Ein Kampf, der sich lohnt

Wir brauchen ein machbares, praktikables, aber überzeugendes Europa, das bei aller Machbarkeit auch eine visionäre Kraft beinhaltet. 
Die vergangene Woche war wieder einmal umrahmt von Veranstaltungen in Österreich.
Montagabends fand im ORF-Zentrum in Klagenfurt eine Diskussion über die „Causa prima“, die so genannten EU-Sanktionen gegen Österreich, statt. Ich war bei diesem Gespräch mit je einem ÖVP- und einem FPÖ-Abgeordneten aus Kärnten sowie dem ÖVP-Landesrat Payerl aus der Steiermark konfrontiert. Ein Kurzinterview des grünen EU-Abgeordneten Voggenhuber wurde zugeschaltet.

Verleumdung und Propaganda

Angesichts dieser Übermacht der Koalitionsvertreter war es zugegebenermaßen nicht ganz leicht, in der Diskussion zu bestehen. Erschwerend kam hinzu, dass wir es verabsäumt haben, der Regierung immer und immer wieder die Verantwortung für die Reaktion der 14 EU-Staaten, umgangssprachlich bereits EU-Sanktionen genannt, klar zu machen. In einer ungeheuren Propagandawelle, ich möchte sogar sagen durch Lüge und Verleumdung, wurden Sozialdemokraten und Grüne erstens beschuldigt, die Maßnahmen gegen die Regierung veranlasst zu haben und zweitens jetzt nicht im Stande zu sein, diese Maßnahmen aufzuheben und vom Tisch zu bringen.
Aber man muss immer wieder unmißverständlich festhalten: Die Maßnahmen sind getroffen worden, weil diese Koalition eine Regierung gebildet hat, die Maßnahmen wurden aufrecht erhalten, weil an dieser Koalition eine Partei beteiligt ist, deren führende Funktionäre immer wieder Ungeheuerlichkeiten von sich geben, und die Maßnahmen bestehen nach wie vor, weil die Regierung kein überzeugendes europäisches Programm zur Beseitigung dieser Maßnahmen hat.

Chauvinismus und Nationalismus

Erst in diesen Tagen hat Jörg Haider, unterstützt von Justizminister Böhmdorfer, den Vorschlag unterbreitet, man möge doch jenen das Mandat aberkennen können, die sich gegen Österreich und gegen den Eid auf die Republik vergehen und Österreich nicht genügend unterstützen. Das ist eine ungeheuerliche Forderung, und ich hätte nie gedacht, dass ich jemals in meinem eigenen Heimatland mit einer solchen Aussage konfrontiert werden würde.
Dabei ist es doch gerade Haider, der über Jahre hindurch das Land im In- und Ausland beschimpft, die Regierung verächtlich gemacht, Österreich als Missgeburt bezeichnet und insgesamt dem Image dieses Landes großen Schaden zugefügt hat. Und genau dieser Haider dreht jetzt den Spieß um und verunglimpft Sozialdemokraten als Vaterlandsverräter und Vernaderer. Und die ÖVP spielt dabei mit, weil ihr dieses Verhalten ganz gut in den Kram passt…
Diese nationalistisch-chauvinistische Art, Politik zu machen, dieser Missbrauch von Außen- und Europapolitik für innenpolitische Zwecke ist etwas, das mich zutiefst betrübt. Und es ist etwas, das wir – zumindest im Moment – nur sehr schwer verhindern können, da es der Regierung gelungen ist, uns den „schwarzen Peter“ für die Isolierung der Regierung, die ja immer gleich als Isolierung Österreichs dargestellt wird, in die Schuhe zu schieben.

