Ein Jahr nach dem 11. September

Der 11. September 2002 bietet die Gelegenheit, jene Veränderungen in der amerikanischen Politik zu betrachten, die uns auch in Europa betreffen und unsere eigene Politik beeinflussen. 
Der 11. September 2002, also der 1. Jahrestag nach der furchtbaren Katastrophe in New York, ist neuerlich Anlass, der vielen unschuldigen Opfer zu gedenken und sich mit der betroffenen Bevölkerung solidarisch zu erklären. Er sollte allerdings auch die Gelegenheit geben, jene Veränderungen in der amerikanischen Politik zu betrachten, die uns auch in Europa betreffen und unsere eigene Politik beeinflussen. Dabei handelt es sich vielfach nicht um völlig neue Elemente der US-amerikanischen Außenpolitik, sondern um Akzentverschiebungen und um Verstärkungen von langfristigen Trends.

Vorausschicken möchte ich, dass die USA auf jeden, der dieses Land nur ein bisschen kennt, eine große Faszination ausübt. Ich selbst konnte mich in diesem Sommer anlässlich eines zweiwöchigen Aufenthalts in New York und Neuengland einmal mehr von den zahllosen beeindruckenden Seiten der Vereinigten Staaten überzeugen.

Europa braucht keinen Vormund

Ich will daher hier nicht so sehr bewerten und verurteilen, sondern auf jene grundsätzlichen Unterschiede zwischen der amerikanischen und der europäischen Politik aufmerksam machen, die man kennen muss, um ein Verhältnis der Partnerschaft und nicht der Unterordnung zu gestalten. Um es in den Worten von Helmut Schmidt auszudrücken: „Europa braucht keinen Vormund.“

Gerade in den letzten Monaten haben viele US-amerikanische AutorInnen versucht – einigermaßen vorurteilsfrei – die unterschiedlichen Orientierungen und Werthaltungen in der europäischen und amerikanischen Politik darzustellen. Gemäß diesen Analysen hat die US-Regierung, insbesondere die Falken darin, ein Bild der Welt, wo nur durch eine starke Militärmacht Frieden und Gerechtigkeit hergestellt bzw. gesichert werden kann. Angesichts der militärischen Schwäche Europas bleiben nur die USA als Weltpolizist, als Sheriff übrig. Multinationale Vereinbarungen und Organisationen bekommen ihre Macht stets nur vorübergehend übertragen, sie kann jederzeit von den Nationalstaaten zurückgenommen werden. Die Legitimität zur Machtausübung bleibt bei den Nationalstaaten! Und die haben zu guter Letzt auch das Recht, „Präventivschläge“ zu führen.

Europa hat sich hingegen schon aus der eigenen Geschichte und Erfahrung heraus eine ganz andere Philosophie erarbeitet. Die Europäische Union hat aus den nationalen und nationalistischen Machtspielen der Vergangenheit gelernt und durch Verhandeln und Kompromiss eine neue Friedensordnung in Europa erreicht. Diese Grundsätze sollten aber auch für neue Friedensordnungen weltweit gelten. Dabei müssen ebenso die wirtschaftlichen, sozialen und ökologischen Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden geschaffen werden. In diesem Sinne ist die Übertragung von Kompetenzen und Macht an regionale und internationale Organisationen keine vorübergehende, jederzeit widerrufbare Angelegenheit, sondern jener gesellschaftliche Fortschritt, der die Basis für den Frieden schafft.

Augenfällige Widersprüche

Der amerikanische Unilateralismus, ob in Fragen der Wirtschafts-, der Sicherheits- oder der Rechtspolitik, ist also das Ergebnis einer zu Europa doch sehr verschiedenen Grundeinstellung. Da aber Amerika diesen Unilateralismus primär nicht als Isolation und Abschottung versteht, sondern sehr wohl globale Interessen vertritt, kommt es zu augenfälligen Widersprüchen.

Die USA wollen internationale Regeln und möchten diese Regeln auch mitbestimmen, für sich selbst allerdings nur sehr selektiv anwenden. Jüngste Beispiele sind Zölle auf Stahlimporte und zusätzliche Agrarsubventionen bei gleichzeitig aggressiver Liberalisierungsstrategie im Rahmen der Welthandelspolitik, aber auch des US-Einflusses auf den Internationalen Währungsfonds und die Weltbank. Die Ablehnung des Internationalen Strafgerichtshofs – jedenfalls für US-Bürger – bei starkem Druck insbesondere auf Belgrad, alle Kriegsverbrecher nach Den Haag auszuliefern, ist ein anderes Beispiel dieses Widerspruchs.

Die unterschiedliche Grundstruktur amerikanischer und europäischer Außenpolitik drückt sich auch in der Ausgabenstruktur und der Budgetgestaltung aus. Die USA konzentrieren sich auf hohe Militärausgaben, um ihrer Außenpolitik Nachdruck zu verleihen. Für Europa sind die Militärausgaben sowie all jene Ausgaben und Maßnahmen relevant, die in Zusammenhang mit der Entwicklungshilfe zu sehen sind.
Der Kampf gegen den Terrorismus ist auch für Europa ein entscheidendes Element der Außenpolitik, aber die militärische Komponente spielt dabei nur eine untergeordnete Rolle.

