnen, wie es Paul Nyroup Rasmussen in der Diskussion mit Morales ausgedrückt hat, im Dialog mit den lateinamerikanischen Ländern auf Mäßigung und auf eine realistische Strategie setzen sollten. Und dass wir sie davor bewahren sollten, den Weg Fidel Castros zu gehen.

Vorbild Castro?

Emotional kann ich eine gewisse Sympathie für Castro nachempfinden. Und mit Recht wies Evo Morales darauf hin, dass Castro selbst unter dem unsinnigen und kontraproduktiven Boykott der Amerikaner steht und ihnen in ihren Veränderungen geholfen hat. Wie allerdings die wirtschaftliche und soziale Entwicklung in Kuba zeigt, ist der Weg Castros für die eigene Bevölkerung nicht wirklich produktiv – ganz zu schweigen von der Unterdrückung der Meinungsfreiheit und der politischen Freiheit.
Für all jene Aspekte, die die Grundpfeiler der Sozialdemokratie bilden – von der wirtschaftlichen und sozialen Entwicklung bis zur Freiheit der Meinungsäußerung – gibt es im heutigen Kuba leider wenig Verständnis und wenige politische Ansätze. Es wäre aber äußerst schade, würde sich die Situation nach Fidel Castro wieder in ihr Gegenteil verkehren und würden die großen Konzerne und der große amerikanische Bruder in der Nachbarschaft erneut die Macht und den Einfluss übernehmen.

Miteinander für ein neues Lateinamerika

Wir wünschen uns einen Erfolg der Experimente in Lateinamerika. Dieser kann aber weder aus einem Nationalismus heraus entstehen noch aus einer Solidarität, in der die reichen Länder den anderen Ländern die Bedingungen vorgeben. Das Erfolgsrezept liegt in einem Miteinander in Lateinamerika.
Ein Miteinander, bei dem gerade Europa eine zentrale Rolle spielen kann, weil es mehr Verständnis für die sozialen Belange hat als die Vereinigten Staaten von Amerika. Jedenfalls die europäische Sozialdemokratie bringt großes Verständnis und große Sympathie für die neuen sozialen Veränderungen in Lateinamerika auf. Dazu sollten wir stehen und diese auch im Dialog voll ausnützen.

Straßburg, 16.5.2006