Die Zukunft Europas

Inzwischen jedoch hat eine viel grundsätzlichere Debatte begonnen: Die Debatte darüber, wie Europa in der Zukunft gestaltet werden soll.
Nach den Vorschlägen von Jacques Delors, der ein Kerneuropa bestehend aus den ursprünglichen Gründungsmitgliedern der Europäischen Union hergestellt sehen möchte – möglich wäre aus seiner Sicht auch, dass die Euro-Mitglieder das neue Kerneuropa darstellen können – hat nun auch der deutsche Außenminister Joschka Fischer einige interessante Vorschläge über die Zukunft Europas gemacht.
Fischer geht richtigerweise davon aus, dass die Nationalstaaten weiter bestehen und bestimmte Politikbereiche weiterhin ihre Zuständigkeiten bewahren werden. In anderen Bereichen jedoch soll Europa eine klare Zuständigkeit bekommen und auch dementsprechend klar organisiert werden – ich würde sagen in der Form eines Bundesstaates. Es geht also nicht darum, alles und jedes über dieses Europa „drüberzustülpen“, sondern darum, dieses föderale Europa auf jene Fragen zu konzentrieren, die künftig wirklich europäisch zu regeln sind – das betrifft die Außen- und Sicherheitspolitik, die Umweltpolitik, etc.

Auf dem Weg zum Kerneuropa

Auch Fischer geht natürlich davon aus, dass ein gewisser Kern mit der Gestaltung eines solchen Europas beginnen soll, und das muss aus seiner Sicht, was ich bei einem deutschen Außenminister verstehe, seinen Ursprung in einer deutsch-französischen Kooperation haben. Joschka Fischer ist allerdings meiner Einschätzung nach offener, was die zukünftigen Mitglieder dieses Kerneuropas betrifft. Für ihn können sich daran durchaus auch Länder, die erst jüngst zur EU gestossen sind bzw. die überhaupt erst im Zuge der Erweiterung der EU beitreten werden, beteiligen.
Was Fischer aus meiner Sicht heraus allerdings fehlerhaft konstruieren möchte, ist die Frage, wie dieses Europa organisatorisch gestaltet sein soll. Er schlägt zwei Kammern vor – das halte ich prinzipiell für richtig. Eine Kammer soll den Rat ersetzen, wodurch ein Bundesrat bzw. eine Staatenkammer ähnlich dem amerikanischen Senat entstehen würde.

Europarlamentarier müssen bleiben

Auf der anderen Seite möchte Fischer aber das Europäische Parlament nur mehr aus nationalen Abgeordneten zusammengesetzt sehen. Dem liegt zwar eine gewisse Kernüberlegung zugrunde, die man durchaus unterstützen kann: dass nämlich die nationalen Parlamentarier und die Europarlamentarier nicht völlig verschiedene Wege gehen, sondern dass sich die nationale und die europäische Politik aufeinander abstimmen sollen.
Es ist allerdings schon allein von der Arbeitsleistung her unmachbar, dass eine Identität zwischen nationalen und europäischen Parlamentariern besteht. Außerdem braucht Europa insbesondere im Aufbau Parlamentarier, die sich auf ihre Arbeit konzentrieren können, die sich primär für die europäische Aufgabe engagieren und die nicht allzu sehr ihre nationalen, sondern vielmehr die europäischen Interessen im Auge haben. Es ist eben eine grundsätzliche andere – und das bedeutet keineswegs eine bessere oder eine schlechtere – Orientierung, ob man als nationaler oder als europäischer Parlamentarier tätig ist.
Diese Debatte über die künftige Gestaltung Europas ist unheimlich wichtig, und deshalb müssten an ihr auch österreichische Politiker und vor allem österreichische Regierungsmitglieder teilnehmen. Deren ideologische Fixierung auf den Kampf gegen die „EU-Sanktionen“ und gegen das „deutsch-französische Diktat“ (Zitat Schüssel!) allerdings hindert sie genau daran…

Europa – Bundesstaat oder Staatenbund?

