Ein Land im Übergang

Bulgarien bietet ein Bild wie viele andere Länder im Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus: eine – nach aussen hin sichtbare – grosse Schere zwischen Reich und Arm. 
Die vergangenen beiden Tage habe ich in Sofia, der Hauptstadt Bulgariens verbracht. Es ist das erste Mal, dass ich in dieses Land gefahren bin, und erst jetzt kenne ich alle Erweiterungskandidaten auf unserem Kontinent.

Schere zwischen Arm und Reich

Ich war überrascht von der Vitalität, aber auch von den Parkanlagen und den Alleen Sofias. Allerdings bot sich mir auch hier ein Bild wie in vielen anderen Ländern im Übergang vom Kommunismus zum Kapitalismus: eine – auch nach aussen hin sichtbare – grosse Schere zwischen Reich und Arm, einerseits ärmlichst gekleidete Menschen in den Strassen, aber dann wieder viele neue, moderne Geschäfte mit, zumindest für bulgarische Verhältnisse, Luxusgütern.
Ob diese Kluft eine notwendige Begleiterscheinung des Transformationsprozesses ist, weiß ich nicht. Mir wurde gesagt, dass die angebotenen Luxusgüter zum Teil auch „Abfallprodukte“ der aufgrund des niedrigen Lohnniveaus im Land nach Bulgarien verlagerten Produktion dieser Güter sind. Ein gewisser Prozentsatz der Produktion wird jeweils für den heimischen Markt einkalkuliert – dieses Angebot kommt immer noch viel billiger als das von den kapitalistischen Nachbarn in Westeuropa.

Runderneuerte sozialistische Partei

Noch an meinem Ankunftstag machte ich einen Spaziergang durch die Stadt, die wie gesagt insgesamt einen positiven Eindruck vermittelte. Im Anschluss empfing mich der neue Vorsitzende der Sozialistischen Partei, Georgi Parvanov. Die Sozialistische Partei Bulgariens, die BSP, ist eine Nachfolgeorganisation der Kommunisten. Sie musste sich aber auch von der Politik der ersten Jahre nach dem Zusammenbruch des Kommunismus emanzipieren und reformieren, da sie, als sie früher in der Regierung war, nicht sehr erfolgreich agierte.
Dieses Manko hängt ihr wahrscheinlich heute mehr nach als die frühere kommunistische Vergangenheit manch ihrer Mitglieder und Funktionäre. Der neue Vorsitzende Parvanov hat jedenfalls ein nach vorne gerichtetes pro-europäisches Programm vorgelegt und damit die Abstimmung am Parteitag knapp, aber doch gewonnen. Die ungeheure Armut im Land, insbesondere bei den Pensionisten, und die Unzufriedenheit mit der Regierung, die manches zu Stande gebracht hat, aber keine wirklich überzeugende Veränderung der wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Strukturen bewirken konnte, eröffnen der Sozialistischen Partei eine grosse Chance, die Wahl, die im kommenden Frühjahr stattfinden wird, zu gewinnen.

Bündnis der Linken

Allerdings steht eine absolute Mehrheit nicht zur Diskussion. Nur mit anderen linken und in der Mitte angesiedelten Gruppierungen und insbesondere mit Hilfe einer türkischen Partei kann die BSP, wenn sie gewinnt, eine neue Regierung bilden. Die Linke in Bulgarien ist derzeit überaus zersplittert. Das sollte sich am zweiten Tag meines Besuches zeigen, an dem ich Vertreter anderer linker bzw. sozialdemokratischer Parteien traf. Aber trotzdem ist es zumindest gelungen, mit Anerkennung der BSP als der führenden und stärksten Kraft im linken Spektrum die Basis für eine Zusammenarbeit und eine funktionierende Koalition im Falle eines Wahlsieges zu schaffen.
Nach dem Gespräch mit Parvanov und einigen Vertretern dieser Partei traf ich mich mit einem Wirtschaftstreibenden, der der BSP durchaus nahesteht. Auch er sprach seine Hoffnung aus, dass die BSP im nächsten Frühjahr gewinnen möge und eine neue Politik betreiben würde, die die Art der Privatisierung, die von der jetzigen Regierung verfolgt werde, korrigiert und neue wirtschaftspolitische Zeichen setzen sollte. Es sollte aus seiner Sicht auch mit Russland auf einer vernünftigeren Basis zusammen gearbeitet werden.
Ich bin nur nicht sehr optimistisch, dass Russland aufgrund seiner eigenen politischen und vor allem auch wirtschaftlichen Probleme eine wirkliche Alternative zur Europäischen Union darstellen könnte. Das Gespräch machte deutlich, dass in diesem Land nach wie vor unterschiedliche Meinungen darüber bestehen, inwieweit die europäische Perspektive auch kurzfristig eine tragfähige Perspektive sein kann bzw. inwieweit eine Orientierung an die östlich vom Balkan orientierte Struktur inklusive Russland sinnvoll und machbar ist.