Inkonsistente Außenpolitik

Die unterschiedlichen Auffassungen in der Nahost-Politik und vor allem hinsichtlich der Bedrohungen aus dem Irak zeugen ebenfalls von diesen Differenzen. Wir hatten zum Regime von Saddam Hussein niemals ein so nahes Verhältnis wie es zeitweise die USA hatten, aber wir müssen angesichts der Situation im Nahen Osten vor einem einseitigen militärischen Eingreifen warnen. Die Politik der „präventiven Militärschläge“, die immer mehr Anhänger in US-Regierungskreisen gewinnt, ist eine große Gefahr für den Weltfrieden. Dass sich Präsident Bush dabei auf Churchill und seine Abkehr der Vereinbarung von München mit Hitler beruft, wird inzwischen auch von vielen Historikern heftig kritisiert.

Die Inkonsistenz amerikanischer Außenpolitik zeigte sich übrigens auch im Falle Afghanistans und aktuell im Fall Saudi-Arabiens. Die amerikanische Außenpolitik ist dabei nicht nur durch eine andere Grundhaltung zur Rolle multilateraler Vereinbarungen und Organisationen geprägt, sondern auf Grund ihrer stärkeren Orientierung an den eigenen wirtschaftlichen und militärischen Interessen auch durch eine größere Irrationalität und vielfältigere Schwankungen gekennzeichnet.

Parallel zu diesen langfristigen Tendenzen US-amerikanischer Außenpolitik gibt es entsprechend delikate „Draufgaben“. So hat etwa Präsident Bush heuer als Sommerlektüre „Oberkommando“ von Eliot Cohen ausgewählt. Darin wird mit Hinweisen auf Churchill, Clemenceau, Ben Gurion und Lincoln empfohlen, der Angst, Vorsicht und Zurückhaltung der Militärs nicht zu vertrauen, sondern entschlossen und „mutiger“ vorzugehen. Eliot Cohen war im Übrigen auch die Begrenzung der Bombenangriffe im Kosovo ein Dorn im Auge!

Mehr europäisches Profil…

Unter diesen Umständen kann es keine blinde und automatische Bindung Europas an die amerikanische Politik geben. Amerika vertritt – warum auch nicht – seine eigenen Interessen. Ob die USA dies immer mit hoher Geschicklichkeit und großem Erfolg tun, ist eine andere Frage. Aber wir müssen unsere eigenen Interessen, so wie wir sie verstehen, umsetzen. Wir dürfen vor allem nicht zulassen, dass z.B. im Falle des internationalen Strafgerichtshofes die USA auf unsere Partnerländer in Europa Druck ausüben und sie erpressen. Dass Rumänien angesichts des Wunsches, der NATO beizutreten, die europäische Position missachtet und die amerikanische Haltung übernommen hat, ist ein Skandal und ein Schwächezeichen Europas.

Meine grundsätzliche Kritik richtet sich also nicht so sehr gegen die USA, sondern orientiert sich an Europa, das bisher zu wenig eine eigene außen- und sicherheitspolitische Position aufgebaut hat. Helmut Schmidt hat kürzlich bemerkt: „In der EU ´schwatzen` die Regierungschefs nur über die gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik.“ Damit unterschätzt er zwar zweifellos die Erfolge der EU in den vergangenen Jahren. Aber ganz Unrecht hat er nicht!

… und mehr europäische Solidarität

Leider sind es vor allem einige grosse EU-Mitgliedsländer, die immer wieder die notwendige europäische Solidarität verhindern bzw. unterminieren. Das Vereinigte Königreich hat diesbezüglich eine lange Tradition, derzeit zeigen auch die italienische und die spanische Regierung ein ähnliches Verhalten. Ich hoffe, dass die kleinen Länder gemeinsam an der europäischen Solidarität weiterarbeiten und so ein gutes Beispiel dafür geben, dass man Europa auch ohne Antiamerikanismus ein eigenständiges Profil verleihen kann.

Wenn die Europäische Union eine umfassende, auf internationalen Vereinbarungen bestehende Friedensordnung erzielen möchte, dann muss sie dies auch klar und deutlich sagen. Wenn diese Ordnung auch militärisch abgesichert werden soll, dann muss es auch eine gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik geben. Und wenn zum Frieden auch eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung gehört, dann muss Europa auch hier aktiver werden. Insbesondere die jüngsten Wirtschafts- und Bilanzskandale in den USA haben uns gezeigt, dass wir den USA weder mit Neid noch mit Demut gegenübertreten müssen. Mehr Selbstbewusstsein ist angesagt – und das ist übrigens die beste Voraussetzung für eine Krisen überdauernde Partnerschaft. 
Brüssel, 11.9.2002