Genau um die gleiche Debatte ging es auch bei einer Diskussion in Leibnitz am Freitagabend dieser Woche. Gemeinsam mit dem neuen SPÖ-Parteivorsitzenden Alfred Gusenbauer und dem Politikwissenschaftler Anton Pelinka diskutierte ich über die Frage, ob Europa künftig ein Bundesstaat oder ein Staatenbund sein wird.
Wie ich schon am Beispiel Joschka Fischers dargestellt habe, ist das wahrscheinlich gar nicht die zentrale Frage. Vielmehr geht es doch darum, auf welche Bereiche sich Europa primär bezieht und welche Materien einen europäischen Mehrwert haben, der heute nur durch europäische Institutionen geregelt werden kann -etwa gesamteuropäische Umwelt- oder Verkehrsfragen, Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik oder europäische Regionalpolitik. Aber natürlich gibt es auch Bereiche, die als solches nicht primär europäisch zu regeln sind, wo aber durch entsprechende Unterstützungs- und Förderungsmaßnahmen auch ein europäischer Mehrwert entsteht – das betrifft zum Beispiel die Kulturpolitik.
Kulturpolitik ist etwas sehr dezentrales und muss das auch bleiben. Das heißt aber nicht, dass auf europäischer Ebene nicht ganz bewusst und gezielt zur Förderung der kulturellen Vielfalt, der Vielfalt an Sprachen und Ausdrucksformen, der Sicherung der kulturellen Identität, des Austausches von Kulturschaffenden, von Schülern und Studenten, europäische Programme in Gang gesetzt werden – gerade wenn das europäische Projekt nicht nur ein politisches und wirtschaftliches Projekt sein soll, ist diese Dimension unglaublich wichtig.

Sinnvolle Überprüfungsmechanismen

Natürlich bedarf es in diesem Zusammenhang nicht solch detaillierter Regelungen wie beispielsweise bei der Ausgestaltung des gemeinsamen Marktes. Aber selbst dort, wo das Europäische dominiert, ist es unangebracht, bis ins letzte Detail hinein Regelungen vorzunehmen. Selbst dort würde es manchmal genügen, die Zielsetzungen, Methoden und Instrumente festzulegen und einen Überprüfungsmechanismus zu installieren um auszuloten, ob mit diesen Methoden und Instrumenten auch die Zielsetzungen erreicht werden und ob sich die einzelnen Nationalstaaten und Regionen an diesen Zielsetzungen orientieren.
Im Zuge der Ausgestaltung dieses Europas und der Stärkung der europäischen Institutionen ist also gleichzeitig dafür Sorge zu tragen, dass eine gewisse Kompetenzbereinigung erreicht wird, die mit einer größeren Transparenz für den Bürger, wofür Europa zuständig ist, gekoppelt sein muss. Zweitens wäre selbst in den Zuständigkeitsbereichen dieses Europas in vermehrtem Ausmaß dafür zu sorgen, dass es in einer weniger bürokratischen, mehr zielgerichteten Art und Weise vorgeht.

Für ein machbares und visionäres Europa

Bei der eingangs erwähnten Diskussionsveranstaltung in Leibnitz gab es zwischen uns am Podium schließlich auch wenig Differenzen, und auch unseren ZuhörerInnen schien diese Logik durchaus einleuchtend zu sein. Das heißt aber nicht, dass es leicht sein wird, diese Zielsetzungen auch tatsächlich umzusetzen.
So sind etwa die Vorschläge von Joschka Fischer durchaus kontroversiell aufgenommen worden. Einige meinten, er verabschiede sich vom Nationalstaat, andere wieder glaubten, er verabschiede sich von einem Bundesstaat Europa. Das wahrscheinlich deshalb, weil ein Weg dazwischen gefunden, weil eine neue europäische Ebene eingeführt werden muss, die einfach nicht alle Bereiche mehr oder weniger umfasst.
Es ist, wenn man in traditionellen Kategorien denkt, schwierig, diese Ideen aufzugreifen und weiterzuarbeiten. Aber genau das ist unsere wichtigste Aufgabe, die wir in den kommenden Monaten zu erfüllen haben werden: ein machbares, praktikables, aber überzeugendes Bild von Europa zu entwerfen, das bei aller Machbarkeit aber auch eine visionäre Kraft beinhaltet.
Wir wollen dieses Europa, weil es notwendig ist, weil es uns hilft, uns in der Globalisierung besser zu organisieren, aber auch, weil eine Idee dahinter steht, für die es sich lohnt, zu kämpfen. 
Wien, 20.5.2000