Aufhebung der Visapflicht

Mein Besuch in Bulgarien fand zu einem sehr aktuellen Zeitpunkt statt. Im Mittelpunkt der politischen Diskussion in Zusammenhang mit dem Verhältniss von Bulgarien und der Europäischen Union steht derzeit nämlich die Visafrage. Bulgarien hat sich erhofft, dass der Visumzwang für „Schengen“ bzw. die EU völlig aufgehoben wird. Diese Hoffnung schien mir allerdings nicht sehr realistisch zu sein. Nicht zuletzt deshalb, weil Bulgarien und Rumänien gemeinsam betrachtet werden und vor allem hinsichtlich Rumänien Widerstand gegen eine Aufhebung der Visumpflicht besteht, da aus diesem Land nach wie vor eine stärkere illegale Zuwanderung nach Westeuropa erfolgt.
In dieser Situation hat der Vorsitzende des aussenpolitischen Ausschusses, den ich bei meinem Besuch in Sofia nicht treffen konnte, da er sich derzeit gerade im Ausland befindet, gemeint: Wenn es nicht zu einer Aufhebung des Visumszwanges komme, dann könnte sich Bulgarien aus dem Stabilitätspakt zurückziehen, die versprochene Schliessung einiger Blöcke des Atomkraftwerkes Koslutu aufschieben, etc.

Kontraproduktive Drohungen

Dieser der rechten Regierungskoalition angehörende Politiker hat mit seinen Äußerungen für Furore gesorgt. Die Linke, vor allem die Sozialistische Partei, distanzierte sich von dieser Art der Drohungen, wie wir sie nur allzu gut aus der österreichischen Situation kennen.
Offensichtlich ist die Rechte, vor allem, wenn sie nationalistisch gefärbt ist, immer schnell bereit, gegenüber der EU und einer Nichtakzeptanz ihrer Forderungen mit Drohungen zu antworten – so wie es auch in Österreich der Fall war, und wie es zum Teil in Ungarn, in Polen und jetzt eben in Bulgarien der Fall ist.
Sicher brachten diese Aussagen die Regierung in Schwierigkeiten. Die Linke hat natürlich sofort den Regierungschef gefragt, ob er ebenfalls hinter diesen Meinungen steht. Eine klare und eindeutige Antwort steht zur Stunde noch aus. Die Visafrage ist unbeschadet dessen eine sehr heikle und für dieses Land sehr wichtige Frage hinsichtlich des Selbstbewusstseins und der generellen Bereitschaft, sich in die europäischen Strukturen einzubinden. Österreich ist jedenfalls durchaus bereit, Bulgarien die Visafreiheit zu gewähren. Und ich hoffe, dass dies auch bald auf europäischer Ebene geschehen wird.

Eintrittsgeld in den Westen

Ich habe die Nacht in der Residenz der österreichischen Botschaft, die wie das Botschaftsgebäude selbst sehr zentral in der Mitte der Hauptstadt gelegen ist, verbracht. Als ich in der Früh die Residenz verliess, um einen Spaziergang durch die Stadt zu machen, kam ich mir etwas „schäbig“ vor – aus einem Haus kommend, vor dem in aller Früh viele Menschen vor dem Konsulat angestellt waren. Ich komme natürlich ohne jedes Visum in dieses Land, kann nach einer kurzen Passkontrolle einreisen. Um aber aus diesem Land nach Österreich oder in ein anderes EU-Land zu kommen, bedarf es langen Anstellens, einer Begründung für den Visumantrag und natürlich auch der entsprechenden finanziellen Mittel.
Es ist schon grotesk: Die Reichen haben es leicht, sie gelangen kostenlos in die armen Länder. Die Armen dagegen haben es schwer und müssen auch noch dafür bezahlen, um ein reiches Land zu besuchen. Ich hoffe jedenfalls, dass es für die Bulgaren bald zu einer Abschaffung der Visumspflicht kommen wird.

