Ein Land im Wandel

Die Türkei ist heute zweifellos in vielen Fällen eine andere als noch vor zehn Jahren. Und die Türkei in zehn oder 15 Jahren wird eine andere sein.
Samstagnachmittag sind wir von Moskau aus nach Istanbul geflogen.

Europäisch-türkisches Hochzeitsfest

Ein Kollege der Grünen im Europäischen Parlament hatte uns zu seiner Hochzeit mit einer türkischen Journalistin in Istanbul eingeladen. Mehrere KollegInnen der grünen Fraktion, der Liberalen, der EVP-Fraktion und auch Jan Marinus Wiersma und ich von sozialdemokratischer Seite haben daran teilgenommen. Und so geriet dieses Hochzeitsfest auch ein bisschen zu einer Demonstration europäisch-türkischer Integration.
Wir hatten ohnedies vorgehabt, in diesem Herbst in die Türkei zu reisen, um uns über den aktuellen Stand der Entwicklungen zu informieren. Die Gelegenheit, unseren geplanten Besuch zu diesem Zeitpunkt durchzuführen, war also perfekt. Der Zeitpunkt war aber auch deshalb gut gewählt, weil sie nach der Beschlussfassung des Berichtes zur Türkei im Europäischen Parlament, aber vor der Präsentation des Kommissionsberichtes, die am 8. November stattfinden soll, angesetzt war.

Vertreter der Zivilgesellschaft

Sonntagabend haben wir Gespräche mit VertreterInnen mehrerer NGOs und mit Personen, die versuchen, gemeinsam mit den Gewerkschaften ein neues sozialdemokratisches Netzwerk aufzubauen, geführt. Und heute Morgen trafen wir den Präsidenten des türkischen Gewerkschaftsbundes sowie Vertreter des Unternehmerverbandes. Dieser spricht sich schon seit sehr langer Zeit für eine europäische Integration aus.
Das ist eigentlich auch der gemeinsame Nenner all jener Personen, die sich mit der Türkei weniger im parteipolitischen Sinn, sondern mehr im Sinn der zivilen Gesellschaft – von Unternehmer- oder Gewerkschaftsseite – beschäftigen. Sie betrachten die Situation der Türkei nicht nur aus einer kurzfristigen politischen Perspektive heraus, sondern in einer langfristigen Entwicklung und sprechen sich eindeutig für die europäische Integration aus.

Dynamische Entwicklung

Wenn man die Türkei wirtschaftlich betrachtet, dann hat sich gerade in den vergangenen Jahren eine sehr starke wirtschaftliche Verflechtung mit Europa gegeben. Und es gab ganz generell große Erfolge in der wirtschaftlichen Entwicklung. Die Türkei ist heute zweifellos in vielen Fällen eine andere als noch vor zehn Jahren. Und die Türkei in zehn oder 15 Jahren wird eine andere sein.
Genau aus diesem Grund muss auch immer wieder auf die dynamische Entwicklung des Integrationsprozesses hingewiesen werden. Wir waren sehr froh, dass das auch im nachfolgenden Gespräch mit dem Wirtschaftsminister und Hauptverhandler der EU, Babacan, der Fall gewesen ist. Wenn man rückblickend betrachtet, wie die Türkei vor zehn oder 15 Jahren wirtschaftlich, aber auch politisch positioniert gewesen ist, wie ihre bisherige Entwicklung verlaufen ist und wie die Entwicklung – unter einigermaßen realistischen Annahmen – in den kommenden zehn bis 15 Jahren erfolgen wird, dann wird klar, dass man nicht davon ausgehen kann, dass eine Stagnation eintritt. Im Gegenteil: Die Dynamik der wirtschaftlichen Entwicklung, die Exporterfolge, die großen Investitionen, die in diesem Land vor allem auch von ausländischen Investoren getätigt werden und nicht zuletzt die, wenn auch zugegebenermaßen langsame, politische Entwicklung in der Türkei gehen eindeutig in eine positive Richtung.

Zeitraum von zehn bis 15 Jahren

Man darf also nicht darüber diskutieren, ob die Türkei in zwei oder drei Jahren in die Europäische Union aufgenommen werden soll. Man muss vielmehr darüber nachdenken, ob sie sich und ob auch wir selbst uns in zehn oder 15 Jahren so weit entwickelt haben, dass eine Integration in die Europäische Union möglich ist. Alle anderen Überlegungen sind hinfällig.
Ich persönlich gehe davon aus, dass dieses Szenario möglich ist. Ob es tatsächlich dazu kommen wird, ist eine andere Frage, die zum gegebenen Zeitpunkt entschieden werden muss. Für mich stehen dabei jedenfalls vor allem zwei Aspekte im Vordergrund. Die Türkei hat sich einerseits in der politischen Struktur so gewandelt, dass sie das Nachhinken gegenüber der wirtschaftlichen Entwicklung aufgegeben hat. Es ist eine moderne Parteienstruktur entstanden, die nicht mehr ausschließlich nationalistisch zugespitzt ist. Wobei ich zugeben muss, dass zurzeit gerade auch in Europa ein gewisses nationalistisches Revival stattfindet.

Die Voraussetzungen sind entscheidend

Andererseits ist die Frage zu beantworten, auf welche Weise man ein derart großes Land wie die Türkei integrieren kann. Werden wir selbst bereits so starke Gemeinschaftsinstitutionen und einen so starken Konsens in Europa hergestellt haben, dass auch eine Türkei, die in Zukunft vielleicht 20% der europäischen Bevölkerung darstellt, auch tatsächlich in dieses Europa integrierbar ist?
Diese beiden Fragen spielen eine entscheidende Rolle. Alle anderen Punkte, über die heute immer wieder diskutiert wird – etwa die Anerkennung des Genozides an den Armeniern oder die Lösung der Kurdenfrage – sind aus meiner Sicht lösbar und stellen keine Grundsatzfragen an sich dar, so wichtig deren Stellenwert aus der einzelnen Perspektive heraus auch ist. Allerdings: Ein Zerfall des Iraks, unter anderem in einen kurdischen Staat, könnte die Kurdenfrage in der Türkei wieder zu einem sehr heißen Thema machen!

Istanbul, 30.10.2006