Qualifizierte VolksvertreterInnen

Den Vormittag meines zweiten Tages in Sofia verbrachte ich im Parlamentsgebäude, das gleich vis à vis der Österreichischen Botschaft und der Residenz des österreichischen Botschafters liegt. Ich sprach mit einem mir bereits bekannten Vertreter der so genannten Euro-Linken, mit der Vorsitzenden der Agrarierpartei und mit einem Wirtschaftsexperten der Sozialistischen Partei. Sie alle bekannten sich zum Bestreben Bulgariens, möglichst bald Mitglied in der Europäischen Union zu werden. Die Einschätzung der Probleme auf diesem Weg, vor allem was die Landwirtschaft betrifft, war natürlich unterschiedlich.
Aber alle drei Vertreter waren überaus gut in ihren Argumenten, überzeugend in der Vertretung der bulgarischen Interessen und mit hohen wirtschaftspolitischen Kenntnissen ausgestattet. Es ist nicht selbstevrständlich, derart qualifizierte Parlamentarier zu finden. Ich bin immer wieder überrascht, und so auch in diesem Fall, wie Länder, auf die oft mit einer gewissen Geringschätzung und Hochmütigkeit herabgeblickt wird, eine ganz ausgezeichnete politische Vertretung, insbesondere im Parlament, haben.
Ähnlich angetan war ich von einem Gespräch mit der Direktorin für EU-Angelegenheiten in bulgarischen Aussenministerium. Die politischen und wirtschaftlichen ExpertInnen wissen sehr viel, tragen es mit einer klaren Überzeugung vor – noch dazu in Bulgarien vielleicht mit mehr Realitätssinn als andernorts. Die Frage des Beitrittsdatums hat hier eine geringere Bedeutung gespielt als in vielen anderen Ländern. Und das ergibt sich nicht nur aus der Situation heraus, dass Bulgarien selbstverständlich noch nicht so weit in den Gesprächen, Verhandlungen und Reformprozessen fortgeschritten ist wie etwa Polen oder Slowenien. Auch im Vergleich zu Rumänien schien mir eine etwas realistischere Haltung vorzuherrschen.

Reiche historische Wurzeln

Knapp vor meinem Rückflug nach dem Gespräch im Aussenministerium besuchte ich noch das so genannte Nationalmuseum, das in einer früheren Villa des ehemaligen Parteichefs Schivkov untergebracht ist. Vor allem eine Ausstellung über die Thraker hat mich fasziniert. Sie war hervorragend und sehr informativ gestaltet und in Bulgarisch und Englisch beschrieben. Begleitet von einem sehr versierten Führer sahen wir die Schätze, die alle aus bulgarischen archäologischen Ausgrabungen stammten. Sie haben eine ungemeine Qualität und sogar „Modernität“. Die geschichtlichen Wurzeln dieses Landes wurden mir in dieser Ausstellung ebenso deutlich vor Augen geführt wie der Reichtum, den jedenfalls die herrschende Schicht vor über 2000 Jahren schon gehabt hatte.

Der Besuch dieses Museums sollte der letzte Punkt meines Programms sein. Aber als der Vorsitzende einer kleinen sozialdemokratischen Partei von meinem Aufenthalt in Sofia gehört hatte, liess er es sich nicht nehmen, mich noch am Flughafen zu treffen. Er kam in Begleitung einer Mitarbeiterin, die ich vor kurzem erst in Sarajevo getroffen habe. Für ihn war klar, dass seine sozialdemokratische Partei, die vor über 100 Jahren gegründet wurde, nur dann Chancen hat, die politische Landschaft in Bulgarien mitzugestalten, wenn der bevorstehende Wahlkampf gemeinsam mit der grundlegend geänderten Sozialistischen Partei geführt wird. Noch aber sind die Würfel innerhalb der Partei nicht gefallen.

Moderne Wirstchaftspolitik mit sozialer Absicherung

Als Sozialdemokrat habe ich natürlich das Interesse, dass eine möglichst breite gemeinsame Sozialdemokratie antritt. Wir werden als europäische Sozialdemokraten auch versuchen, diesen Prozess entsprechend zu beeinflussen. Aber selbst wenn es nicht zum Machtwechsel in Bulgarien kommen sollte: Wichtig ist, dass auf linker Seite eine klare sozialdemokratische Bewegung entsteht, die sich zu einer modernen Wirtschaftspolitik bekennt, die allerdings mit sozialem Gewissen und sozialer Absicherung betrieben und bei der eine klare Integration in das gemeinsame Europa angestrebt wird.
Das Gespräch mit dem Wirtschaftsexperten der sozialistischen Partei im bulgarischen Parlament hat das klar zum Ausdruck gebracht: Eine Anhebung der Pensionen in ausserordentichem Ausmass ist ökonomisch nicht möglich. Manchmal scheint mir sogar die wirtschafts- und sozialpolitische Orientierung bei den Reformvorstellungen in einigen dieser Ländern für eine linke Partei zu weit zu gehen. Aber wichtig ist, dass diese Ideen mit stärkerer Überzeugung und weniger Kompromisshaftigkeit, Nepotimus und Klientelismus umgesetzt werden. Und das ist für mich das Entscheidende und macht auch den Unterschied gegenüber rechten Ansätzen in Zusammenhang mit Privateigentum und Privatisierung aus. So war es in Kroatien und einigen anderen mitteleuropäischen Ländern, und so scheint es auch in Bulgarien der Fall zu sein. Die Rechte verknüpft ihr Bekenntnis zur Marktwirtschaft allzu oft mit Freunderlwirtschaft und Korruption. Die Linke sollte sich davon ganz klar abgrenzen. 
Sofia, 3.11.2000